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2. Die Bevölkerung Frankreichs im 17. Jahrhundert

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Fast alle Autoren des 17. Jahrhunderts, die sich zu den Grundlagen der Macht eines Gemeinwesens äußerten, erachteten eine zahlreiche Bevölkerung als Voraussetzung wirtschaftlicher Prosperität; ihre Vergrößerung galt als wichtiges Ziel der Politik. Den Hintergrund dieser Bestrebungen bildete die Tatsache, dass angesichts einer vorwiegend agrarischen Wirtschaftsstruktur und einer geringen Mechanisierung bzw. Technisierung der Arbeit die wirtschaftliche Leistungskraft in hohem Maße mit der Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte korrelierte. Andererseits waren immer wieder erhebliche Teile der Bevölkerung durch Hunger, Krieg und Seuchen bedroht; die Möglichkeiten der Politik, ein langfristiges Wachstum der Bevölkerung zu erreichen, waren hier begrenzt. Gleichwohl ist zu beobachten, dass das Bewusstsein für die Bedeutung der Bevölkerung und die Bestrebungen, sie zu mehren, im politischen Kalkül der Zeit immer wieder in den Hintergrund traten – zumal dann, wenn über Kriegführung entschieden wurde. Bei diesen Entscheidungen spielte in der Regel die Frage nach den Konsequenzen für die Bevölkerung nur eine nachgeordnete Rolle.

Demographisches Wissen der Zeitgenossen

Was wussten die Zeitgenossen über die Bevölkerung des Königreichs Frankreich? Diese Frage mag überraschen, waren doch in den frühen Hochkulturen und in der griechisch-römischen Antike Volkszählungen durchaus üblich. Im Mittelalter beobachtet man indes neben praktischen Problemen eine eigentümliche Scheu vor Volkszählungen. Sie lässt sich erklären durch die lange Zeit vorherrschende Lesart einer Passage des Alten Testaments (2. Samuel, 24, 1 – 15), in der berichtet wird, König David habe mit einer Zählung der wehrfähigen Männer Israels den Zorn Gottes erregt, der Israel daraufhin eine schwere Plage auferlegt habe.

In Frankreich verblasste dieses Tabu freilich seit dem Spätmittelalter; bereits 1328 wurde ein erster „Zustandsbericht über die Pfarreien und Herdfeuerstellen“ (état des paroisses et des feux) erstellt. Im 17. Jahrhundert unternahm die Krone aus fiskalpolitischen Gründen große Anstrengungen, sich ein Bild von der eigenen Bevölkerung zu verschaffen. 1630 etwa ließ der Leiter der königlichen Finanzverwaltung, Marquis d’Effiat, eine umfassende Erhebung durchführen, die alle Pfarreien und deren Bewohner sowie weitere wirtschaftliche und finanzpolitische Daten erfasste. Unter Ludwig XIV., der die Ressourcen Frankreichs in einem bis dahin nicht gekannten Maße in den Dienst seiner expansiven Außenpolitik stellte, wuchs das Interesse an demographischen Daten weiter. 1664 ließ ein Nachfolger d’Effiats, Jean-Baptiste Colbert, einen Atlas über die Salzsteuer (atlas des gabelles) anfertigen, in dem auch umfassende Daten über die Bevölkerung zusammengetragen waren. 1693 veranlasste dessen Nachfolger, Louis Phélypeaux de Pontchartrain, in einigen Regionen erneut eine Volkszählung. Diese und einige weitere Erhebungen lieferten jedoch in der Regel nur ungenaue Zahlen, denn es wurden Haushalte, also Herdfeuerstellen (feux), nicht aber die Anzahl der in einem Haushalt lebenden Personen erfasst, oder es dienten Steuerlisten als Grundlage, in denen Mittellose nicht auftauchten. Verlässliche Volkszählungen, die alle Einwohner zu einem gegebenen Zeitpunkt erfassten, hat es dann tatsächlich erst im revolutionären Frankreich gegeben.

