Читать книгу Das Jahrhundert Ludwigs XIV. - Lothar Schilling - Страница 15

c) Der Dritte Stand

Оглавление

So komplex die sozialen Verhältnisse in den ersten beiden Ständen gewesen sein mögen, im Vergleich zum Dritten Stand waren sie einfach. Denn die Zugehörigkeit zu diesem Stand war nach der traditionellen Dreiständelehre lediglich negativ definiert; ihm gehörten all jene an, die keinem der beiden anderen Stände zuzurechnen waren und damit auch keine Standesprivilegien genossen. Er war, wie es der französische Historiker Pierre Goubert formuliert, „eine Art Mülleimer“. Im Folgenden können lediglich wichtige Grenzlinien im Innern dieses Standes nachgezeichnet und die Grenzen des Dreiständemodells, die beim Dritten Stand besonders deutlich zutage treten, verdeutlicht werden.

Stadt und Land

Die wichtigste Grenzlinie innerhalb dessen, was die Zeitgenossen als Dritten Stand bezeichneten, verlief zwischen Städtern und Landbewohnern, war doch der Rechtsstatus einer Gemeinde von großer Bedeutung für den Ort ihrer Bewohner in der französischen Gesellschaft. Denn aus dem Stadtrecht ergab sich für die Bewohner der Städte und zumal für jene, die über Bürgerrecht verfügten, ein spezifischer Rechtsstatus – und dies war in einer Gesellschaft, deren innere Ordnung auf rechtlicher Ungleichheit beruhte, von entscheidender Bedeutung. Ein weiterer Unterschied zwischen Stadt- und Landbevölkerung lag darin, dass Erstere meist um ein Vielfaches komplexer war als Letztere, dass sie soziale Gruppen einschloss, die ihrerseits als Korporationen rechtlich verfasst waren (Gilden, Bruderschaften, Universitäten usw.), so dass die soziale Ordnung hier sehr vielgestaltig war. Deshalb ist stärker auf den städtischen als auf den ländlichen Dritten Stand einzugehen, obwohl über 80% der französischen Bevölkerung des 17. Jahrhunderts der letzteren Kategorie zuzurechnen sind.

E

Als Korporation bezeichnet man eine Personengesamtheit (etwa eine Stadtgemeinde, ein Kloster o. Ä.), die zu einer handlungsfähigen Einheit zusammengeschlossen ist, meist um gemeinsame Rechte und Privilegien auszuüben. Sie besteht über das Leben ihrer Mitglieder hinaus fort. Juristisch gilt eine Korporation als künstlicher Körper (corpus) oder als fiktive Person (persona ficta), die einen einheitlichen Willen hat und handlungsfähig ist wie eine natürliche Person, aber im Gegensatz zu dieser niemals stirbt. Zur Herstellung des einheitlichen Willens bedarf es förmlicher Verfahren, die dafür sorgen, dass das Handeln Einzelner der ganzen Korporation zugerechnet werden kann.

Vorrechte der Städte

Städte waren Gemeinden, die über Vorrechte verfügten. Dazu gehörte meist die Befreiung der Einwohner von Einquartierungen, ferner das Recht, eine Stadtmauer sowie eine eigene Miliz zu unterhalten und sich in bestimmten Grenzen selbst zu verwalten. Der Grad der städtischen Autonomie war von Fall zu Fall unterschiedlich, insgesamt aber geringer als etwa bei den Reichsstädten des Heiligen Römischen Reiches oder den italienischen Städten, die sich zu eigenständigen Republiken entwickelten. In Frankreich erfolgte die Stadtentwicklung seit dem Mittelalter in enger Anbindung an das Königtum; die Mehrzahl der größeren Städte verstand sich als bonnes villes, als gute Städte des Königs. Im 17. Jahrhundert wurden die Freiheiten der Städte durch die Krone weiter eingeschränkt. Symbolträchtig war ein Edikt Ludwigs XIV. von 1692, das in fast allen Städten die Ämter der bis dahin meist vom Rat gewählten Bürgermeister zu Kaufämtern erklärte und weitere städtische Verwaltungsämter schuf, die ebenfalls verkauft werden sollten. Dennoch blieben auch den Städten des 17. Jahrhunderts noch Freiräume bei der Selbstverwaltung.

