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d) Ständische Repräsentativorgane – Generalstände, Notabelnversammlungen und Provinzialstände
ОглавлениеGemeinwesen als politischer Körper
Wenn Zeitgenossen versuchten, die ständisch gegliederte Gesellschaft als Gesamtheit vorzustellen, griffen sie in der Regel auf die Körper-Metapher zurück. In Analogie zur christlichen Deutung der Kirche hatte sich in Frankreich seit dem 13. Jahrhundert die Vorstellung durchgesetzt, das französische Gemeinwesen stelle einen aus verschiedenen Ständen zusammengesetzten politischen Körper mit dem König als Oberhaupt dar. Mit diesem Bild verknüpft war seit dem 14. Jahrhundert eine politische Praxis, die im doppelten Sinne der Repräsentation der französischen Gesellschaft diente: die Generalstände (états généraux). Sie sollten einerseits die ständische Gliederung, den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit des politischen Körpers sichtbar und erfahrbar machen. Andererseits bildeten sie den institutionell-organisatorischen Rahmen für die Partizipation der ständischen Gesellschaft an der königlichen Politik.
Generalstände
Die Generalstände, deren Anfänge bis 1302 zurückverfolgt werden können, waren die französische Ausprägung eines Phänomens, das im 15. und auch noch im 16. Jahrhundert fast überall in Europa anzutreffen war. Ihre Existenz verdankten alle Ständeversammlungen der Tatsache, dass die meisten europäischen Monarchen seit dem 13. / 14. Jahrhundert für die Finanzierung ihrer Kriegführung, den Ausbau ihrer Verwaltung, die Einrichtung neuer Gerichtsinstanzen und ähnliche Aufgaben immer häufiger zusätzlicher Einkünfte bedurften. Die Erhebung von Steuern außerhalb klar umgrenzter Fälle konnte an sich nicht ohne die Zustimmung der Besteuerten bzw. jener, die sie repräsentierten, erfolgen – gemäß einem auf das spätantike römische Recht und das mittelalterliche Kirchenrecht zurückgehenden Grundsatz, der besagte, dass von allen genehmigt werden müsse, was alle betreffe (quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet). Im Gegenzug versuchten Ständeversammlungen das Recht durchzusetzen, Beschwerden (doléances) vorzutragen, politische Fragen zu diskutieren und ein Mitentscheidungsrecht zu erlangen. Maßgeblich war also hier wie im Lehnswesen die Verpflichtung auf „Rat und Hilfe“ (consilium et auxilium), denn die Generalstände hatten sich ursprünglich aus Versammlungen der Kronvasallen heraus entwickelt.
Was die Zusammensetzung der Generalstände angeht, hatte sich 1484 ein Verfahren durchgesetzt, bei dem Vertreter der drei Stände von allen zur taille veranlagten Männern über 25 Jahre gewählt wurden. Bei den Wahlen der Deputierten wurden für jeden Stand getrennt zunächst auf Gemeindeebene sowie anschließend auf der Ebene der bailliages und sénéchaussées (I.6.d) Versammlungen abgehalten und dabei jeweils Beschwerdehefte (cahiers de doléances) ausgearbeitet. Insgesamt wurden zwischen 350 und 450 Deputierte gewählt, wobei der Dritte Stand meist mehr Personen entsandte als die beiden anderen. Die Ständedeputierten spiegelten mitnichten die innere Zusammensetzung ihres jeweiligen Standes wider. So waren 1614 95% der Deputierten des Ersten Standes Angehörige des hohen Klerus. Ganz anders die Deputierten des Adels, die zu 77% einfache Landadlige waren. Der Dritte Stand war insofern einseitig repräsentiert, als fast die Hälfte der Deputierten königliche, häufig schon in den Amtsadel aufgestiegene officiers waren; dazu kamen noch 22% kommunale Amtsträger, auch darunter nicht wenige Angehörige der noblesse de robe bzw. der noblesse de cloche. Bauern hingegen waren nicht vertreten, Kaufleute nur in geringer Zahl.
