Читать книгу Auf einem einsamen Weg - Louise Penny - Страница 3

1

Оглавление

Armand Gamache fuhr im Schritttempo über die schnee- bedeckte Nebenstraße und hielt schließlich an.

Geschafft, dachte er. Er lenkte das Auto zwischen den hohen Kiefern hindurch, bis er die Lichtung erreichte.

Dort parkte er und blickte aus dem warmen Wageninneren in den kalten Tag hinaus. Schneeflocken segelten auf die Windschutzscheibe und schmolzen. Sie fielen jetzt schneller und erschwerten die Sicht. Gamache blickte auf den Brief auf dem Beifahrersitz, den er tags zuvor bekommen hatte.

Er rieb sich das Gesicht und setzte seine Lesebrille auf. Las ihn noch einmal. Er hatte ihn an diesen verlassenen Ort gebracht.

Er stellte den Motor ab. Stieg aber nicht aus.

Nervös war er nicht. Die Angelegenheit war weniger beunruhigend als rätselhaft.

Dennoch war sie so befremdlich, dass er alarmiert war. Nicht übermäßig, noch nicht. Aber er war auf der Hut.

Armand Gamache war kein ängstlicher Mann, aber er war vorsichtig. Wie sonst hätte er an der Spitze der Sûreté du Québec überdauern können? Allerdings war keineswegs sicher, dass ihm das tatsächlich gelungen war.

Er vertraute auf seinen Verstand und auf seine Instinkte.

Und was sagten sie ihm jetzt?

Sie sagten ihm ganz klar, dass diese Angelegenheit seltsam war. Aber das, dachte er mit einem Grinsen, hätten ihm auch seine Enkelkinder sagen können.

Er nahm sein Handy und hörte es unter der Nummer, die er gewählt hatte, einmal, zweimal klingeln, dann wurde abgehoben.

»Salut, ma belle, ich bin angekommen«, sagte er.

Zwischen Armand und seiner Frau Reine-Marie gab es die Abmachung, dass sie im Winter, wenn Schnee lag, einander Bescheid gaben, wenn sie unterwegs waren und ihr Ziel erreicht hatten.

»Wie war die Fahrt? In Three Pines schneit es immer stärker.«

»Hier auch. Aber ich bin gut durchgekommen.«

»Wo bist du eigentlich, Armand? Was ist das für ein Ort?«

»Schwer zu beschreiben.«

Er versuchte es trotzdem.

Vor ihm stand etwas, das einmal ein Zuhause gewesen war. Dann ein Haus. Und jetzt war es nur noch ein Gebäude. Und selbst das würde man nicht mehr lange sagen können.

»Es ist ein altes Farmhaus«, sagte er. »Es macht einen verlassenen Eindruck.«

»Bist du denn auch an der richtigen Adresse? Erinnerst du dich, wie du mich von meinem Bruder abholen wolltest und zu dem falschen Bruder gefahren bist? Und darauf bestanden hast, dass ich da sei?«

»Das ist doch schon eine Ewigkeit her«, sagte er. »Und die Häuser in Ste.-Angélique sehen alle gleich aus, und deine hundertsiebenundfünfzig Brüder sehen auch alle gleich aus. Außerdem mochte er mich nicht, und ich war ziemlich sicher, dass er mich einfach nur loswerden wollte und ich dich in Ruhe lassen sollte.«

»Das kann man ihm ja wohl kaum vorwerfen, schließlich warst du an der falschen Adresse. Du Meisterdetektiv.«

Armand lachte. Das war vor Jahrzehnten gewesen, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Als ihrer Familie dann klar geworden war, wie sehr sie ihn liebte und, wichtiger noch, wie sehr er Reine-Marie liebte, hatte sie ihn doch noch ins Herz geschlossen.

»Ich bin schon richtig. Da steht noch ein Auto.«

Das andere Auto war von einer feinen Schneeschicht bedeckt. Er vermutete, dass es seit ungefähr einer halben Stunde dort stand, nicht länger. Dann sah er wieder zum Farmhaus.

»Hier hat schon lange niemand mehr gewohnt.«

Es dauerte eine Weile, bis ein Haus so verfiel. Das passierte nur, wenn sich jahrelang niemand darum kümmerte.

Bald würde es in seine einzelnen Bestandteile zerfallen.

Die Fensterläden hingen schief in den Angeln, der hölzerne Handlauf war verfault und hatte sich verzogen, die Treppenstufen hingen durch. Eines der oberen Fenster war vernagelt, sodass es aussah, als würde ihm das Haus zublinzeln. Als wüsste es etwas, das er nicht wusste.