Die steuerlichen Vorrechte der Städte waren auch noch im 17. Jahrhundert von Gewicht. So wurde hier nur sehr selten die taille erhoben, womit die bis 1695 einzige und auf jeden Fall wichtigste direkte Steuer entfiel. In der Praxis zahlten Städte stattdessen regelmäßig oder zu bestimmten Anlässen pauschale Abgaben, deren Höhe pro Einwohner im Vergleich zur direkten Steuerbelastung der Landbevölkerung gering war. Generell war die steuerliche Belastung der Stadtbewohner bescheiden, während die Landbevölkerung seit den 1630er Jahren immer massiver abgeschöpft wurde.

Bürgerrecht

Die Städte waren rechtlich und sozial alles andere als homogen. Die wichtigste Grenzlinie verlief zwischen jenen, die über das Bürgerrecht verfügten, und jenen, die lediglich in der Stadt lebten. Viele Rechte und Vorteile galten im Prinzip nur für die Bürger, die zudem (zumindest theoretisch) das Recht hatten, am politischen Leben der Städte teilzuhaben. Das Bürgerrecht bildete ferner fast überall die Voraussetzung für die Mitgliedschaft in einer Zunft oder Gilde und damit für die Ausübung eines Handwerks. Die übrigen Bewohner profitierten zwar von einzelnen Privilegien der Städte (wie der Befreiung von der taille), konnten aber ausgewiesen werden, waren von vornherein von jeglicher politischen Partizipation ausgeschlossen und konnten kein Handwerk ausüben. Um das Bürgerrecht zu erlangen, musste man eine Zeit lang (ein bis fünf Jahre) in der betreffenden Stadt wohnen und über Grundeigentum verfügen; gelegentlich wurde auch ein bestimmtes Vermögen oder ein ausreichendes Einkommen gefordert. Witwen konnten zwar manchmal in Rechte ihrer verstorbenen Ehemänner eintreten; ansonsten waren Frauen aber vom Bürgerrecht ausgeschlossen. Im Laufe der Frühneuzeit kam es vielerorts zu einer Abschließung der Bürgerschaft. Die Bedingungen für den Erwerb des Bürgerrechts wurden erschwert – auch, um in den Zünften die Zahl der Konkurrenten zu begrenzen.

Ein Blick auf die gesellschaftliche Pyramide in den Städten zeigt allerdings, dass nicht allein das Bürgerrecht maßgeblich war für wirtschaftlichen Erfolg, Ansehen und Einfluss. Tatsächlich wohnte in den meisten Städten eine beträchliche Anzahl wohlhabender Personen, die z. T. über erheblichen Einfluss verfügten, ohne Bürger zu sein. Zu nennen sind hier adlige seigneurs, die oft während vieler Monate in Städten residierten, ferner ausländische Kaufleute und Studenten, aber auch Angehörige des Klerus. Gerade der höhere Klerus in Bischofsstädten verfügte über bedeutende Einnahmen und übte großen informellen Einfluss aus, auch wenn die rechtliche Stellung von Klerikern in den Städten umstritten und das Verhältnis zu den Stadtobrigkeiten oft von Konflikten belastet war.

Amtsträger (officiers)

Nicht durchweg Bürger waren auch die Angehörigen einer weiteren Gruppe, die zumal in den größeren Städten und den Hauptorten der Provinzen über das höchste Ansehen und den größten Einfluss verfügten: die höheren Amtsträger (officiers). Dieser Gruppe gehörten Angehörige königlicher Gerichte, der königlichen Steuer- und Finanzverwaltung und der provinzständischen Verwaltung an, aber auch Militärbefehlshaber und – selbstverständlich – Bürgermeister oder andere Inhaber kommunaler Ämter. Sie verfügten oft nicht nur in der Stadt, sondern auch im Umland über Liegenschaften, aus denen sie beträchtliche Renteneinkommen erzielten. Dies ermöglichte ihnen jene Abkömmlichkeit, die in der Regel die Voraussetzung für die Ausübung hoher öffentlicher Ämter bildete. Was ihre Standeszugehörigkeit angeht, entstammten zwar viele Amtsträger Familien, die früher dem Dritten Stand angehört hatten, doch waren sie kraft ihrer Ämter in die noblesse de robe oder in die noblesse de cloche, den mit kommunalen Ämtern verbundenen Amtsadel, aufgestiegen. Hier zeigt sich einmal mehr, wie wenig das Dreiständemodell der sozialen Komplexität insbesondere des städtischen Lebens gerecht zu werden vermochte.

