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Benedict, Myrna und Armand starrten auf die Seite, die vor ihnen lag.

Dann hoben sie den Kopf und sahen einander an.

Dann drehten sich alle gleichzeitig zu Mercier.

»Das ist ein Witz, oder?«, fragte Myrna, während neben ihr Armand seine Lesebrille abnahm und den Notar musterte.

»Das versteh ich nicht«, sagte Benedict.

»Es ist alles ganz klar«, sagte Mercier.

»Nein, überhaupt nicht«, sagte Myrna. »Es ist totaler Blödsinn.«

Armands Blick wanderte wieder zu dem Schriftstück vor ihm. Nachdem der Notar mit sonorer Stimme eine Ziffer nach der anderen verlesen hatte, jede Klausel, jedes Wort, waren sie schließlich zu Ziffer 8 des Testaments gelangt. Nach dem nervenaufreibenden Vormittag und der Mahlzeit, die sie gerade zu sich genommen hatten, eingelullt von der Wärme des Holzofens, zu der jetzt noch Merciers monotone Stimme kam, hatten sie allergrößte Mühe, wach zu bleiben.

Armand hatte mehr als einmal bemerkt, dass Benedicts Augenlider flatterten und sein Kopf nach unten sank. Der junge Mann versuchte, die Müdigkeit abzuschütteln, und riss die Augen weit auf, bevor sich die schweren Lider erneut langsam senkten.

Doch jetzt war er hellwach. Sie alle waren hellwach.

»Hier steht«, Myrna blickte auf das Blatt und fuhr mit dem Finger die Zeile entlang, »›Jedem meiner drei Kinder vermache ich die Summe von fünf Millionen Dollar.‹«

Sie hob den Kopf und sah Mercier fragend an.

»Fünf. Millionen. Dollar«, wiederholte sie. »Verstehen Sie das etwa?«

»Jedem«, hob Benedict hervor. »Das macht … fünfzehn Millionen.«

»Fünf Millionen, fünfzehn Millionen, hundert Millionen«, sagte Myrna. »Das ist doch völlig egal. Es ist Unsinn.«

»Vielleicht hat sie die Canadian-Tire-Coupons gemeint«, sagte Benedict, der gern hilfreich sein wollte.

Vergeblich.

»Was sollen wir damit anfangen?«, fragte Myrna.

Sie zeigte auf das Testament, dann blickte sie ratsuchend zu Armand, der seinerseits den Notar ansah.

»Hat sie denn so viel?«, fragte er.

»Bertha Baumgartner?«, sagte Myrna. »Waren wir heute Vormittag im selben Haus? Diese Frau hatte offenbar eine blühende Phantasie, aber das war dann auch schon alles.«

»Vielleicht litt sie ja an … wie nennt man das?«, sagte Benedict.

»Krankhaftem Geiz?«, sagte Armand.

»Paranoia«, sagte Benedict.

»Wir sind noch nicht fertig«, sagte Mercier.

Mit seiner monotonen Stimme las er weiter, aber jetzt waren sie aufmerksam, hörten genau zu, während Verfügung auf Verfügung folgte.

Die Immobilie in der Schweiz sollte verkauft werden, ebenso das Haus in Wien. Der Erlös sollte unter ihren Kindern und Enkeln aufgeteilt werden. Eine Million ging als Vermächtnis an das örtliche Tierheim.

»Das ist nett«, sagte Benedict.

Ziffer 8, dachte Armand, während er die Zahlen überflog. Beim US-Militär war das der Abschnitt, der geistige Tauglichkeit betraf. Vielleicht hatte Benedict genau den richtigen Ausdruck dafür gefunden.

»Der Titel geht selbstverständlich an meinen ältesten Sohn Anthony«, las der Notar vor.

»Hä?«, sagte Myrna.

Inzwischen waren ihr die Worte abhandengekommen, und sie konnte nur noch Laute von sich geben.