Angesichts der Schwierigkeiten, sich ein Bild von der Bevölkerung zu machen, hatte die Krone bereits 1539 in der ordonnance de Villers-Cotterêts den Pfarrern der Kirchengemeinden die jährliche Ablieferung von Zivilstandsregistern auferlegt. Dies lag insofern nahe, als die Kirche bereits im Spätmittelalter begonnen hatte, Taufregister zu erstellen, die seit dem Beginn der Neuzeit um Heirats- und Sterberegister ergänzt wurden – auf dem Konzil von Trient (I.5.a) wurden 1563 schließlich genaue Vorschriften für die Führung dieser Register erlassen, um eine exakte Erfassung und Kontrolle der Gläubigen zu ermöglichen. Es dauerte, bis diese Regelungen übernommen wurden und die Führung der Register einigermaßen funktionierte. Auch verzeichneten diese Register lediglich Taufen, Heiraten und Sterbefälle und nicht etwa die Anzahl und Zusammensetzung der Bevölkerung. Gleichwohl ist mit Blick auf die Erfahrungswelt der Menschen interessant, dass existentielle Wendepunkte des Lebens zuerst im Rahmen der Kirche vollzogen, erfasst und registriert wurden. Ganz buchstäblich gehörten die Menschen zuerst einer Kirchengemeinde an, ehe sie als Untertanen des französischen Königs fassbar wurden. Andererseits ist bemerkenswert, dass der sich herausbildende französische Staat kirchliche Strukturen nutzte, um Informationen über die Bevölkerung zu gewinnen. Die enge Verbindung zwischen Staat und Kirche im Frankreich des Ancien Régime hat dies erheblich erleichtert.

Nur wenige hohe Angehörige der staatlichen Verwaltung hatten Zugang zu den als Geheimwissen eingestuften bevölkerungsstatistischen Daten. Immer ging es bei diesen Erhebungen vorrangig um fiskalische Fragen – um den wachsenden Geldbedarf des im Ausbau befindlichen Staates und um die Frage, wie diese Last am besten zu verteilen war. Die Bevölkerung geriet also v. a. als Abschöpfungsobjekt in den Blick.

Ergebnisse der demographischen Forschung

Die demographische Forschung geht für den Beginn des 17. Jahrhunderts (bezogen auf das französische Territorium des Jahres 1700) von einer Gesamtbevölkerung von 18 bis 21 Mio. Personen aus. Die Zahlen der Historiker differieren, was angesichts der Ungenauigkeit der Quellen nicht überrascht; in jüngerer Zeit sind sie eher nach oben korrigiert worden. Bis etwa 1640 dürfte die Bevölkerung noch etwas gewachsen sein, auf ca. 19 bis 22 Mio. In den folgenden Jahrzehnten bis 1715 sind starke Schwankungen festzustellen, wobei eine Obergrenze, die bei 20 bis 24 Mio. liegt, nicht überschritten, wohl aber kurzfristig deutlich unterschritten wurde. Erst nach dem Tod Ludwigs XIV. setzte dann ein relativ kontinuierlicher Bevölkerungsanstieg ein, im Rahmen dessen die bis dahin nie überschrittene Grenze der 20 bis maximal 24 Mio. deutlich überschritten wurde.

Mit seiner Bevölkerung übertraf Frankreich die meisten anderen zeitgenössischen Gemeinwesen. Einzig das Heilige Römische Reich hatte um 1700 mit 19 bis 22 Mio. eine vergleichbare Bevölkerung; ganz Europa zählte ca. 120 Mio., Spanien etwa 7,5 Mio., England mit Schottland und Irland ca. 9,5 Mio. Die 18 bis 24 Mio. Einwohner Frankreichs entsprachen bei einem Territorium von 500.000 km2 einer Bevölkerungsdichte von etwa 40 Einwohnern/km2. Dies war unter den ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen der Frühneuzeit ein sehr hoher Wert. Die Bevölkerung war freilich unterschiedlich verteilt. Während die Bevölkerungsdichte in stärker urbanisierten Regionen wie der Ile de France, der Normandie und im Norden 50 Einwohner/km2 z. T. deutlich überstieg, waren die Champagne, das Zentrum und die südlich an die Loire angrenzenden Gebiete relativ dünn besiedelt.

Der Großteil der französischen Bevölkerung, etwa 85%, lebte im 17. Jahrhundert auf dem Lande, nur knapp 15% in Städten, mit im Laufe des Jahrhunderts leicht steigender Tendenz. Damit war Frankreich im Vergleich zu den Niederlanden und England ein relativ wenig urbanisiertes Land. Allerdings sind solche Zahlen nicht unproblematisch, da das Stadtrecht nichts über die Anzahl der Bewohner und die Art ihres Zusammenlebens aussagt. Unter den Städten des Königreichs kam Paris eine Ausnahmestellung zu. Um 1700 zählte es bereits ca. 530.000 Einwohner, gefolgt von Lyon mit 97.000, Marseille mit 75.000, Rouen mit 60.000 und Lille mit 55.000 Einwohnern (zum Vergleich: Wien hatte damals etwa 115.000 Einwohner, Hamburg 70.000, Köln kaum 40.000). Es folgten mit über 40.000 Einwohnern Bordeaux, Nantes, Orléans und Toulouse sowie mit über 30.000 Einwohnern Caen, Amiens, Angers, Dijon, Tours und Metz. Bemerkenswert ist dabei die Kontinuität zum heutigen Frankreich. Alle genannten Städte gehören heute zu den französischen Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern – und es sind kaum neue Städte hinzugekommen.

