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»Armand?«

Das Lächeln des Erkennens und der Erleichterung gefror auf ihren Lippen, als sie seine Miene sah.

Die Bewegung, mit der er sich ihr zuwandte, war beinahe aggressiv. Sein ganzer Körper war angespannt, bereit. Als wappnete er sich gegen einen Angriff.

Sie konnte zwar Gesichter lesen und Körpersprache deuten, auf seinen Gesichtsausdruck konnte sie sich jedoch keinen Reim machen. Außer dem Naheliegenden.

Überraschung.

Aber da war noch mehr. Viel mehr.

Und dann war es weg. Sein Körper entspannte sich, und sie sah, wie Armand ein einziges Wort in sein Handy sagte, eine Taste drückte und es dann wegsteckte.

Bevor Armand die Fassade der Höflichkeit darüber errichtete, zeigte sich etwas auf seinem Gesicht, das sie noch mehr erstaunte.

Schuld.

Und dann erschien das Lächeln.

»Myrna! Was tust du denn hier?«

Armand versuchte, eine erfreute Miene aufzusetzen, aber es fiel ihm schwer. Sein Gesicht war taub, beinahe eingefroren.

Er wollte nicht übertreiben und wie ein grinsender Idiot aussehen. Sich gegenüber dieser klugen Frau, die außerdem eine Nachbarin war, nicht verraten.

Myrna Landers war Psychologin im Ruhestand, führte den Buchladen in Three Pines und war mittlerweile eine gute Freundin von Reine-Marie und Armand Gamache.

Er vermutete, dass sie seine instinktive Reaktion bemerkt hatte. Und gleichzeitig nicht ganz durchschaute. Oder jemals erraten würde, mit wem er gesprochen hatte.

Er hatte sich völlig auf das Gespräch konzentriert. Auf seine Wortwahl. Darauf, was am anderen Ende gesagt wurde. Und in welchem Ton. Und darauf, seinen eigenen Ton zu kontrollieren. Er war so konzentriert gewesen, dass sich jemand von hinten hatte anschleichen können.

Gut, es war eine Freundin. Aber es hätte genauso gut keine Freundin sein können.

Erst als Kadett, dann als kleiner Beamter bei der Sûreté. Als Inspector. Als Leiter der Mordkommission und schließlich als Chef des gesamten Ladens hatte er stets wachsam sein müssen. Er hatte sich Wachsamkeit antrainiert, bis sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. Zu jeder Zeit, an jedem Ort.

Nicht dass er auf Schritt und Tritt mit Gefahren rechnete. Seine Wachsamkeit war einfach ein Teil seiner selbst, so wie seine Augenfarbe. So wie seine Narben.

Sie war Teil seiner DNA und gleichzeitig Ergebnis seiner Erfahrungen.

Das Problem bestand nicht darin, dass er in diesem Moment seine Wachsamkeit aufgegeben hatte. Im Gegenteil. Sie war so groß gewesen, so intensiv, dass ein paar entscheidende Minuten nichts anderes zu ihm durchgedrungen war. Er hatte den Motor des Autos nicht gehört. Er hatte die vom Schnee gedämpften Schritte nicht gehört.

Gamache war kein ängstlicher Mann, aber jetzt spürte er einen kurzen Anflug von Sorge. Dieses Mal war nichts Schlimmes passiert. Aber das nächste Mal?

Die Bedrohung musste nicht groß sein. Wenn sie groß wäre, würde er sie wahrnehmen.

Es war so gut wie immer etwas Kleines.

Ein übersehenes oder missverstandenes Zeichen. Ein blinder Fleck. Ein Moment der Ablenkung. Eine so ausschließliche Konzentration auf etwas Bestimmtes, dass alles andere in den Hintergrund trat. Eine falsche Annahme, die man für eine Tatsache hielt.

Und dann –

»Alles in Ordnung?«, fragte Myrna Landers, als Armand zu ihr trat und sie auf beide Wangen küsste.

»Ja, mir geht’s gut.«

Sie spürte die Kälte auf seinem Gesicht und die Feuchtigkeit des Schnees, der darauf geschmolzen war, und auch die Anpannung unter der heiteren Oberfläche.

Sein Lächeln grub tiefe Falten in seine Augenwinkel. Die braunen Augen selbst erreichte es nicht. Sie blieben wachsam, der Blick scharf, auch wenn noch immer Wärme darin lag.

