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1. Frankreich 1598 – 1715: Gegenstand und Epoche
ОглавлениеWer eine Überblicksdarstellung über Frankreich im 17. Jahrhundert vorlegt, kann schwerlich Anspruch auf Originalität erheben. Publikationen, die sich mit der Geschichte einer Nation oder eines Landes befassen, sind verbreitet und gut eingeführt. Doch die Selbstverständlichkeit, mit der Historiker über die „Geschichte Frankreichs im 17. Jahrhundert“, die „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“ oder die „Britische Geschichte im 18. Jahrhundert“ sprechen, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Gegenstand der Geschichtswissenschaft nie selbstverständlich, sondern stets Ergebnis einer Konstruktion ist, die auch dann der Reflexion und Begründung bedarf, wenn sie sich allgemeiner Verbreitung erfreut.
Nationalgeschichte
Dies gilt zumal für jede Form der Nationalgeschichte. Die Entstehung dieser Gattung ist verknüpft mit der Etablierung der Geschichte als Wissenschaft im 19. Jahrhundert, einer Epoche, in der vielerorts der Nationalstaat zur politischen Leitidee erhoben wurde. Der Erfolg der Geschichtswissenschaft in dieser Zeit hing maßgeblich damit zusammen, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte als Chance begriffen wurde, nach dem durch die Französische Revolution bedingten Zerfall der überkommenen Ordnung neue Ordnungsvorstellungen herzuleiten. Unter den Ordnungsvorstellungen, die man mit Hilfe der Geschichtswissenschaft zu untermauern suchte, spielte das Konzept der durch gemeinsame Geschichte und Kultur konstituierten, in einem gemeinsamen Staat vergesellschafteten Nation eine entscheidende Rolle. Die im 19. Jahrhundert etablierte Gattung der Nationalgeschichte war also der Versuch einer Antwort auf die Legitimations-, Herleitungs- und Identitätsstiftungsbedürfnisse der zeitgenössischen Nationalstaaten bzw. der einen Nationalstaat anstrebenden Gruppen.
Die Beschäftigung mit der Geschichte einer Nation ist deshalb nicht obsolet. Die heutige politische Ordnung Europas ist noch immer in erheblichem Maße von nationalstaatlichen Strukturen geprägt, deren Überwindung nicht einfach ist. Dass die nationalstaatlich geprägte politische Ordnung Europas unsere Fragen an die Geschichte prägt, ist selbstverständlich. Mit Blick auf die europäische Integration ist neben dem Versuch, transnationale historische Perspektiven aufzuzeigen, die Auseinandersetzung mit den nationalen Geschichten unserer europäischen Nachbarn auch deshalb unverzichtbar, weil deren Selbstverständnis in starkem Maße historisch fundiert ist. Dies gilt besonders für Frankreich, dessen politische Kultur und dessen öffentliches Leben durch die Präsenz der (anders als in Deutschland auch die Vormoderne einbeziehenden) nationalen Geschichte bestimmt sind.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte einer Nation darf allerdings nicht in teleologischer Perspektive erfolgen. Viele Historiker des 19. Jahrhunderts erblickten im Hervortreten von Nationen einen historisch notwendigen Prozess und in der Bildung von Nationalstaaten den Fluchtpunkt der Geschichte. Sie versuchten, die Wurzeln dieses Prozesses möglichst weit in die Vergangenheit zurückzuverfolgen. Heute gehen wir von der Historizität und Relativität von Nation und Nationalstaat aus und sind bestrebt, ihre Entwicklung distanziert zu analysieren und dabei die Problematik, die Nachteile und die Kosten dieser Entwicklung nicht auszublenden. Dabei ist es notwendig, nichts an der Herausbildung von Nationalstaaten a priori als selbstverständlich zu beurteilen, sondern sich einen fremden Blick zu bewahren – auch dies übrigens ein Argument für die Auseinandersetzung mit der Geschichte anderer Nationen.
Die Geschichte einer Nation ist stets das Ergebnis einer Konstruktion, die auf dem Herauspräparieren einzelner Facetten vergangener Wirklichkeit und dem Ausblenden beinahe unendlich vieler anderer Facetten beruht. Dies bedeutet, dass die Geschichte einer Nation nur einer unter vielen möglichen Zugängen zur Vergangenheit sein kann und dass auch für die Untersuchung des Zusammenlebens in größeren räumlichen Zusammenhängen andere Konzepte angemessener sein können. Über lange Zeitspannen war die Nation womöglich nicht der Selbstverständnis und Lebensbedingungen der Menschen entscheidend prägende Faktor; es ist überhaupt zu prüfen, ob (und wenn ja für welche Gruppen) von einem Nationalbewusstsein ausgegangen werden kann.
Auch die Begriffe, die wir zur Bezeichnung der Gegenstände der Geschichte verwenden, stellen Konstruktionen dar, die eine vergangene Wirklichkeit nicht einfach abbilden, sondern sie ordnen und perspektivieren. Dies gilt nicht nur für die Begriffe und Konzepte, die Historiker seit der Etablierung der Geschichtswissenschaft entwickelt haben, sondern ebenso für jene, die wir in den Quellen finden. Hier handelt es sich meist nicht um unschuldige, quasi objektive Beschreibungen, sondern um Konzeptualisierungen, die aufs Engste mit Überzeugungen, Werten und Idealen verknüpft sind. Selbst wenn in der Vergangenheit verwendete Begriffe uns heute noch geläufig sind, bedeutet dies nicht, dass wir ihnen denselben Sinn zuschreiben wie jene, die sie zu früheren Zeiten verwendet haben. Umso wichtiger ist es, die zeitgenössische Bedeutung der verwendeten Begriffe zu klären und ihre Implikationen zu bedenken, ehe man sich ihrer bedient. Dies gilt auch für geographische Begriffe – mögen sie noch so selbstverständlich erscheinen wie „Frankreich“.