Читать книгу Auf einem einsamen Weg - Louise Penny - Страница 12
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Оглавление»Kommen Sie rein«, die Nachbarin machte eine einladende Geste. »Schnell raus aus der Kälte.«
Sie war jung, Mitte dreißig, schätzte Gamache. Kaum älter als seine Tochter Annie. Und wahrscheinlich wäre es besser, wenn sie nicht so einfach Fremde in ihr Haus lassen würde.
Aus dem Blick, mit dem sie ihn angesehen hatte, als sie auf sein Klopfen hin die Tür geöffnet hatte, schloss Gamache allerdings, dass er kein völlig Fremder für sie war. Diese Vermutung bestätigte sich, als er in der Diele seine Handschuhe auszog und ihr die Hand entgegenstreckte.
»Désolé«, sagte er. »Entschuldigen Sie die Störung, vor allem an einem Tag wie diesem. Mein Name ist Armand Gamache. Ich wohne ein Stück weiter in Three Pines.«
»Ja, ich weiß, wer Sie sind. Ich bin Patricia Houle.«
Sie schüttelte ihm die Hand und wandte sich dann Myrna zu. »Sie kenne ich auch. Ihnen gehört der Buchladen.«
»Ja. Sie sind schon einige Male da gewesen. Sachbücher. Gartenbücher. Aber auch Biographien.«
»Ja, genau.«
Nachdem Lucien Mercier sich vorgestellt hatte, drehte sie sich zu Benedict.
»Benedict Pouliot«, sagte er. »Baufachmann.«
»Kommen Sie, wärmen Sie sich auf.«
Sie folgten ihr ins Herz des Hauses, die Küche, wo ein großer Holzofen Wärme verströmte.
Madame Houle war ebenso unprätentiös wie ihr Haus. Offenbar hatte sie es nicht nötig, jemanden zu beeindrucken, und genau das war beeindruckend. So wie das solide, schlichte Haus.
»Ich habe gerade Tee gemacht. Kann ich Ihnen eine Tasse anbieten?«
»Danke, für mich nicht«, sagte Myrna, und die anderen lehnten ebenfalls ab.
»Wir wollen Sie nicht lange aufhalten«, sagte Armand. »Wir haben nur ein paar Fragen.«
»Ja?«
»Kannten Sie die Frau, die nebenan gewohnt hat?«, fragte Myrna.
»Die Baronin? Natürlich, wenn auch nicht besonders gut. Warum?«
Der Blick, den ihre Besucher wechselten, war ihr nicht entgangen, wenn sie auch nicht wusste, inwiefern ihre Worte von Bedeutung waren. Patricia Houle hatte soeben bestätigt, dass Ruth recht hatte. Bertha Baumgartner war die Baronin.
»Nicht weiter wichtig«, sagte Myrna. »Fahren Sie fort.«
»Haben Sie so geschaut, weil ich sie Baronin genannt habe?«, fragte Patricia Houle und blickte von einem zum andern. »Das war kein Spitzname, der auf unserem Mist gewachsen ist. Auf so was wären wir nie gekommen, ganz sicher nicht. Sie hat sich selbst so genannt.«
»Wie lange haben Sie sie gekannt?«, fragte Mercier.
»Ein paar Jahre. Stimmt etwas nicht?« Sie sah Armand an. »Sie sind nicht offiziell hier, oder?«
»Nicht so, wie Sie denken«, sagte er. »Wir sind ihre Testamentsvollstrecker.«
»Sie ist gestorben?«
»Ja, kurz vor Weihnachten«, sagte Mercier.
»Das habe ich gar nicht mitbekommen«, sagte Patricia Houle. »Ich weiß, dass sie vor ein paar Jahren in ein Seniorenheim gezogen ist, aber dass sie gestorben ist, wusste ich nicht. Sonst wäre ich zu ihrer Beerdigung gegangen.«
»Sie haben ihr Testament bezeugt, oder?«, fragte Armand. Als sie nickte, fuhr er fort: »Erschien sie Ihnen geschäftsfähig?«
»Natürlich. Sie war völlig klar. Obwohl ich zugeben muss, dass sie schon auch ein bisschen seltsam war. Zum Beispiel bestand sie darauf, Baronin genannt zu werden, aber haben wir nicht alle unsere kleinen Eigenheiten?«
»Ich wette, ich kenne Ihre«, sagte Myrna.
»Kann ich mir vorstellen«, sagte Patricia.
»Sie haben ein Faible für Giftpflanzen. Wahrscheinlich pflanzen Sie sogar welche an.«
»Ja«, gab Patricia Houle lachend zu.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Benedict.
»Die Bücher, die sie gekauft hat«, sagte Myrna. »Eins davon war Der Giftgarten, wenn ich mich recht erinnere. Und ein anderes …« Sie kramte in ihrem Gedächtnis.
»Die giftigsten Gartenpflanzen«, sagte Patricia Houle. Mit schief gelegtem Kopf sah sie Armand an. »Damit mache ich mich bestimmt verdächtig.«
Armand lächelte.