Den Amts- und Funktionsträgern stand in vielen Städten eine zweite einflussreiche Gruppe gegenüber, die sich aus reichen Kaufleuten, Verlegern, Bankiers, zunehmend auch Inhabern von Manufakturbetrieben etc. zusammensetzte. Ihr Einkommen übertraf nicht selten jenes der höheren Amtsträger, doch blieb ihr sozialer Rang oft geringer. Die Mehrheit der Bürger indes waren in Zünften und Gilden organisierte Handwerker, kleinere Kaufleute und Ladenbesitzer. Ungeachtet ihres Bürgerrechts verfügten sie meist über keine direkte politische Mitsprache, sondern konnten bestenfalls versuchen, über ihre Zünfte und Gilden Einfluss auf das politische Geschehen der Stadt zu nehmen.

Die größte Bevölkerungsgruppe stellten in den meisten Städten jene Personen, die mangels Vermögen und Grundeigentum keinen Zugang zum Bürgerrecht hatten, aber immerhin über ein regelmäßiges Einkommen verfügten: Gesellen und Lehrlinge, Manufaktur- und Heimgewerbearbeiter, das Gesinde, das oft mehr als 10% der Stadtbevölkerung ausmachte, aber auch kleine Funktionsträger in der städtischen, provinzialständischen, königlichen und kirchlichen Verwaltung.

Am untersten Ende der sozialen Skala schließlich rangierten Arme, Bettler und Vaganten. Sofern sie überhaupt eine feste Bleibe hatten, wohnten sie zur Miete in ärmlichen Behausungen; sie lebten oft von Gelegenheitsarbeiten, und bei Wirtschaftskrisen waren sie auf Almosen und Diebstahl angewiesen. In den Krisenjahren gehörten sie häufig zu den ersten Opfern, die an Unterernährung oder Seuchen starben. Zwar gab es in den Städten Einrichtungen der Armenfürsorge, doch diese waren überfordert, da auch über regelmäßiges Arbeitseinkommen verfügende Familien der Unterstützung bedurften. Immer öfter ging soziale Unterstützung mit Zwangsmaßnahmen einher. Seit dem 16. Jahrhundert schuf man in vielen Städten bureaux des pauvres, die nicht nur Almosen ausgaben, sondern gegen „unwürdige“ Arme mit Zwangsmaßnahmen vorgingen, etwa durch Errichtung von Arbeitshäusern.

Doch auch für die übrigen kleinen Leute in den Städten waren die Lebensbedingungen zeitweise prekär. Bei Getreide- und Brotteuerungen kam es häufiger als auf dem Land zu sozialen Konflikten, auch Vorformen moderner Arbeitskämpfe, etwa zwischen Meistern und Gesellen, Manufakturunternehmern und ihren Arbeitern, waren nicht selten. Insgesamt verfügte die städtische in geringerem Maße als die ländliche Gesellschaft über integrierende, Zusammenhalt über soziale Grenzen hinaus sichernde Strukturen. Von einem städtischen Dritten Stand zu sprechen, erscheint vor diesem Hintergrund problematisch.

Landbevölkerung

Die Sozialstruktur der französischen Landbevölkerung, die über 80% der Gesamtbevölkerung ausmachte, war weniger komplex als jene der Stadtbevölkerung. Obwohl mehr als 95% der Landbevölkerung dem Dritten Stand zugehörten, ist die dörfliche Sozialverfassung in vielen Fällen ohne den bzw. die adligen seigneur(s) und den Pfarrer des jeweiligen Dorfes nicht zu beschreiben. In einigen Gegenden Frankreichs, zumal dort, wo die Landwirtschaft reiche Erträge abwarf, gab es auch Dorfgemeinschaften ohne adligen Grundherrn. Häufiger waren Dorfgemeinschaften, zu denen eine, seltener mehrere seigneurie(s) gehörte(n). Der seigneur bzw. sein Verwalter verfügte nicht nur innerhalb des Dorfes über Grundbesitz und eigene Gerichtsbarkeit, sondern auch über erheblichen Einfluss in der dörflichen Selbstverwaltung. Durch die auf seinem Gut tätigen und von ihm abhängigen Arbeitskräfte verfügte er zudem über informelle Einflussmöglichkeiten. Direkte Abhängigkeit, also Hörigkeit, gab es in Frankreich hingegen schon seit dem Mittelalter praktisch nicht mehr. Die besondere Stellung der Pfarrer beruhte auf ihrem Amt und ihrer Bildung; sie fungierten nicht selten als Vermittler bei Versuchen der Kirche wie der Monarchie, die Überzeugungen der Untertanen zu beeinflussen (I.5), aber auch als Vermittler zwischen seigneur und Dorfgemeinschaft.

