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Kapitel 9: Besucher

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Ich saß in meinem Zimmer. Der Tag war lang und ereignisreich gewesen. Vor lauter Aufregung hatte ich keinen Gedanken an meine Eltern verschwendet, bis Tante Rosie in ihrem Lamento die beiden erwähnt hatte.

Vor mehr als zwei Tagen waren sie abgereist. Ich schaltete meinen Computer an und startete mein Mail-Programm. Neben einem ganzen Berg überflüssiger Werbung fand ich eine Nachricht von Kathi. Sie fragte, ob es mir gut gehe, nach dem Schreck vom Vormittag und ob ich ihr die Mathehausaufgaben schicken könnte. Hausaufgaben! Die hatte ich völlig vergessen! Ich antwortete kurz, alles sei bestens, könne ihr aber die Aufgaben nicht schicken, da ich den ganzen Nachmittag verschlafen hätte. Den Grund dafür ließ ich lieber unerwähnt.

Ich durchsuchte noch einmal die Mailbox. Vielleicht hatte ich ja die Nachricht meiner Eltern übersehen. Nichts war zu finden. Komisch. Ich schrieb eine kurze Mail an meine Mutter: „Hallo, seid ihr gut angekommen?”, und schickte sie ab.

Seufzend lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und sah auf die Uhr. Es war schon nach zehn Uhr abends, aber es half nichts; ich musste mich noch an meine Hausaufgaben machen. Suchend blickte ich mich um, konnte aber meine Schultasche nicht finden. Dann erinnerte ich mich. Ich hatte sie im Garten neben meinem Liegestuhl stehen lassen.

Im Garten war es stockdunkel. Ich stand auf der Terrasse und versuchte auf der Wiese den Liegestuhl und den Tisch auszumachen, an denen meine Schulsachen sein mussten. Außer ein paar schwachen schemenhaften Umrissen war nichts zu erkennen. Wollte ich mir nicht auch noch zum krönenden Abschluss des Tages einen Knöchel verstauchen, so war es besser, eine Taschenlampe zu holen. Ich drehte mich um, und mein Blick fiel in den Hausflur. Wahrscheinlich war das Verletzungsrisiko größer, wenn ich versuchte, inmitten des herrschenden Chaos eine Taschenlampe zu finden. Also musste es auch ohne gehen.

Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und ertastete die Treppe, die von der Terrasse hinunter auf die Wiese führte. Nach zwölf zaghaften Schritten spürte ich Gras unter meinen Füßen und wandte mich in Richtung Gartenmobiliar.

Ein dunkler Schatten huschte wenige Meter vor mir über den Rasen. Ich war mir nicht sicher, aber von der Größe her konnte es Wotan gewesen sein. Wer sollte es auch sonst sein? Wahrscheinlich war er hinter mir aus der Tür heraus in den Garten entwischt, um noch mal das Beinchen zu heben.

„Wotan?”, flüsterte ich, um mich im nächsten Moment über mich selber zu ärgern. Was gab es für einen Grund zu flüstern? Schließlich war ich hier zu Hause.

„Wotan, komm her!”, wiederholte ich noch einmal mit fester Stimme, während ich mich weiter dem Liegestuhl näherte.

Der Schatten verschwand und ich erhielt keine Reaktion. Wahrscheinlich hatte ich mir alles nur eingebildet.

Vorsichtig tastete ich mich über den Rasen. Es war so dunkel, dass ich meine Füße beim Gehen nicht sehen konnte. Endlich stieß ich gegen etwas Hartes, das sich als Gartentisch entpuppte. Der Liegestuhl musste sich gleich daneben befinden. Ich tastete hinüber und zog erschrocken und mit einem schrillen Schrei meine Hand zurück. Sie hatte etwas Haariges gestreift. Starr vor Schreck blieb ich regungslos stehen. War der Schatten doch keine Einbildung gewesen? Eigentlich konnte es sich nur um Wotan handeln.

Diesmal flüsterte ich vor Angst.

„Wotan? Bist du das?“

Ein leises Rascheln war die Antwort, dann war es vollkommen still. Mehr und mehr kam ich zu der Erkenntnis, dass es nicht das Fellmonster war. Wotan war außer Stande, vollkommen geräuschlos irgendwo zu verharren. Sein Hecheln oder zumindest sein Atmen, hätten ihn verraten; mal ganz davon abgesehen, dass er es nicht aushielt, sich nicht in regelmäßigen Abständen ausgiebig zu kratzen.

Zu meiner großen Erleichterung gingen plötzlich die Scheinwerfer auf der Terrasse an. Warum hatte ich nicht selbst daran gedacht, diese anzuschalten. Tante Rosie kam heraus und rief: „Mia, bist du das da draußen?“

„Ich bin hier, Tante Rosie.“

„Was, um alles in der Welt, machst du im stockdunklen Garten?“

„Ich habe meine Schultasche hier vergessen.“

Der Schein der starken Lampen beleuchtete schwach die Wiese, so dass ich meinen Rucksack hinter der Rückenlehne der Liege ausmachen konnte. Rasch beugte ich mich vor und ergriff ihn.

Mit schnellen Schritten überquerte ich den Rasen und betrat das Wohnzimmer. Tante Rosie saß in Vaters Fernsehsessel, neben ihr lag Wotan und schlief selig.

„Musst du jetzt etwa noch Hausaufgaben machen?“ Tante Rosie sah mich an.