Er legte den Kopf schief. Konnte es sein, dass sich das Haus leicht zur Seite neigte? Oder verwandelte es seine Einbildungskraft in eins aus Honorés Schlafliedern?

Da war ein krummer Mann, der lief an einem krummen Straßensaum.

Fand einen krummen Stock, gelehnt an einen krummen Baum.

Kam eine krumme Katze, fing eine krumme Maus.

Und alle lebten zusammen in einem kleinen krummen Haus.

Das war ein krummes Haus. Unwillkürlich fragte sich Gamache, ob er darin auf eine krumme Sache stoßen würde.

Nachdem er sich von Reine-Marie verabschiedet hatte, sah er erneut zu dem anderen Auto im Hof und auf das Kennzeichen mit dem Motto von Québec: JE ME SOUVIENS.

Ich erinnere mich.

Wenn er wie jetzt die Augen schloss, tauchten unwillkürlich Bilder auf. So lebendig und eindringlich, wie der Moment selbst es gewesen war. Und nicht nur an jenem Tag im letzten Sommer, als die schrägen Sonnenstrahlen auf seine blutigen Hände gefallen waren.

Er sah all die Tage. All die Nächte. All das Blut. Seines und das anderer. Von Menschen, deren Leben er gerettet hatte. Und von jenen, denen er es genommen hatte.

Um sich seine geistige Gesundheit, seine Menschlichkeit, seine innere Balance zu erhalten, musste er auch die schönen Ereignisse in sich wachhalten.

Reine-Marie gefunden zu haben. Ihr Sohn, ihre Tochter. Jetzt die Enkel.

Ihren Zufluchtsort in Three Pines gefunden zu haben. Die ruhigen Stunden mit Freunden. Die heiteren Feste.

Der Vater eines guten Freundes war an Demenz erkrankt und vor Kurzem gestorben. In seinem letzten Lebensjahr hatte er seine Familie und seine Freunde nicht mehr erkannt. Zu allen war er freundlich, aber manche strahlte er an. Das waren diejenigen, die er instinktiv erkannte. Er hatte sie in seinem Herzen bewahrt, nicht in seinem beschädigten Kopf.

Das Herz bewahrte Erinnerungen sehr viel besser als der Kopf. Die Frage war nur, was die Leute in ihrem Herzen bewahrten?

Chief Superintendent Gamache hatte mehr als genug Leute kennengelernt, deren Herz von Hass zerfressen war.

Er sah auf das krumme Haus und fragte sich, von welcher Erinnerung es zerfressen wurde.

Nachdem er automatisch das Kennzeichen in seinem Gedächtnis abgespeichert hatte, wanderte sein Blick über den Hof.

Hier und da erhoben sich große Schneehaufen, unter denen sich offenbar rostige Fahrzeuge verbargen. Ein ausgeweideter Pick-up. Ein alter, inzwischen wohl schrottreifer Traktor. Und etwas, das wie ein kleiner Panzer aussah, wahrscheinlich aber ein alter Öltank war.

Hoffte er.

Gamache setzte seine Mütze auf und wollte gerade die Handschuhe überstreifen, als er zögerte und den Brief ein weiteres Mal in die Hand nahm. Nicht dass viel drinstand. Nur ein paar kurze Sätze.

Sie waren nicht bedrohlich, wären beinahe komisch gewesen, hätten sie nicht von der Hand eines Toten gestammt.

Der Brief war von einem Notar, der Gamache bat, geradezu befahl, sich um zehn Uhr morgens an diesem abgelegenen Haus einzufinden. Punkt zehn. Bitte. Seien Sie pünktlich. Merci.

Er hatte bei der Chambre des Notaires du Québec Erkundigungen über den Notar eingezogen.

Maître Laurence Mercier.

Vor sechs Monaten war er an Krebs gestorben.

Und doch war hier ein Brief von ihm.

Es gab keine E-Mail- oder Absenderadresse, nur eine Telefonnummer, unter der Armand angerufen hatte, aber niemand hatte abgehoben.

Beinahe hätte er die Datenbank der Sûreté nach Maître Mercier durchsuchen lassen, hatte sich dann aber dagegen entschieden. Nicht dass Gamache Persona non grata in der Sûreté du Québec gewesen wäre. Also, nicht ganz. Da er jedoch suspendiert war, bis die Ermittlungen zu den Ereignissen im letzten Sommer abgeschlossen waren, wollte er die Hilfsbereitschaft seiner Kollegen nicht überstrapazieren. Auch nicht die von Jean-Guy Beauvoir. Seinem Stellvertreter. Seinem Schwiegersohn.

Gamache sah erneut zu dem einstmals soliden Haus und lächelte. Spürte eine Verwandtschaft mit ihm.

