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Kapitel 1: Änderungen

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Für Gnomi

- mein zauberhaftes Wesen

Es war zu Ostern, als sich mein Leben änderte.

Mal wieder änderte.

Die letzte Änderung war noch nicht so besonders lange her gewesen. Aus Hamburg, dieser supergeilen Stadt, war ich von meinen Eltern nach Bayern in die Provinz verschleppt worden. Verschleppt - anders konnte man es beim besten Willen nicht bezeichnen.

Meine Mutter und mein Vater waren Professoren.

Beide.

Für Geologie.

Ging es noch langweiliger?

Bis vor kurzem noch in Hamburg und nun an der Uni in München. Und ich – ich ging nun auf dieses Provinzgymnasium in diesem Provinzkaff, weil meine Eltern zwar in der Großstadt arbeiten, aber nicht wohnen wollten.

Klar, meinen Eltern machte das nichts aus. Die waren total vertieft in ihre Forschung, fuhren täglich zur Universität oder zu Konferenzen und waren nur selten zu Hause.

Aber zu Ostern hatten sie es tatsächlich mal alle beide geschafft, anwesend zu sein. Auch wenn für Familienleben bei uns wenig Zeit blieb, und ich es ihnen nicht wirklich verzieh, dass ich meine Freunde, meine Schule, meine Stadt, zurücklassen musste, so waren sie doch insgesamt ganz in Ordnung und ich freute mich tatsächlich irgendwie darüber, dass wir nun zusammen ein paar Tage verbringen würden.

Und so saßen wir am Ostersonntag am Frühstückstisch auf der Terrasse vor unserem Haus in der Sonne und blickten auf Wiesen und Wälder und auf die Berge, die sich in der Ferne als helle Silhouetten abzeichneten. Präziser formuliert: wir blickten ins Nichts, denn unser Haus lag nicht nur in einem winzigen Kaff, es lag, um das Maß voll zu machen, auch noch total einsam am Ortsrand. Wir hatten noch nicht mal Nachbarn, denn selbst der steinalte Bauernhof, der ein paar hundert Meter weiter neben unserem Garten lag, stand schon seit langem leer und war total verfallen. Die Einheimischen nannten ihn den Eulenhof, aber ich hatte noch nie eine zu Gesicht bekommen. Aber auch ohne Eulen war das tote Gemäuer irgendwie total gruselig.

Obwohl es schon zehn Uhr morgens war, griff meine Mutter noch immer schlaftrunken nach der Kanne und schenkte sich Kaffee ein.

„Ich glaube, ich hatte etwas zu wenig Schlaf in den vergangenen Tagen”, sagte sie mit einer vor Müdigkeit rauen Stimme.

Das konnte hinkommen, wenn man bedachte, dass sie erst am Abend zuvor von einer Konferenz in Tokio zurückgekehrt war und davor, glaubte ich mich zu erinnern, in Toronto einen Vortrag gehalten hatte.

Über den Rand ihrer Kaffeetasse blickte sie über den Tisch und nickte meinem Vater und mir anerkennend zu. „Wie schön, dass ihr beide ein paar Ostereier aufgetrieben habt.“ Sie sah auf die lila-blau gefärbten Eier und lächelte mich an.

„Ich musste improvisieren“, antwortete ich und erklärte: „Leider hatte ich vergessen, Farbe zu kaufen. Zum Glück habe ich noch ein paar Reste vom letzten Jahr gefunden. Die habe ich gemischt. Daher das ausgefallene Design“.

Mein Vater nahm sich ein Ei und begann es abzuschälen.

„Die sehen doch gut aus“, meinte er beiläufig, ohne wirklich auf die Farbe zu achten und schob das ganze Teil in seinen Mund, kaute und schwieg.

Die beiden waren heute Morgen ja echte Stimmungskanonen!

Normalerweise quatschten sie mich immer tot mit irgendwelchen Geschichten über irgendwelche Gesteinsschichten, die aus irgendwelchen Gründen total spektakulär waren. Doch an diesem Morgen schienen sie irgendwie an einer Art von Stimmlähmung zu leiden.

„Ist alles in Ordnung?”, fragte ich und griff auch nach einem blöden Ei, nur um etwas zu tun.