»Gut«, hatte er gesagt, und trotz ihrer Besorgnis lächelte sie.

Es war ein Code, den sie beide verstanden, eine Anspielung auf ihre Nachbarin in Three Pines. Ruth Zardo. Eine begnadete Dichterin. Eine der berühmtesten des Landes. Nur verbarg sich ihr Talent unter einer nicht gerade dünnen Schicht Wahnsinn. Der Name Ruth Zardo wurde mit ebenso viel Bewunderung wie Furcht ausgesprochen. So als beschwöre man ein Wesen herauf, das sowohl schöpferisch als auch zerstörerisch war.

Ruths letzter Gedichtband hieß Mir geht’s G.U.T. Das klang nicht schlecht, bis man, oft zu spät, mitbekam, dass »G.U.T.« für Gallig, Unsicher, Todtraurig stand.

Ja, Ruth Zardo war vieles. Unter anderem nicht hier, zu ihrer beider Glück.

Armand bückte sich und hob die Fäustlinge auf, die von Myrnas mächtigem Schoß in den Schnee gefallen waren. Er schlug sie gegen seinen Anorak, bevor er sie ihr zurückgab. Dann bemerkte er, dass seine Handschuhe ebenfalls verschwunden waren, ging zu seinem Auto und fand sie dort schon halb unter dem frisch gefallenen Schnee begraben.

Aus dem zweifelhaften Schutz des Hauses heraus beobachtete der Mann all das.

Ohne jemals ein Wort mit der Frau, die gerade eingetroffen war, gewechselt zu haben, mochte er sie nicht. Sie war groß und schwarz und eben eine Frau. Nichts davon fand er attraktiv. Aber schlimmer noch war, dass Myrna Landers fünf Minuten zu spät gekommen war und statt ins Haus zu eilen und Entschuldigungen zu stammeln, stand sie herum und plauderte. Als würde er nicht warten. Als hätte er keinen genauen Zeitpunkt genannt.

Denn das hatte er.

Allerdings wurde sein Ärger ein wenig von der Erleichterung gemildert, dass sie überhaupt aufgetaucht war.

Er musterte die beiden. Es war ein Spiel, das er gerne spielte. Beobachten. Sich vorstellen, was die Leute als Nächstes taten.

Fast immer lag er falsch.

Myrna und Armand zogen jeder einen Brief aus der Tasche.

Sie verglichen die beiden Schreiben. Identisch.

»Das ist –«, sie sah sich um, »– ein bisschen seltsam, findest du nicht?«

Er nickte und folgte ihrem Blick zu dem maroden Haus.

»Kennst du die Leute?«, fragte er.

»Welche Leute?«

»Na die, die hier wohnen. Gewohnt haben.«

»Nein. Du?«

»Nein. Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte oder warum wir hier sind.«

»Ich habe unter der Nummer angerufen«, sagte Myrna. »Aber es hat niemand abgehoben. Es gab keine Möglichkeit, mit diesem Laurence Mercier in Kontakt zu treten. Er ist Notar. Schon mal von ihm gehört?«

»Nein. Aber eins weiß ich.«

»Was denn?« Myrna ahnte, dass sie gleich etwas Unschönes hören würde.

»Er ist vor sechs Monaten gestorben. An Krebs.«

»Was soll dann –«

Sie wusste nicht, wie sie fortfahren sollte, und verstummte. Sie blickte zum Haus, dann zurück zu Armand. Beide waren fast gleich groß, und auch sie sah in ihrem Daunenanorak dick aus, aber in ihrem Fall war es keine Täuschung.

»Du weißt, dass der Mann, der dir diesen Brief geschrieben hat, vor Monaten gestorben ist, und kommst trotzdem her«, sagte sie. »Warum?«

»Neugier«, sagte er. »Und du?«

»Na, ich wusste ja nicht, dass er tot ist.«

»Aber komisch fandest du es auch. Warum bist du also gekommen?«

»Aus demselben Grund. Neugier. Was soll schon Schlimmes passieren?«

Das war eine reichlich dumme Bemerkung, dachte selbst Myrna.

»Sobald Orgelmusik ertönt, hauen wir ab, Armand. Abgemacht?«

Er lachte. Wobei er natürlich wusste, dass immer etwas Schlimmes passieren konnte. Hunderte Male hatte er daneben gekniet.

