Читать книгу Auf einem einsamen Weg - Louise Penny - Страница 5
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Оглавление»Nennen Sie bitte Ihren Namen.«
»Sie kennen meinen Namen, Marie«, sagte Jean-Guy. »Wir haben mehrere Jahre zusammengearbeitet.«
»Bitte, Sir«, sagte sie mit freundlicher, aber fester Stimme.
Jean-Guy starrte sie an, dann sah er zu den beiden anderen Beamten im Sitzungszimmer.
»Jean-Guy Beauvoir.«
»Rang?«
Er bedachte sie mit einem genervten Blick, den sie gelassen erwiderte.
»Kommissarischer Leiter der Mordkommission der Sûreté du Québec.«
»Merci.«
Sie warf einen Blick auf den Laptop, der vor ihr stand, dann wandte sie sich wieder ihm zu.
»Hier geht es nicht um Sie, falls Sie das beruhigt.« Sie lächelte, er nicht. »Ihre Suspendierung wurde vor einigen Monaten aufgehoben. Wir haben allerdings nach wie vor ein paar Fragen, was die Entscheidungen und das Vorgehen von Monsieur Gamache angeht.«
»Chief Superintendent Gamache«, sagte Beauvoir. »Und warum gibt es da noch immer Fragen? Sie haben ihn vernommen, und er hat Ihnen Rede und Antwort gestanden. Inzwischen müsste doch jeder Zweifel ausgeräumt sein. Es ist fast ein halbes Jahr her. Das sollte doch wirklich langsam reichen.«
Wieder sah er zu den beiden Beamten, die er immer noch als Kollegen betrachtete. Dann wieder zu ihr. Sein Blick war mittlerweile weniger feindselig als verwundert.
»Was wollen Sie eigentlich?«
Jean-Guy hatte an vielen solchen Befragungen teilgenommen und geglaubt, die Situation im Griff zu haben, weil er wusste, dass sie alle dasselbe Interesse hatten. Aber als sie ihn jetzt von der anderen Seite des Tischs ansahen, wurde ihm klar, dass er sich getäuscht hatte.
Er hatte den Raum in der Annahme betreten, es ginge nur noch um Formalitäten. Ein letztes Gespräch, und dann würde auch der Chef entlastet sein und auf seinen Posten zurückkehren.
Die Atmosphäre war tatsächlich freundlich, fast freundschaftlich gewesen. Anfangs.
Beauvoir war sicher, sie würden ihm mitteilen, dass eine Erklärung in Vorbereitung sei, wonach eine gründliche Untersuchung stattgefunden habe. Außerdem würde darin das Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht werden, dass die verdeckte Operation der Sûreté im letzten Sommer in einem Blutbad geendet hatte.
Aber schlussendlich würden sie ihre Unterstützung für die unkonventionellen und mutigen Entscheidungen von Chief Superintendent Gamache zum Ausdruck bringen. Ebenso ihre unerschütterliche Unterstützung für das Sûreté-Team bei dieser letztlich überaus erfolgreichen Operation. Isabelle Lacoste, die Leiterin der Mordkommission, würde belobigt werden. Sie hatte vielen Menschen das Leben gerettet und dafür einen hohen Preis bezahlt.
Dann würde alles vorbei sein.
Chief Superintendent Gamache würde seine Arbeit wieder aufnehmen, und alles würde wieder seinen normalen Gang gehen.
Beunruhigend war lediglich der Umstand, dass die im Sommer begonnene Untersuchung noch immer, bis weit in den Québecer Winter hinein, andauerte.
»Sie waren der Stellvertreter Ihres Schwiegervaters, als die Entscheidungen hinsichtlich der hier untersuchten Operation getroffen wurden, nicht wahr?«
»Ja, ich habe mit Chief Superintendent Gamache zusammengearbeitet. Das wissen Sie.«
»Ja. Ihrem Schwiegervater.«
»Meinem Chef.«
»Ja. Dem Verantwortlichen. Das wissen wir, Chief Inspector, aber danke für die Klarstellung.«
Die anderen nickten. Mitleidig. Voller Verständnis dafür, dass Beauvoir sich in einer schwierigen Lage befand.
Erstaunt begriff Beauvoir, dass sie erwarteten, er würde sich von Gamache distanzieren.
Es fiele ihm leichter, sich von einem Arm oder Bein zu trennen. Seine Position war kein bisschen schwierig. Im Gegenteil, sie war ganz einfach. Er stand zu Gamache.
Aber langsam schwante ihm Böses.
»Keiner von uns hat sich schuldig gemacht, mon vieux«, hatte Gamache vor Monaten gesagt, als die unvermeidliche Untersuchung begonnen hatte. »Das weißt du. Nach allem, was geschehen ist, müssen sie diese Fragen stellen. Kein Grund zur Sorge.«
Nicht schuldig, hatte sein Schwiegervater gesagt. Nicht gesagt hatte er, dass sie unschuldig waren. Was ja auch nicht richtig gewesen wäre.