Meine Mutter blickte von ihrem Kaffee auf und sah mich an. „Mia, wir müssen etwas Wichtiges mit dir besprechen.“ In mir schrillte eine Alarmglocke. So oder so ähnlich hatte auch das Gespräch begonnen, in dem sie mir gesagt hatten, dass wir in die Provinz ziehen würden.

„Ist etwas passiert?“, fragte ich daher misstrauisch.

Mein Vater stand auf und kam zu meinem Stuhl. Er setzte sich auf meine Lehne und legte seine Hand auf meine Schulter. Oh Gott! Was kam jetzt?

„Könntest du dir vorstellen, für eine Weile allein zu bleiben?”, fragte er.

Ich war schon öfter allein geblieben, wenn meine Eltern zu einer ihrer wissenschaftlichen Exkursionen aufbrachen. Allerdings nie besonders lange.

Der Tonfall in seiner Stimme ließ mich aufhorchen.

„Wie lange würde diese Weile denn sein?”, fragte ich misstrauisch. Prinzipiell genoss ich es, mein eigener Herr zu sein und über eine sturmfreie Bude zu verfügen – aber alles hatte seine Grenzen.

„Diesmal würde es etwas länger sein, als du es bisher gewohnt bist“, sagte meine Mutter und beugte sich über den Tisch in meine Richtung. „Wir haben das Angebot bekommen, an Erdbohrungen in der Antarktis teilzunehmen. Das würde bedeuten, dass wir dort ein Jahr verbringen würden.“

„Ihr beide zusammen?”, fragte ich schockiert. Das konnte ja wohl nicht ihr Ernst sein, dass ich alleine hier in dieser Einöde sitzen sollte.

„Seid ihr verrückt? Soll ich etwa alleine in diesem Kaff bleiben?“, entfuhr es mir.

„Du bist ja kein Baby mehr. Wir finden, du bist für dein Alter ungewöhnlich vernünftig und selbstständig“, hörte ich meine Mutter sagen.

„Wir möchten dich nur ungern kurz vor dem Abitur aus der Schule nehmen und in ein Internat schicken. Deshalb haben wir gedacht, du bleibst hier und bekommst Gesellschaft.“

„Gesellschaft?“

„Wahrscheinlich kannst du dich gar nicht mehr an sie erinnern. Du warst noch sehr klein, als ihr euch das letzte Mal begegnet seid“, sagte meine Mutter

„Wen meinst du?“

„Ich spreche von meiner Tante, deiner Großtante Rosie. Sie würde für ein Jahr zu uns ziehen, da sie im Augenblick, sagen wir mal, ungebunden ist.“

Das wurde ja immer besser. Nicht nur, dass sich meine Eltern im wahrsten Sinne des Wortes ans andere Ende der Welt verziehen wollten – ich sollte auch noch mit einer mir unbekannten und wahrscheinlich schon am Rande der Senilität befindlichen Verwandten hier am Arsch der Welt sitzen.

„Das ist ein Scherz“, war alles, was ich hervorpressen konnte.

„Kind, glaub mir, es fällt uns nicht leicht, dich so lange allein zu lassen. Aber diese Gelegenheit ist einmalig und kommt wahrscheinlich nicht wieder. Das ist kein Urlaub und auch keine Abenteuerreise, sondern ein Forschungsaufenthalt, der uns mit großer Wahrscheinlichkeit einige bahnbrechende Erkenntnisse bringen wird.“

Ich fasste es nicht. Die beiden schienen wildentschlossen, mich hier mit einer Fremden sitzen zu lassen und erst in einem Jahr wieder zurückzukommen.

„Und wann würdet ihr fahren?”, fragte ich in der Hoffnung, dass ich noch ausreichend Zeit hatte, um irgendwie aus dieser Nummer wieder rauszukommen.

„In drei Wochen“, antwortete meine Mutter mit einem Zögern in der Stimme.

„In drei Wochen schon?”, brachte ich krächzend hervor.

„Wieso habt ihr mir nicht schon eher davon erzählt?“

„Wir haben selber nichts davon gewusst; wir haben das Angebot erst in der letzten Woche erhalten und einige Tage gebraucht, um für uns darüber nachzudenken und zu entscheiden“, fügte mein Vater in entschuldigendem Ton hinzu. „Wir müssen so bald aufbrechen, da sonst schon der antarktische Winter beginnt und wir die Forschungsstation nicht mehr erreichen können. – Also entweder wir gehen jetzt oder das ganze Projekt ist für uns gestorben.“

„Aber - was wird mit Wotan?”, fragte ich schwach.