Myrna legte den Kopf in den Nacken und starrte hinauf zum Dach, das unter dem Gewicht des seit Monaten fallenden Schnees durchhing. Sie sah die gesprungenen und fehlenden Fensterscheiben und blinzelte, als große, sanfte, unerbittliche Schneeflocken auf ihr Gesicht fielen und ihre Augen trafen.

»Glaubst du, dass es gefährlich ist?«, fragte sie.

»Wahrscheinlich nicht.«

»Wahrscheinlich?« Ihre Augen weiteten sich ein wenig. »Du hältst es für möglich?«

»Vermutlich kommt die einzige Gefahr von dem Haus selbst.« Er deutete mit dem Kopf auf das durchhängende Dach und die schiefen Mauern. »Und nicht von jemandem darin.«

Sie gingen darauf zu. Als er den Fuß auf die erste Stufe setzte, brach sie durch. Er warf Myrna unter hochgezogenen Augenbrauen einen Blick zu, und sie lächelte.

»Das liegt eher an zu vielen Croissants als am morschen Holz«, sagte sie, und er lachte.

»Da hast du recht.«

Einen Moment lang hielt er inne, betrachtete die Stufen, dann das Haus.

»Du bist dir nicht ganz sicher, ob es nicht doch gefährlich ist, oder?«, fragte sie. »Entweder das Haus oder derjenige, der sich darin aufhält.«

»Nein«, gab er zu. »Ich weiß es nicht. Möchtest du lieber hier draußen warten?«

Ja, dachte sie.

»Nein«, sagte sie und folgte ihm hinein.

»Maître Mercier.« Mit ausgestreckter Hand kam ihnen der Mann entgegen.

»Bonjour«, sagte Gamache, der zuerst eingetreten war. »Armand Gamache.«

Mit einem raschen Blick musterte er seine Umgebung, beginnend mit dem Mann.

Klein, schlank, weiß. Mitte vierzig.

Lebendig.

Der Strom im Haus war abgestellt worden und damit auch die Heizung, sodass die Luft eisig und muffig war. Wie in einem Kühlraum.

Der Notar hatte seinen Mantel anbehalten, und Armand sah, dass er Schmutzränder hatte. Der Anorak von Armand allerdings auch. Im Québecer Winter war es nahezu unmöglich, in ein Auto zu steigen oder es zu verlassen, ohne sich mit Matsch und Salz zu beschmutzen.

Aber der Mantel von Maître Mercier hatte nicht nur Schmutzränder, er hatte auch Flecken. Und war abgetragen.

Der Mann wirkte etwas verwahrlost. So schäbig wie seine Kleidung. Zugleich umgab ihn jedoch etwas Gravitätisches, beinahe Hochmütiges.

»Myrna Landers«, sagte Myrna, trat vor und streckte ihm die Hand entgegen.

Maître Mercier nahm sie, ließ sie aber sofort wieder los. Es war eher ein kurzes Streifen als ein Händeschütteln.

Gamache bemerkte, dass sich Myrnas Haltung verändert hatte. Sie wirkte nicht mehr ängstlich, vielmehr sah sie mit einem fast mitleidigen Blick auf ihren Gastgeber.

Es gab Menschen und Tiere, die automatisch eine solche Reaktion hervorriefen. Diese Fähigkeit war genauso wirkungsvoll wie ein Abwehrpanzer, ein giftiger Stachel oder schnelle Beine.

Es war die Fähigkeit, so hilflos und bedürftig zu wirken, dass man keine Bedrohung in ihnen sah. Manchmal wurden sie sogar adoptiert. Beschützt. Versorgt. Aufgenommen.

Und fast immer bereute man es.

Es war noch zu früh, um zu sagen, ob Maître Mercier ein solcher Mensch war, aber er rief diese Reaktion hervor, selbst bei einer derart erfahrenen und scharfsinnigen Frau wie Myrna Landers.

Selbst bei ihm, bemerkte Gamache. Er spürte, wie seine Wachsamkeit in der Gegenwart dieses traurigen kleinen Mannes nachließ.

Aber nicht völlig.

Gamache nahm seine Mütze ab, strich über seine grauen Haare, sah sich um.

Die Haustür führte direkt in die Küche, wie es in Farmhäusern oft der Fall war. Das Mobiliar schien aus den Sechzigern zu stammen. Vielleicht sogar aus den Fünfzigern. Die Schränke waren aus Sperrholz, das in einem fröhlichen Kornblumenblau gestrichen war, das gelbe Laminat der Arbeitsflächen war zerschrammt und der Linoleumboden abgetreten.