Die Deputierten waren durch ein imperatives Mandat an die cahiers ihrer Wahlversammlungen gebunden. Die Beratungen der Generalstände erfolgten – außerhalb der zeremoniell überhöhten Eröffnungs- und Schluss-Sitzung – nach Ständen getrennt und führten zur Formulierung eines cahier général für jeden Stand. Da die Forderungen und Empfehlungen ständeweise vorgetragen wurden, spielte die Anzahl der Delegierten keine Rolle; so konnten die beiden ersten Stände den dritten überstimmen – ein Sachverhalt, der freilich erst bei der Wiederbelebung der Generalstände im Vorfeld der Französischen Revolution zur grundsätzlichen Infragestellung des Abstimmungsmodus führte.
Die französischen Generalstände waren im Vergleich zu den Ständeversammlungen anderer europäischer Monarchien relativ schwach; so gelang es ihnen – anders als dem englischen parliament – nicht, Periodizität, also regelmäßiges Zusammentreten, durchzusetzen. Es stand vielmehr im Belieben des Königs, sie einzuberufen; sein Interesse an Generalständen war begrenzt, da es der Krone bereits im Spätmittelalter gelungen war, permanente Steuern einzuführen. In Krisenzeiten indes änderte sich dies, v. a. während der Religionskriege. Sieht man ab von den „ligistischen“ Generalständen des Jahres 1593, die einen katholischen Gegenkönig gegen Heinrich IV. wählen sollten, wurden 1560 / 61 in Orléans (mit einer Fortsetzung in Pontoise), 1576 / 77 und erneut 1588 / 89 in Blois sowie 1614 in Paris Generalstände abgehalten, von denen sich die Krone eine innere Befriedung, eine Verbesserung ihrer politischen Gestaltungsmöglichkeiten und (nicht zuletzt finanzielle) Unterstützung erhoffte.
Notabelnversammlungen
Darüber hinaus fanden zwischen 1558 und 1627 achtmal Notabelnversammlungen statt, deren Teilnehmer anders als die Deputierten der Generalstände vom König ausgewählt waren. Auch hier waren alle Stände vertreten, doch war der Teilnehmerkreis kleiner (ca. 30 – 50 Personen) und exklusiver: Vom König geladen wurden meist neben den Prinzen von Geblüt und weiteren Hochadligen die grands officiers de la couronne (I.6.c), Minister und Staatssekretäre, hohe kirchliche Würdenträger sowie hohe Amtsträger, die zwar der noblesse de robe angehörten, aber als Vertreter des Dritten Standes galten. Die Aufgaben der Notabelnversammlungen deckten sich z. T. mit jenen der Generalstände, wenngleich die Steuerbewilligung hier in den Hintergrund trat und stattdessen der Beratung wichtiger Maßnahmen sowie ihrer Legitimierung bzw. Sanktionierung gegenüber Untertanen und Öffentlichkeit zentrale Bedeutung zukam.
Die Auswirkungen dieser Versammlungen sollten nicht unterschätzt werden (I.5). Auf die Forderungen und Beschwerden von Generalständen und Notabelnversammlungen gingen die umfassenden, weite Bereiche der inneren Ordnung betreffenden grandes ordonnances von Orléans (1561), Roussillon (1564), Moulins (1566) und Blois (1579) sowie die als code Michau bezeichnete ordonnance von 1629 zurück, die, auch wenn sie nur partiell umgesetzt wurden, bis zum Ende des Ancien Régime als wichtige Grundlagen der französischen Rechtsordnung galten.