Soziale Hierarchie im Dorf

Innerhalb des dörflichen Dritten Standes kann man vereinfachend drei Gruppen unterscheiden: Zunächst die Inhaber der Vollerwerbsbetriebe, deren gesellschaftliche Stellung (abgesehen von den Gerichtsrechten) an jene des adligen seigneur heranreichen konnte. In Dörfern, in denen seigneuriale Rechte und Besitzungen keine Rolle spielten, bildeten die Vollerwerbslandwirte mit dem Pfarrer sowie ggf. ländlichen Notaren, rentiers und Manufakturbesitzern die soziale und politische Oberschicht. Dank ihrer Betriebsgröße waren diese Bauern oft nicht darauf angewiesen, selbst den Pflug zu führen. Vertreter dieser Gruppe, die mit ihren Familien bis zu 10% der Dorfbewohner ausmachten, stellten in der Regel die meisten Gemeinderäte, übten die dörflichen Ämter aus und fungierten oftmals auch als lokale Steuereinnehmer.

Weniger wohlhabend, aber voll in die Dorfgemeinschaft integriert waren die Teilerwerbslandwirte. Sie waren meist Eigentümer ihrer Höfe, deren Ertrag jedoch zur Subsistenzsicherung nicht ausreichte, weshalb sie sich entweder als Tagelöhner auf den Gütern des seigneur bzw. der Vollerwerbslandwirte oder auch im Heimgewerbe, durch Teilzeitarbeit in Manufakturen oder ähnliche Tätigkeiten ein Zubrot verdienten. Trotz ihrer minderen ökonomischen Stellung waren die Teilerwerbslandwirte berechtigt, ihr Vieh auf die Allmende zu führen. Auch in der Dorfversammlung verfügten sie für gewöhnlich über volle Mitspracherechte. Häufig standen sie in einem Klientelverhältnis zu einem seigneur oder einem Vollerwerbslandwirt, der ihnen etwa ein Gespann lieh oder Saatgut vorschoss, um im Gegenzug von ihnen in der Dorfversammlung unterstützt zu werden.

Die dritte (fast immer zahlenmäßig dominierende) Gruppe bildete die landlose Bevölkerung, die teilweise als Gesinde in festen Arbeitsbeziehungen stand, vielfach aber von Gelegenheitsarbeit oder auch von Bettelei, der Armenhilfe der Gemeinde oder von Diebstahl lebte. Ohne Mitspracherecht in der Dorfversammlung und ohne Nutzungsrecht an der Allmende, war sie nur sehr bedingt in die Dorfgemeinschaft integriert. In Krisenzeiten zogen Angehörige dieser Gruppen auf der Suche nach Arbeit, Nahrung und Almosen oft von Ort zu Ort – nicht zuletzt auch in die Städte.

Obwohl auch auf dem Land große soziale Ungleichheit herrschte, waren gewaltsame innerdörfliche Konflikte recht selten. Gewiss gab es Streit, etwa um die Frage, wie viel Vieh der seigneur auf der Gemeindewiese weiden durfte oder um Jagd- und Fischereirechte und die Waldnutzung. Doch einerseits funktionierte offenbar die rechtliche Beilegung dieser Konflikte relativ gut, zum anderen scheinen auch die klientelären Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinschaft zur Entschärfung von Konfliktpotentialen beigetragen zu haben.

Hinter dem Etikett des Dritten Standes verbargen sich demnach vielfältige soziale Wirklichkeiten, denen die verbreitete Vorstellung eines einheitlichen Standes nicht gerecht wurde – umso bemerkenswerter, dass sie sich bis zum Ende des Ancien Régime hielt. Als dann im Januar 1789 Abbé Sieyès in seiner Schrift Qu’est-ce que le Tiers État den Dritten Stand nicht mehr ex negativo, sondern als den einzigen sozial nützlichen Stand definierte, lieferte er damit die Begründung für die Abschaffung der ständischen Gesellschaft und den Sturz des monarchischen Regimes.

Das Jahrhundert Ludwigs XIV.

Подняться наверх