Jean-Guy Beauvoir war entlastet worden und hatte die kommissarische Leitung der Mordkommission übernommen.
Die Suspendierung von Chief Superintendent Gamache war jedoch nicht aufgehoben worden. Trotzdem war Beauvoir zuversichtlich gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit war.
»Diese letzte Befragung noch«, hatte er an diesem Morgen zu seiner Frau gesagt, als sie ihren Sohn gefüttert hatten, »und dein Vater wird entlastet sein.«
»Hm-hm«, sagte Annie.
»Was?«
Er kannte seine Frau gut. Sie war zwar Anwältin, aber es gab wohl kaum einen Menschen, der weniger zynisch war als sie. Jetzt spürte er ihre Zweifel.
»Das zieht sich schon so lange hin. Ich habe einfach Angst, dass die Sache zu einem Politikum wird. Sie brauchen einen Sündenbock. Dad hat eine Tonne Opioide die Grenze passieren lassen. Er hätte sie aufhalten können. Jemandem müssen sie die Schuld geben.«
»Aber das meiste hat er doch zurückgeholt. Außerdem hatte er gar keine andere Wahl. Wirklich.« Er stand auf und küsste sie. »Im Übrigen war’s keine Tonne.«
Honoré warf mit einem Batzen Haferschleim, der Jean-Guys Wange traf und von dort auf Annies Kopf plumpste. Er zupfte ihn aus ihren Haaren, betrachtete ihn, dann steckte er ihn sich in den Mund.
»Du hättest einen prima Gorilla abgegeben«, sagte Annie.
Jean-Guy befingerte ihren Kopf, als wäre er ein Gorilla, der einen Artgenossen laust, während Annie lachte und Honoré mit noch mehr Haferschleim warf.
Annie würde vermutlich nie die schönste Frau in irgendeiner Runde sein. Kein Fremder würde ihr einen zweiten Blick schenken.
Doch wenn er es tat, dann würde er vielleicht etwas sehen, was Jean-Guy erst nach vielen Jahren und einer gescheiterten Ehe bemerkt hatte. Wie wunderschön Glück war. Und Annie Gamache strahlte Glück aus.
Daher würde sie nicht nur immer der klügste Mensch weit und breit sein, sondern eben auch der schönste, davon war er zutiefst überzeugt. Und wer das nicht sah, hatte eben Pech.
Er hob Honoré aus seinem Hochstuhl und ging mit ihm auf dem Arm zur Tür.
»Viel Spaß«, sagte er und gab beiden einen Kuss.
»Einen Moment noch«, sagte Annie.
Sie nahm Jean-Guy das Lätzchen ab, wischte ihm das Gesicht und sagte: »Sei vorsichtig. Du steckst da mit drin.«
»Du meinst, mit in der Scheiße?« Jean-Guy schüttelte den Kopf. »Nein. Die Angelegenheit findet heute ein Ende. Ich glaube, sie müssen einfach nur sagen können, dass es eine gründliche Untersuchung gegeben hat. Und die gab es ja auch. Aber nach einem genaueren Blick auf die Sachlage werden sie deinem Vater dafür danken, dass er das getan hat. Sie werden begreifen, dass er vor einer total beschissenen Entscheidung stand und getan hat, was getan werden musste.«
»Bitte keine Kraftausdrücke vor dem Kleinen. Du willst doch nicht, dass sein erstes Wort Scheiße ist«, sagte sie. »Aber ich gebe dir recht. Dad hatte keine andere Wahl. Nur werden sie das vielleicht anders sehen.«
»Dann sind sie blind.«
»Nein, nur Menschen«, sagte Annie und nahm ihm Honoré ab. »Und Menschen müssen sich irgendwo verstecken können. Vermutlich verstecken sie sich hinter Dad. Und bereiten sich darauf vor, ihn den Löwen zum Fraß vorzuwerfen.«
Beauvoir ging schnellen Schritts zur U-Bahn und zu der, wie er meinte, letzten internen Vernehmung, bevor endlich wieder Alltag einkehrte.
Er hielt den Kopf gebeugt, konzentrierte sich auf den Bürgersteig und die weiche, dünne Schneeschicht, die das Eis darunter verbarg.
Ein falscher Schritt konnte schlimm enden. Ein verknackster Knöchel. Eine gebrochene Hand, mit der man den Sturz hatte abfangen wollen. Ein Schädelbasisbruch.
Es war immer das nicht Nichtsichtbare, was einem Schaden zufügte.
Und als er jetzt in dem Sitzungszimmer saß, fragte sich Jean-Guy Beauvoir, ob Annie recht gehabt hatte und er tatsächlich etwas übersehen hatte.