Ungeachtet dessen wurden zwischen 1614 und 1789 keine Generalstände und zwischen 1627 und 1787 keine Notabelnversammlungen mehr abgehalten, obwohl die französische Monarchie zwischenzeitlich mehrfach in die Krise geriet. So wurde sowohl während der Fronde (1648 – 1653) wie auch um 1690 und 1710 die Einberufung solcher Versammlungen gefordert bzw. erwogen, aber nicht realisiert. Die Gründe dafür sind vielfältig. In der Regel wird darauf verwiesen, dass sich in Frankreich im 17. Jahrhundert eine „absolutistische“ Staats- und Herrschaftsform durchgesetzt habe. Tatsächlich gehört die Zurückdrängung oder gar Ausschaltung ständischer Repräsentativorgane zu den zentralen Elementen des klassischen Absolutismuskonzepts. Allerdings haben die französischen Monarchen den Anspruch, „absolut“ zu sein, auch erhoben, wenn sie états généraux einberiefen, deren Entscheidungen sie ohnehin nicht binden konnten. Zumal bei Ludwig XIV. mag das Motiv eine Rolle gespielt haben, die politische Bühne allein zu besetzen. Es lassen sich allerdings auch pragmatischere Gründe finden. Zwar hatte die Krone den Generalständen bereits im 16. Jahrhundert kein Steuerbewilligungsrecht mehr zuerkannt, aber dennoch auf ihre Zustimmung gesetzt und ihnen mehrfach die Erhebung neuer bzw. die Erhöhung bestehender Steuern zur Beratung vorgelegt. Die Ablehnung dieser Forderungen minderte die Bereitschaft der Krone, sie erneut einzuberufen. Doch auch die übrigen Erwartungen der Krone an die Generalstände und Notabelnversammlungen der Jahre 1558 bis 1627 hatten sich im Wesentlichen nicht erfüllt – nicht zuletzt deshalb, weil die drei Stände untereinander und teilweise auch in ihrem Innern zerstritten waren. Hinzu kam, dass auch die Obergerichte, die selbst den Anspruch erhoben, das Land zu repräsentieren, den Generalständen kritisch gegenüberstanden.
Da die Generalstände nach 1614 und die Notabelnversammlungen nach 1627 in der politischen Praxis keine Rolle mehr spielten, verblasste auch die traditionelle Vorstellung des alle Stände umfassenden, den König als Haupt mit einschließenden politischen Körpers. An seine Stelle trat zunehmend die Vorstellung, lediglich das zum Gehorsam verpflichtete Volk stelle einen politischen Körper dar, der Monarch aber stehe außerhalb und garantiere von dieser Position aus dessen Ordnung.
Provinzialstände
Ganz verschwunden ist die ältere Vorstellungswelt freilich ebenso wenig wie die ihr entsprungenen Versammlungen, auch weil in einigen Provinzen noch im 17. Jahrhundert regelmäßig Provinzialstände (états provinciaux) einberufen wurden. Im 14. und 15. Jahrhundert waren diese Versammlungen in ganz Frankreich üblich. Unter der Leitung eines königlichen Kommissars bewilligten sie Steuern, regelten deren Aufbringung und ließen Truppen ausheben, übernahmen z. T. mit einem eigenen Apparat auch Verwaltungsaufgaben. Für das Königtum waren sie im Kampf gegen das Papsttum und den englischen König eine wichtige Stütze. Im 16. Jahrhundert sank – parallel zum Ausbau der königlichen Verwaltung – ihr Nutzen für die Krone, und so wurden sie in den königsnahen zentralen Landschaften bald nicht mehr einberufen. Auch in der hier behandelten Zeit setzte sich dieser Prozess fort. Doch in Provinzen wie der Bretagne, der Bourgogne, dem Languedoc, dem wallonischen Flandern, dem Artois, dem Cambrésis und kleineren Provinzen in den Pyrenäen kamen auch unter Ludwig XIV. regelmäßig Provinzialstände zusammen, die teilweise mit drastischen Steuerforderungen konfrontiert und durch Inhaftierung von Ständevertretern unter Druck gesetzt wurden. Dass der König die Stände der genannten Provinzen dennoch bestehen ließ, zeigt, dass er auf ihre Unterstützung bei der Steuerverwaltung letztlich nicht verzichten wollte.
E
Als Kommissar (von lat. commissarius – Beauftragter, Entsandter) bezeichnet man eine Person, die ihr Amt nicht dauerhaft innehat, sondern zu einem bestimmten Zweck für einen begrenzten Zeitraum (oft weitreichende) Befugnisse erhält. Dies bedingt in der Regel eine starke Bindung an den Auftraggeber. Im frühneuzeitlichen Frankreich unterschieden sich kommissarische Amtsträger wie die Intendanten (I.6.d) auch dadurch von den regulären Amtsträgern (officiers), dass sie ihr Amt nicht gekauft hatten und jederzeit entschädigungslos abgesetzt werden konnten.
Auch die Generalstände wurden bezeichnenderweise nie abgeschafft und konnten deshalb im Vorfeld der Revolution ohne Weiteres wieder einberufen werden. 1789 wurde freilich deutlich, dass sie nun definitiv nicht mehr geeignet waren, die französische Gesellschaft zu repräsentieren.