„Ja, leider.“

„Au weia, Kindchen. Kannst du das nicht auf morgen verschieben?“

„Leider nicht, ich habe direkt in der ersten Stunde Mathe. Bis dahin müssen die Aufgaben fertig sein. Sag mal Tante Rosie, glaubst du, dass es hier in der Gegend Wölfe gibt?“

„Wölfe? Wie kommst du denn darauf? Bestimmt nicht in eurem Garten.“

„War nur so eine Idee“, antwortete ich.

Ich ließ Tante Rosie und Wotan zurück und ging hinauf in mein Zimmer.

Widerstrebend zog ich mein Matheheft aus der Tasche und legte es auf den Schreibtisch. Der Aufgabenzettel fiel heraus. Ich sah mir die erste Aufgabe an und begann gähnend mit der Lösung. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich noch über meinen Hausaufgaben einschlafen. Glücklicherweise waren die Aufgaben nicht besonders anspruchsvoll und ich kam schnell voran. Nach etwa 20 Minuten war ich bei der letzten angelangt, als plötzlich ein Schrillen meines Computers eine neue Mail ankündigte.

Ich öffnete das Mail-Programm und fand eine Nachricht von meinen Eltern: „Hallo Mia, mach die Webcam an.“ Schnell schaltete ich die Kamera an und öffnete das entsprechende Programm, um übers Internet Kontakt zu meinen Eltern aufzunehmen. Gebannt starrte ich auf den Bildschirm, während das Programm hochfuhr. Und da waren sie: Meine Eltern am Ende der Welt. Sie sahen eigentlich ganz normal aus, nicht so, wie ich mir Polarforscher vorgestellt hatte. Beide trugen dunkelblaue Pullover über einer Jeans und hatten weder verfrorene Nasen noch rote Ohren.

„Hallo Mia“, begrüßte mich mein Vater und meine Mutter winkte mir zu.

„Hallo ihr zwei“, grüßte ich zurück und merkte, dass ich sehr froh war, meine Eltern wohlbehalten zu sehen.

„Seid ihr wirklich am Südpol? Ihr seht gar nicht danach aus.“

„Zum Glück ist die Station gut geheizt“, gab meine Mutter lächelnd zur Antwort.

„Du musst dir keine Sorgen machen, dass wir frieren müssen.“

„Nur wenn wir rausgehen, müssen wir uns warm anziehen; dann ist es fast minus 30 Grad.“

Alleine bei diesem Gedanken musste ich frösteln. „Na, dafür habt ihr ja genug Ausrüstung mitgenommen!“

Es war ein komisches Gefühl, so mit meinen Eltern zu reden. Das Bild der beiden war zwar leidlich gut, aber die Bewegungen der beiden waren sehr ruckhaft, da die Übertragung nur ungenügend war. Wahrscheinlich hatten sie auch kein besseres Bild von mir.

„Mia, erzähl mal, wie es dir geht! Hat mit Tante Rosie alles gut geklappt? Habt ihr euch schon etwas aneinander gewöhnt?“ wollte meine Mutter wissen.

Was sollte ich erzählen? Dass Tante Rosie mit einem Tag Verspätung eingetroffen war, dann unser Haus weitgehend mit ihren Sachen verwüstet hatte, ich fast an einem Stück Schinken erstickt wäre und schließlich ein Opfer von Tante Rosies Trinkgewohnheiten geworden war?

„Ja, es ist alles in bester Ordnung. Tante Rosie ist okay.“

„Prima, wir hatten uns doch etwas Sorgen gemacht, ob ihr beide miteinander auskommt.“

„Nein, nein, sie ist wirklich nett“, versicherte ich schnell und stellte fest, dass ich das auch tatsächlich so meinte.

Meine Mutter starrte mit einem Mal angestrengt auf ihren Bildschirm.

„Ist was, Mom?”, fragte ich.

„Sag mal, hast du Besuch bei dir?”, wollte sie wissen.

„Nein, wie kommst du darauf? Ich bin alleine. Es ist ja auch schon fast halb zwölf.“

„Aber es sieht so aus, als säße jemand auf deinem Sofa.“

Das Sofa stand in meinem Rücken an der Zimmerwand. Unsicher drehte ich mich um. Zwei bunte Kissen lagen darauf, ansonsten war es leer.

„Nein, hier ist niemand“, schüttelte ich den Kopf.

Nun beugte sich auch mein Vater vor und studierte das Bild, das von mir auf seinem Bildschirm erschien.

„Mama hat Recht. Es sieht tatsächlich so aus, als ob jemand auf deinem Sofa säße.“

Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter, als ich mich aufs Neue umdrehte. Wie zu erwarten, war niemand zu sehen.

Ich drehte mich zurück zu meinem Computerbildschirm.

„Nein, hier ist nichts“, konnte ich gerade noch herausbringen. Das „zu sehen“ kam schon nicht mehr am Südpol an, denn unvermittelt wurde mein Bildschirm nach und nach schwarz und meine Mutter und mein Vater verschwanden vor meinen Augen.

„Mist“, brachte ich enttäuscht hervor und hämmerte auf die Tasten meines Rechners. Der Bildschirm blieb schwarz. Ich schüttelte die Webcam und überprüfte, ob das Kabel noch richtig angeschlossen war, doch das Gespräch blieb beendet.

Seufzend wandte ich mich um und mein Blick fiel auf mein Sofa. Wie waren sie nur darauf gekommen? Vielleicht ein Schatten, der die Illusion einer Person hervorgerufen hatte? Zögernd erhob ich mich. Hatte ich jetzt schon Angst vor meinem eigenen leeren Sofa? Das ging zu weit. Entschlossen machte ich drei Schritte und ließ mich dann energisch darauf fallen.

Es war leer- definitiv leer!

Krötenküssen

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