Alles von Wert war verschwunden. Die Armaturen waren abmontiert, und bis auf eine mintgrüne Uhr über der Spüle, die vor langer Zeit stehen geblieben war, hing nichts an den Wänden.

Kurz stand ihm ein Bild vor Augen, wie der Raum vielleicht einmal ausgesehen hatte. Alles glänzte, nicht neu, aber sauber und gepflegt. Leute gingen hin und her, bereiteten ein Essen für Thanksgiving oder Weihnachten vor. Kinder jagten herum wie wilde Fohlen, und Eltern versuchten, sie zu zähmen. Um dann aufzugeben.

Er bemerkte Striche am Türstock. Zur Markierung der Größe. Bevor die Zeit stehen geblieben war.

Ja, dachte er, dieser Raum, dieses Haus war einmal heiter gewesen. Fröhlich.

Wieder sah er ihren Gastgeber an. Den Notar, der existierte und doch nicht existierte. War das sein Zuhause gewesen? War er hier einmal heiter und fröhlich gewesen? Wenn, dann war davon nichts mehr zu spüren. Auch das war verschwunden.

Maître Mercier lud sie mit einer Geste ein, am Küchentisch Platz zu nehmen. Sie setzten sich.

»Bevor wir anfangen, würde ich Sie bitten, das hier zu unterzeichnen.«

Mercier schob Gamache ein Blatt Papier zu.

Armand lehnte sich zurück, weg von dem Papier. »Bevor wir anfangen«, sagte er, »würde ich gerne wissen, wer Sie sind und warum wir hier sind.«

»Das möchte ich auch gerne wissen«, sagte Myrna.

»Zu gegebener Zeit«, sagte Mercier.

Das war eine seltsame Antwort, zum einen, weil es eine so formelle und altmodische Wendung war, zum anderen, weil er ihnen ihre Bitte damit rundweg abschlug. Eine Bitte, die nachvollziehbar war und von Leuten kam, die keineswegs hier hätten sein müssen.

Mercier sprach und sah aus wie eine Figur aus einem Dickens-Roman. Allerdings nicht der Held. Gamache fragte sich, ob Myrna dasselbe dachte.

Der Notar legte einen Stift auf das Papier und nickte Gamache auffordernd zu, der den Stift allerdings nicht nahm.

»Hören Sie«, sagte Myrna, legte ihre große Hand auf die von Mercier und spürte das Zucken darin. »Mein Lieber.« Ihre Stimme war ruhig, warm, klar. »Wenn Sie die Frage nicht beantworten, werde ich gehen. Und das wollen Sie vermutlich nicht.«

Gamache schob das Blatt Papier wieder zurück zu dem Notar.

Myrna tätschelte Merciers Hand, und Mercier starrte sie an.

»Also«, sagte sie. »Wie kommt es, dass Sie von den Toten wiederauferstanden sind?«

Mercier sah sie an, als wäre sie die Verrückte, dann wandte er den Kopf ab, und Gamaches und Myrnas Augen folgten seinem Blick zum Fenster hinaus.

Ein drittes Auto war vorgefahren. Ein Pick-up. Ein junger Mann sprang heraus, seine Fäustlinge fielen in den Schnee. Aber er beugte sich rasch hinunter und hob sie auf.

Armand fing Myrnas Blick auf.

Der Neuankömmling trug eine rot-weiß gestreifte Zipfelmütze mit einem Bommel am Ende. Sie war so lang, dass sie ihm vom Rücken baumelte und der Bommel über den Schnee schleifte, als er von seinem Pick-up wegtrat.

Der junge Mann bemerkte es, nahm den Zipfel und wickelte ihn wie einen Schal einmal um seinen Hals, bevor er ihn sich mit Verve über die Schulter warf. Myrna konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Wer er auch war, er war so erfrischend, wie ihr toter Gastgeber verstaubt war.

Dr. Seuss trifft auf Charles Dickens.

Ein Kater macht Theater trifft auf Bleak House.

Ein Klopfen, dann trat er ein. Er sah sich um, seine Augen blieben an Gamache hängen, der aufgestanden war.

»Allô, bonjour«, sagte der fröhliche junge Mann. »Monsieur Mercier?«

Er streckte die Hand aus. Gamache ergriff sie.

»Nein. Armand Gamache.«

Sie schüttelten Hände. Die Hand des jungen Mannes war schwielig und sein Händedruck fest und freundlich. Selbstbewusst, entspannt.