»Titel?«, fragte Benedict. »Was heißt das?«

»Vermutlich ist der Eigentumstitel für das Farmhaus gemeint«, sagte Armand.

Das Licht in der Küche flackerte.

Alle verstummten und blickten zu dem Kronleuchter über dem Kieferntisch. Als könnten sie ihn allein durch Willenskraft dazu bringen weiterzubrennen.

Aber nur weil man etwas wollte, hieß das noch lange nicht, dass es auch geschah – Madame Baumgartner war dafür das beste Beispiel.

Das Licht flackerte erneut, dann brannte es hell weiter.

Sie sahen einander an und stießen einen erleichterten Seufzer aus.

Im gleichen Moment erloschen alle Lichter gleichzeitig.

Kein Flackern dieses Mal. Einfach weg. Und auch alle Geräusche. Kein Brummen des Kühlschranks, kein Knacken der Heizkörper, kein Ticken einer Uhr. Sie saßen in völliger Stille am Tisch.

Noch drang Sonnenlicht durch die Küchenfenster. Aber es war schwach. Als müsste es sich furchtbar anstrengen hereinzuscheinen.

Bevor es ebenfalls erlosch.

Armand holte Streichhölzer und zündete die Sturmlampen an beiden Enden des Tischs an, während Myrna die Kerzen auf der Kücheninsel anzündete, die für alle Fälle dort standen.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Armand in der Tür zwischen Küche und Wohnzimmer.

Er sah das Feuer im Kamin und eine bereits brennende Laterne.

»Ja«, sagte Reine-Marie. »Damit war ja zu rechnen.«

»Wir sind fast fertig. Ich bin in ein paar Minuten bei dir.«

Er nahm zwei kleine Holzscheite von dem ordentlichen Stapel in der Küche und schob sie in den Ofen. Er war jetzt ihre wichtigste Wärmequelle. Noch kamen sie zurecht. Aber wenn der Stromausfall länger andauerte, vielleicht sogar Tage, und wenn die Temperaturen noch weiter sanken und ihnen das Holz ausging …

»Schön«, sagte Benedict und ließ seinen Blick von einem Lichtkreis zum anderen wandern.

»Machen wir Schluss für heute«, sagte Armand, und als Mercier protestierte, hievte Myrna sich einfach von ihrem Stuhl hoch und ging zu Reine-Marie ins Wohnzimmer.

Benedict folgte ihr.

Mit einer Geste lud Armand Mercier ein, sich ihnen anzuschließen. Nach kurzem Zögern stand der Notar widerwillig auf.

Sobald sie saß, fragte Myrna: »Wie sollen wir ein Testament vollstrecken, das offenkundig Unsinn ist? Wir können doch kein Geld verteilen, das gar nicht da ist.«

»Hat Madame Baumgartner gedacht, sie könnte mehr vererben, als sie tatsächlich besaß?«, fragte Reine-Marie.

»Etwa zwanzig Millionen«, sagte Myrna.

Reine-Marie schnitt eine Grimasse. »Da hat sie sich aber ganz schön verschätzt.«

»Sie gehen alle davon aus, dass sie das Geld nicht hatte«, sagte Mercier. »Aber vielleicht hatte sie es ja.«

»Glauben Sie das wirklich?«, fragte Armand.

»Conrad Cantzen.«

»Verzeihung?«

»Conrad Cantzen«, wiederholte der Notar. »Mein Vater hat mir von ihm erzählt. Monsieur Cantzen trat in den zwanziger Jahren als Komparse am Broadway auf. Er bettelte und wühlte im Abfall nach Essen, und als er starb, hinterließ er eine Viertelmillion Dollar. Das ist selbst heutzutage eine Menge Geld. Als er starb, war es ein Vermögen.«

Schweigend dachten sie über seine Worte nach.

»Man kann einfach nie wissen«, sagte Mercier.

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