Читать книгу Das Jahrhundert Ludwigs XIV. - Lothar Schilling - Страница 12
3. Frankreich als politischer Körper – Gesellschaft und ständische Ordnung
ОглавлениеDie historische Demographie bietet nur einen Zugang zur sozialen Welt vergangener Zeiten. Dieser Zugang war dem 17. Jahrhundert nicht fremd, doch diente er nicht zufällig v. a. dazu, die fiskalische und militärische Leistungskraft zu erfassen. Will man die Lebensbedingungen der Zeit angemessen beschreiben, ist es darüber hinaus notwendig, Faktoren sozialer und rechtlicher Ungleichheit in den Blick zu nehmen und nach Voraussetzungen zu fragen, die ungeachtet der Ungleichheit zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitrugen. Was Letztere angeht, ist Vorsicht geboten. Denn auch Zwang und das Fehlen alternativer Lebensmöglichkeiten können in erheblichem Maße zur Existenz von Gesellschaften beitragen. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts verfügte die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung kaum über die Chance, sich über die soziale Ordnung und über ihre Position in dieser Ordnung zu artikulieren, geschweige denn, daran etwas zu ändern. Gleichwohl gab es auch Faktoren, die Zusammenhalt stifteten. Zu denken ist etwa an die soziale Integration in Dorf- oder Stadtgemeinde, die Zugehörigkeit zu Klientelstrukturen, die Religionszugehörigkeit, womöglich aber auch die Zugehörigkeit zum politischen Körper „Frankreich“.
Unhintergehbarkeit der ständischen Ordnung
Charles Loyseau, einer der renommiertesten französischen Juristen seiner Zeit, eröffnete 1610 seinen Traité des ordres et simples dignités („Traktat über die Stände und einfachen Würden“) mit der Überlegung, in einer geordneten Gesellschaft könnten die Menschen nicht als Gleiche leben. Anders als für unsere heutigen westlichen Gesellschaften, in denen die rechtliche Gleichheit der Bürger zum unantastbaren Kernbestand der Rechtsordnung gehört, war für Loyseau rechtliche Ungleichheit kein Makel. Für den Juristen wie für die meisten seiner sich zu politischen Fragen äußernden Zeitgenossen bildete Ungleichheit vielmehr die Grundlage jeder legitimen Ordnung und ermöglichte überhaupt erst den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Q
Der Jurist Charles Loyseau rechtfertigt die ständische Ordnung.
Charles Loyseau: Traité des ordres et simples dignités. 3. Aufl., Paris 1620, S. 5f. (Übersetzung L. S.)
In allen Dingen muss es um der Schicklichkeit und der Lenkung willen eine Ordnung geben […]. Was die Menschen angeht, die von Gott eingesetzt sind, um über die übrige belebte und unbelebte Schöpfung zu herrschen, ist ihre Ordnung zwar veränderlich und Wechselfällen unterworfen, da Gott ihnen ja die Freiheit gegeben hat, Gutes und Böses zu tun; aber dennoch können sie nicht ohne Ordnung überleben. Denn wir könnten nicht alle als Gleiche leben; vielmehr ist es notwendig, dass die einen herrschen und die anderen gehorchen.
Dies war keine von den sozialen Verhältnissen abgelöste Vorstellung. Nicht die Tatsache, dass es soziale Ungleichheit gab, unterscheidet die französische Gesellschaft des 17. Jahrhunderts von heutigen westlichen Gesellschaften. Entscheidend ist vielmehr, dass soziale Ungleichheit zum erheblichen Teil rechtlich bedingt war – durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Ständen, die in der Regel durch Geburt vorgegeben war, aber auch durch die in der Rechtsordnung vorgesehene und reichlich genutzte Möglichkeit, einzelnen Personen oder Gruppen spezifische Vorrechte zuzuweisen. Damit aber hatte soziale Ungleichheit eine andere Grundlage und es kam ihr eine andere Bedeutung zu als heute. Dies wird etwa daran deutlich, dass Adlige, die sich im Frankreich des 17. Jahrhunderts mit der Bitte um eine Pension an den König wandten, nicht selten argumentierten, ihre Vermögensverhältnisse erlaubten es ihnen nicht, standesgemäß zu leben – auch wenn ihre jährlichen Einkünfte unter Umständen das Hundertfache des durchschnittlichen Jahreseinkommens betrugen. Solche Pensionen wurden nicht selten gewährt, denn es galt als Zeichen gesellschaftlicher Unordnung, wenn etwa Angehörige des Hohen Adels in zu kleinen oder zu schlichten Häusern wohnen mussten.
Umgekehrt gab es noch immer Kleiderordnungen, die festlegten, wer welchen Aufwand treiben durfte. Die Kleidung, der Schmuck und die Zahl der Gäste bei Festlichkeiten sollten nicht allein von den finanziellen Möglichkeiten abhängen. Vielmehr wurden je nach Standeszugehörigkeit Grenzen festgelegt, die sicherstellen sollten, dass die gesellschaftliche Ordnung auch am äußeren Aufwand sichtbar wurde. Auch in der juristischen Lehrmeinung fand die Vorstellung einer auf rechtlicher Ungleichheit beruhenden Gesellschaftsordnung ihren Niederschlag. In Anlehnung an entsprechende Formeln des römischen Rechts betonten französische Juristen des 17. Jahrhunderts, Gerechtigkeit bedeute das permanente Bestreben, einem jeden das Seine zukommen zu lassen – dieses „Seine“ war nicht für alle dasselbe, sondern es war abhängig von Standeszugehörigkeit und Rechtsstatus.