Determinanten der demographischen Entwicklung

Betrachtet man einige Determinanten der demographischen Entwicklung, frappiert zunächst die hohe Sterblichkeit, insbesondere unter Kindern und jungen Menschen. Von 1.000 Neugeborenen erlebten zwischen 250 und 300 nicht ihren ersten Geburtstag, weitere 180 starben vor dem fünften Geburtstag und weniger als die Hälfte erreichte das übliche Heiratsalter (ca. 25 Jahre). Angesichts dieser Zahlen überrascht nicht, dass die durchschnittliche Lebenserwartung auch gegen Ende des Jahrhunderts noch unter 30 Jahren lag. Wer die Kindheit überlebte, hatte allerdings insbesondere im privilegierten sozialen Umfeld vergleichsweise große Chancen, relativ alt zu werden.

Der hohen Sterblichkeit stand eine hohe Geburtenrate gegenüber, die in der Regel die Sterberate deutlich übertraf und zwischen 30 und 40 Geburten jährlich pro 1.000 Einwohnern lag – im heutigen Frankreich (2006) liegt der Wert bei 12,7, in Deutschland bei 8,5. Dieser hohe Wert war durch die begrenzten Möglichkeiten der Empfängnisverhütung bedingt. Dass die Geburtenrate nicht noch höher lag, hat mit dem vergleichsweise hohen Heiratsalter zu tun; es betrug ca. 25 Jahre bei Frauen und ca. 29 Jahre bei Männern (gegenüber 22 bzw. 25 Jahren ein Jahrhundert zuvor). Meist sorgte das soziale Umfeld dafür, dass nur heiraten konnte, wer in der Lage war, einen Hausstand einzurichten und eine Familie zu ernähren. Dies war eine Form der Geburtenkontrolle, die man im 17. Jahrhundert vielerorts beobachten kann. Im Nordwesten Frankreichs und im städtischen Bürgertum scheinen einzelne Paare aber auch andere Formen der Familienplanung versucht zu haben – darauf weist jedenfalls hin, dass die Kirche hier die „unheilvollen Geheimnisse“ (funestes secrets) einzelner Ehepaare anprangerte. Andererseits legt die geringe Zahl der unehelichen Geburten (ca. 1%) die Vermutung nahe, dass die Institution der Ehe in einem Maße respektiert wurde wie nie zuvor und nie danach in der französischen Geschichte – ein Indikator für die Erfolge der katholischen Reform (I.5.a).

Demographische Krisen

Die genannten Faktoren vermögen freilich allein nicht zu erklären, weshalb die französische Bevölkerung während des 17. Jahrhunderts nicht stärker wuchs. Charakteristisch für die Epoche ist in den meisten Jahren ein erhebliches Wachstum der Bevölkerungszahlen, dem während begrenzter Zeiträume massive Bevölkerungsverluste gegenüberstehen. Diese mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehrenden demographischen Krisen haben die Forschung eingehend beschäftigt. Zunächst spielten Subsistenzkrisen in Folge schlechter Ernten eine erhebliche Rolle; gravierend waren zumal Ernteausfälle beim Getreide, das häufig die Hauptnahrungsgrundlage darstellte. Da Nahrungsmittel auf lokalen Märkten gehandelt wurden und Lieferungen über große Distanzen wegen der schlechten Verkehrswege kaum möglich waren, führten bereits relativ geringe Ausfälle zu massiven Preissteigerungen. Nicht zufällig waren wenig erschlossene Regionen weit öfter von Hungerkrisen betroffen. Diese trafen zumal die arme Bevölkerung auf dem Land und in den Städten.