Manchmal brach etwas unerwartet zusammen. Nicht immer war das ein Hinweis darauf, dass es nicht wertgeschätzt worden war.

Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn in seine Brusttasche. Gerade als er aussteigen wollte, klingelte sein Handy.

Gamache blickte auf die Nummer. Starrte sie an. Das leise Lächeln war von seinem Gesicht wie weggewischt.

Wagte er es dranzugehen?

Wagte er es, nicht dranzugehen?

Während es immer weiter klingelte, starrte er durch die Windschutzscheibe, die Sicht durch den mittlerweile dicht fallenden Schnee so stark behindert, dass er die Welt nur unvollkommen sah.

Er fragte sich, ob er sich in Zukunft bei dem Anblick eines alten Farmhauses, dem Geräusch leise rieselnden Schnees oder dem Geruch feuchter Wolle an diesen Moment erinnern würde, und wenn, ob das mit einem Gefühl der Erleichterung oder des Schreckens verbunden sein würde.

»Oui, allô?«

Der Mann stand am Fenster und sah angestrengt hinaus.

Der Blick aus dem Fenster wurde durch die überfrorenen Scheiben verzerrt, aber er hatte gesehen, wie das Auto ankam, und mit Ungeduld verfolgt, wie der Mann parkte und dann einfach dasaß.

Nach etwa einer Minute stieg der Mann aus, aber er ging nicht zum Haus, sondern stand neben dem Auto, ein Handy am Ohr.

Er war der erste der invités.

Diesen ersten Gast erkannte der Mann natürlich. Wer würde ihn nicht erkennen. Oft genug hatte er ihn gesehen, wenn auch nur in den Nachrichten. Niemals leibhaftig.

Dass er wirklich auftauchen würde, hatte er kaum geglaubt.

Armand Gamache. Der ehemalige Leiter der Mordkommission. Der gegenwärtige, wenn auch suspendierte Chief Superintendent der Sûreté du Québec.

Er verspürte ein leichtes, aufgeregtes Kribbeln. Eine Berühmtheit war hier. Ein Mann, der zugleich größte Anerkennung und heftigste Ablehnung erfuhr. Von einigen Zeitungen wurde er als Held betrachtet. Von anderen als Verbrecher. Der die schlimmsten Seiten der Polizeiarbeit repräsentierte. Oder die besten. Machtmissbrauch. Jemand, der Verantwortung übernahm und mutig genug war, den eigenen Ruf, vielleicht mehr, für das Wohl der Gesellschaft aufs Spiel zu setzen.

Der etwas tat, was sonst niemand tun wollte. Oder konnte.

Durch die vereiste Scheibe und die dicht fallenden Schneeflocken sah er einen Mann Ende fünfzig. Groß, mindestens eins achtzig. Und kräftig. In dem Daunenanorak sah er dick aus, aber im Daunenanorak sah jeder dick aus. Das Gesicht war dagegen schmal, und es wirkte erschöpft. Um seine Augen lagen Fältchen, und zwischen seinen Augenbrauen bildeten sich jetzt zwei tiefe Falten.

Es fiel ihm schwer, Gesichter zu deuten. Er sah die Linien, konnte sie aber nicht lesen. Er vermutete, dass Gamache wütend war, aber es könnte auch einfach Konzentration sein. Oder Überraschung. Vielleicht sogar Freude.

Aber das bezweifelte er.

Inzwischen schneite es heftiger. Gamache hatte seine Handschuhe nicht angezogen. Sie waren auf den Boden gefallen, als er aus dem Auto ausgestiegen war. So verloren die meisten Québecer ihre Fäustlinge oder Fingerhandschuhe und sogar ihre Mützen. Während der Fahrt lagen sie auf dem Schoß, und bis man ausstieg, hatte man sie vergessen. Im Frühling war das ganze Land mit Hundehaufen, Würmern und durchweichten Handschuhen und Mützen übersät.

Armand Gamache stand in dem Schneetreiben, die bloße Hand am Ohr. Er umklammerte das Telefon und hörte zu.

Als er an der Reihe war, etwas zu sagen, beugte er den Kopf, die Knöchel weiß von dem festen Griff um das Handy oder von der beißenden Kälte. Dann machte er ein paar Schritte von seinem Auto weg, drehte Wind und Schnee den Rücken zu und sprach.

Der Mann konnte nicht hören, was gesagt wurde, bis ein Windstoß einen Satz auffing und über den verschneiten Hof mit den einstmals geschätzten Besitztümern zu ihm trug. Ins Haus. Das einst geschätzt worden war.

»Das werden Sie bereuen.«

Dann nahm der Mann aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Ein weiteres Auto fuhr auf den Hof.

Der zweite der invités.

Auf einem einsamen Weg

Подняться наверх