»Benedict Pouliot. Salut. Ich hoffe, ich bin nicht zu spät. Der Verkehr über die Brücke ist echt heftig.«

»Das ist Maître Mercier«, sagte Gamache und machte einen Schritt zur Seite, damit er den Notar sah.

»Hallo, Sir«, sagte der junge Mann und schüttelte dem Notar die Hand.

»Und ich bin Myrna Landers«, sagte Myrna, gab ihm die Hand und lächelte, ein klein wenig zu breit, dachte Armand.

Obwohl es nicht leichtfiel, diesen gutaussehenden jungen Mann nicht anzulächeln. Nicht weil man sich über ihn amüsierte. Sondern weil er umgänglich wirkte und völlig ungekünstelt zu sein schien. Sein strahlender Blick war aufmerksam.

Benedict nahm seine Mütze ab und strich sich die blonden Haare glatt, die auf eine Art geschnitten waren, die Myrna noch nie gesehen hatte und die sie auch nie wieder sehen wollte. Oben auf dem Kopf waren die Haare raspelkurz, ab den Ohren hingen sie lang herunter. Sehr lang.

»So«, sagte er und rieb erwartungsvoll die Hände aneinander, vielleicht aber auch, weil es so kalt war. »Wo fangen wir an?«

Sie sahen alle Mercier an, der weiterhin Benedict anstarrte.

»Es ist mein Haarschnitt, oder?«, sagte der junge Mann. »Den hat mir meine Freundin verpasst. Sie macht gerade einen Stylistenkurs, und für die Abschlussprüfung musste sie eine neue Frisur kreieren. Gefällt’s Ihnen?«

Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, während die anderen schwiegen.

»Sieht toll aus«, sagte Myrna und bestätigte damit Armand, dass Liebe oder Schwärmerei tatsächlich blind machte.

»Hat sie auch Ihre Mütze gemacht?«, fragte Armand und deutete auf den riesigen rot-weißen Haufen aus feuchter Wolle am Ende des Tischs.

»Ja. Abschlussarbeit in ihrem Designkurs. Schön, was?«

Armand grunzte unbestimmt, zumindest hoffte er das.

»Sie haben mir den Brief geschickt, Sir, oder?«, sagte Benedict zu Mercier. »Wollen Sie mich zuerst herumführen oder sollen wir gleich die Pläne ansehen? Gehört das Haus Ihnen?«, fragte er Armand und Myrna. »Ehrlich gesagt bin ich nicht sicher, ob man es retten kann. Es ist in einem ziemlich miserablen Zustand.«

Gamache und Myrna sahen sich an, als ihnen klar wurde, was er meinte.

»Wir sind kein Paar«, sagte Myrna lachend. »Wir wurden genau wie Sie von Maître Mercier hierher eingeladen.«

Myrna und Armand zogen ihre Briefe heraus und legten sie auf den Tisch.

Benedict beugte sich kurz darüber, dann richtete er sich wieder auf. »Das versteh ich nicht. Ich dachte, ich sollte wegen eines möglichen Auftrags kommen.«

Er legte seinen Brief auf den Tisch. Bis auf den Namen und die Adresse war er mit den anderen beiden identisch.

»Was machen Sie denn?«, fragte Myrna, und Benedict reichte ihr eine Visitenkarte.

Sie war blutrot, diamantförmig und mit etwas Unlesbarem bedruckt.

»Von Ihrer Freundin?«, fragte Myrna.

»Ja. Aus dem Businesskurs.«

»Abschlussarbeit?«

»Ja.«

Myrna reichte die Karte Gamache, der seine Lesebrille aufsetzen und die Visitenkarte zum Fenster halten musste, um überhaupt etwas erkennen zu können.

»Benedict Pouliot. Baufachmann«, las er laut vor. »Da steht keine Telefonnummer oder E-Mail-Adresse.«

»Nein. Das hätte Punktabzug gegeben. Geht’s hier jetzt um einen Auftrag oder nicht?«

»Nein«, sagte Mercier. »Setzen Sie sich.«

Benedict setzte sich.

Eher wie ein Welpe als eine Katze, dachte Gamache, als er neben Benedict Platz nahm.

»Warum sollte ich dann herkommen?«, fragte Benedict.

»Das haben wir auch gerade gefragt«, sagte Myrna, die ihren Blick von Benedict losriss und wieder auf den Notar richtete.

Auf einem einsamen Weg

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