Bei Preissteigerungen waren v. a. Arme nicht in der Lage, mehr Geld für Brot auszugeben; andere, auch nur annähernd gleichwertige Nahrungsmittel standen oft nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Fleisch wurde von den armen Bevölkerungsschichten nur in geringem Maße konsumiert, was u. a. daran lag, dass der Viehzucht im Frankreich des 17. Jahrhunderts gegenüber dem Ackerbau nur geringes Gewicht zukam. Hinzu kam in vielen Regionen der verkehrsbedingte Mangel an Salz zur Konservierung von Fleisch. Auch Obst war eher auf dem Speiseplan wohlhabender Stadtbürger zu finden. Die Einseitigkeit der Ernährung bildete neben der Unterernährung eine der Ursachen für die Anfälligkeit der armen Bevölkerung für Epidemien. Und andererseits machte die Konzentration der Landwirtschaft auf wenige Produkte für Fehlernten anfällig. Die königliche Verwaltung versuchte zwar bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die Versorgung mit Getreide zu verbessern, doch beschränkte sie sich im Wesentlichen auf restriktive Maßnahmen in Krisensituationen.

Ernteausfälle häuften sich im 17. Jahrhundert auch deshalb, weil das Klima von den Auswirkungen der (bis heute letzten) kleinen Eiszeit geprägt war, was u. a. zur Folge hatte, dass in Südfrankreich jahrhundertealte Olivenbaumhaine erfroren und in Höhenlagen ganze Dörfer aufgegeben wurden. Hinzu kamen um 1700 mehrfach extrem kalte und lange Winter, die das im Herbst ausgesäte Getreide zerstörten. Die durch Unterversorgung geschwächten Menschen waren häufig Opfer von Krankheiten und Seuchen. Zwischen 1600 und 1670 gab es in Frankreich mindestens vier große Pestwellen, ehe die Seuche für 50 Jahre verschwand – wohl wegen des kalten Wetters, das die Ausbreitung der die Krankheit übertragenden Flöhe behinderte.

Eine weitere Ursache demographischer Krisen bildeten die zahlreichen Kriege der Zeit – nicht nur wegen der unmittelbar durch Kriegshandlungen getöteten Personen, sondern mehr noch durch Plünderungen, Zerstörungen, Krankheiten und Seuchen, die durchweg mit Kriegen einhergingen. Meist waren die Ursachen einer demographischen Krise vielfältig: Die mittelbaren Bevölkerungsverluste durch Seuchen und Kriegseinwirkungen bedingten einen kurzfristigen Rückgang der agrarischen Produktion, der wiederum Hungerkrisen nach sich ziehen konnte. Oft begannen unterversorgte Bevölkerungsgruppen zu wandern und trugen so zur Ausbreitung von Epidemien bei. Nur selten war der Hunger allein für massive Sterblichkeit verantwortlich.

Hohe Sterblichkeit ging stets auch mit einem überproportionalen Rückgang der Eheschließungen, Geburten und Taufen einher. Gewiss lässt sich Letzteres z. T. durch unmittelbare Verluste wie den Tod eines Ehepartners, Fehlgeburten oder Ähnliches erklären. Hinzu kommt, dass Unterversorgung oft zu vorübergehender Sterilität führen kann. Doch zeigt der Rückgang der Heiraten, dass es offensichtlich auch bewusste soziale Reaktionen angesichts einer unsicheren Zukunft gab. Nach dem Ende solcher Krisen stieg die Zahl der Heiraten meist sprunghaft an, in der Folge auch die Zahl der Geburten.

Das Zusammentreffen mehrerer Krisenfaktoren lässt sich an den gravierendsten demographischen Krisen des 17. Jahrhunderts studieren: so in den 1630er Jahren im Osten des Landes an den Auswirkungen einer Pestepidemie und den Folgen des Dreißigjährigen Kriegs, um 1650 an den Konsequenzen der Fronde (III.2.b) oder an der crise de l’avènement zur Zeit des Regierungsantritts Ludwigs XIV. (1661). Die größte Krise des „langen“ 17. Jahrhunderts kostete 1693 / 94 etwa 2 bis 2,5 Mio. Menschen, ca. 10% der Bevölkerung, das Leben. Kaum weniger gravierend war der „große Winter“ (grand hiver) von 1709 / 10, der zum Tod von ca. 1,5 Mio. Menschen führte. Durch die Kälte wurde das Wintergetreide zerstört; getroffen wurde eine Bevölkerung, die durch die Auswirkungen des Spanischen Erbfolgekriegs (II.3.d) und die extreme Steuerlast zu dessen Finanzierung geschwächt war.

Der grand hiver war freilich die letzte große Hungerkrise des Ancien Régime. Derart gravierende Verluste sind danach nicht mehr zu beobachten. Die großen demographischen Krisen sind also eine spezifische Signatur der Epoche, die zum absoluten Herrschaftsanspruch des Monarchen und zum Glanz des Zeitalters in einem eigentümlichen Kontrast steht.

Das Jahrhundert Ludwigs XIV.

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