»So habe ich übrigens die Baronin kennengelernt und überhaupt das erste Mal etwas von Giftgärten gehört. Sie hatte nämlich einen, und sie hat mich herumgeführt und mir erklärt, dass Fingerhut dasselbe wie Digitalis ist. Tödlich. Außerdem hatte sie Eisenhut, Maiglöckchen und Hortensien in ihrem Garten. Alle giftig. Neben anderen winterharten Pflanzen natürlich. Aber eigenartigerweise sind die giftigen die schönsten.«
Myrna nickte. Sie war ebenfalls eine leidenschaftliche Gärtnerin, allerdings wäre ihr nie in den Sinn gekommen, ein Beet mit Giftpflanzen anzulegen. Aber immerhin taten es so viele Leute, dass einige Bücher zu diesem Thema geschrieben worden waren. Und Patricia Houle hatte recht. Die todbringenden Blumen gehörten zu den schönsten. Und zu den langlebigsten.
»Gibt es wirklich Pflanzen, mit denen man jemanden umbringen kann?«, fragte Benedict.
»Angeblich«, sagte Patricia Houle, »obwohl ich nicht weiß, wie man das Gift extrahiert. Wahrscheinlich muss man dazu Chemie studiert haben.«
»Und es wollen«, sagte Gamache.
Seine Stimme klang freundlich, aber er ließ Patricia Houle nicht aus den Augen und berichtigte seinen ersten Eindruck. Sie strahlte nicht nur Selbstsicherheit aus, sondern war offenbar auch jemand, der anpacken konnte.
Vor dem Haus war ihm ihr freigeschaufeltes Auto aufgefallen. Der weggeschippte Schnee türmte sich zu kleinen Wällen auf, die aussahen, als wären sie mit dem Lineal gezogen worden.
Wenn sie etwas machte, dann machte sie es gut und gründlich.
Vermutlich würde sie auch herausfinden, wie man das Gift aus einer Narzisse extrahierte, falls sich für sie die Notwendigkeit ergab.
Sie bedankten sich bei Madame Houle für ihre Hilfe, verabschiedeten sich und gingen eine Tür weiter.
Bertha Baumgartners Haus schien sich unter dem Gewicht des frisch gefallenen Schnees noch weiter zur Seite zu neigen. Es wäre leichtsinnig gewesen, zu nahe heranzugehen, und Gamache nahm sich vor, bei der Gemeinde anzurufen und zu veranlassen, dass der Zugang gesperrt wurde. Und so schnell wie möglich ein Bulldozer hergeschickt wurde.
Sie schaufelten die Autos von Myrna und Mercier frei und anschließend Benedicts Pick-up, aber Armand hinderte den jungen Mann daran einzusteigen.
»Sie können nicht ohne Winterreifen fahren.«
»Aber ich muss. Mir passiert schon nichts.«
Das waren die letzten Worte zu vieler junger Leute, wie Gamache wusste.
»Stimmt, Ihnen passiert nichts«, sagte er. »Weil Sie damit nämlich nirgendwohin fahren.«
»Und wenn doch?«, fragte Benedict. »Was machen Sie dann? Die Polizei rufen?«
»Das wäre nicht nötig«, sagte Mercier und stellte fest, dass Benedict es immer noch nicht begriff. »Wissen Sie wirklich nicht, wer das ist?«
Benedict schüttelte den Kopf.
»Ich bin der Leiter der Sûreté du Québec«, sagte Armand.
»Chief Superintendent Gamache«, sagte Mercier.
Benedict sagte entweder »Nein, Scheiße« oder »Kein Scheiß«. Irgendwas mit Scheiße jedenfalls.
»Echt?«
Gamache nickte. »C’est la vérité.«
Benedict warf einen Blick über die Schulter zu seinem Pick-up und murmelte etwas, das wie »So’n Mist« klang.
Gamache grinste. Solchen Mist hatte er in Benedicts Alter auch erlebt. Es dauerte lange, bis er erkannte, dass er in Wahrheit Glück gehabt hatte.
»Ich schätz mal, da hab ich keine Wahl«, sagte Benedict.
»Bon. Rufen Sie den Pannendienst, sobald das Telefon wieder funktioniert. Lassen Sie das Auto in eine Werkstatt schleppen und anständige Winterreifen montieren. Nicht die billigen. D’accord?«
»Verstanden«, murmelte Benedict dem Schnee an seinen Stiefeln zu.
»Keine Sorge«, sagte Gamache leise. »Ich bezahle.«
»Ich zahl’s zurück.«
»Geben Sie mir einfach die versprochene Fahrstunde. Dann sind wir quitt.«
»Merci.«
»Gut.« Gamache wandte sich Mercier zu. »Geben Sie mir wegen des Treffens mit Madame Baumgartners Kindern Bescheid.«
»Das werde ich tun.«
Bevor Myrna mit Benedict zurück nach Three Pines fuhr, betrachtete sie die dicke Schneeschicht, die über dem Garten lag. Und dachte an die giftigen Pflanzen, die darunter versteckt waren. Eingefroren, aber nicht tot. Wartend.
Wobei die eigentliche Gefahr nicht von den Giftpflanzen ausging, wie Myrna wusste. Die konnte man sehen. Die kannte man. Außerdem waren sie hübsch.
Nein. Die eigentliche Gefahr in einem Garten ging von den Ackerwinden aus. Die sich unterirdisch ausbreiteten, dann an die Oberfläche kamen und alles umschlangen. Eine Pflanze nach der anderen erdrosselten. Sie alle langsam umbrachten. Und das aus keinem ersichtlichen Grund, außer dem, dass es ihrer Natur entsprach.
Und danach verschwanden sie wieder unter der Erde.
Ja, die eigentliche Gefahr ging immer von dem aus, was man nicht sehen konnte.