Bei diesen Worten erhob sich ein riesiges, zottiges, graues Tier, das bisher schlafend unter unserem Frühstückstisch gelegen hatte, schüttelte sich und verbreitete einen wenig angenehmen Geruch rings um uns her.

Wotan war unser Hund – aber eigentlich war die Bezeichnung Hund zu schmeichelhaft für ihn. In Wirklichkeit war Wotan ein Monster in Pelzgestalt, das eines Morgens im Garten unseres Hauses in Blankenese gelegen hatte. Ohne Halsband, ohne Leine, ohne Hundemarke. Ein paar Tage lang hatten wir versucht, seinen Besitzer ausfindig zu machen, dann hatten wir versucht, ihn in einem Tierheim unterzubringen, dann hatte mein Vater ausgesprochen, was wir alle dachten:

„Wir können ihn nicht ins Tierheim bringen, dort wird er früher oder später eingeschläfert!“

Und das aus gutem Grund, denn es stellte sich heraus, dass Wotan – wie wir ihn aufgrund seiner Erscheinung getauft hatten – offenbar meinen Vater als seinen persönlichen Retter betrachtete und ihm dies mit treuer Ergebenheit und großer Liebe dankte. Meine Mutter und mich betrachtete er allerdings nur als notwendige Randerscheinungen seines Lebens und alle anderen Kreaturen, die seinen Weg kreuzten, potentiell als Feinde. Eine Vermittlung in fremde Hände schien unmöglich und so blieb er bei uns.

„Äh, Wotan könnte ja bei dir bleiben“, antwortete mein Vater zaghaft auf meine Frage und kraulte das Tier hinter den Ohren.

„Wie soll das gehen?”, fragte ich entsetzt. „Er hört nicht auf mich, schleift mich an seiner Leine hinter sich her, frisst jede Katze, die ihm vor seine Schnauze kommt und ist eine Gefahr für die Allgemeinheit.“

„Na, nun übertreib mal nicht“, versuchte mein Vater zu beschwichtigen. „Du wirst sehen, wenn wir weg sind, wird Wotan ein folgsames Hündchen sein. Er wird schnell verstehen, dass er auf dich angewiesen ist. Du musst nur energisch genug auftreten, dann klappt das schon.“

Ich wollte noch etwas einwenden, doch mein Vater kam mir zuvor.

„Außerdem“, fügte er hinzu, „finde ich es gut, wenn du einen Bewacher im Haus hast. Wir wohnen hier ja doch ziemlich einsam.“

Damit hatte er allerdings Recht.

So war es denn beschlossen. Meine Eltern würden in die eisigste Kälte dieses Planeten reisen und dort im Dunkeln verschwinden.

Ich würde mit einer mir unbekannten Großtante und einem unberechenbaren Hund zurückbleiben und versuchen, mein Leben so normal wie möglich weiter zu leben.

Tante Rosie wurde benachrichtigt und versprach, rechtzeitig vor der Abreise meiner Eltern da zu sein, meine Eltern widmeten sich der Beschaffung warmer Unterwäsche und was sonst noch notwendig war, um das kommende Jahr zu überleben und ich beschloss, einen Maulkorb für Wotan zu besorgen.

Der Tag der Abreise nahte unwiderruflich.

Mein Vater und insbesondere meine Mutter wurden in dem Maße stiller und bedrückter, in dem sich die Koffer und Kisten in unserem Hausflur stapelten. Ich dagegen hatte mich inzwischen an den Gedanken der fast sturmfreien Bude gewöhnt und sah meinem Schicksal mit einer gewissen Gelassenheit entgegen.

Eines Abends, zwei Tage vor dem geplanten Abreisetermin, trat meine Mutter in mein Zimmer. Ich saß an meinem Schreibtisch am Fenster und lernte lateinische Vokabeln, als sie mir sanft die Hand auf die Schulter legte.

„Mia, ich muss noch einmal mit dir reden“. Ihre Stimme klang zaghaft.

Ich blickte über die Schulter und sah sie an.

„Mir kommt die Idee, dich hier für so lange Zeit allein zu lassen, inzwischen vollkommen verrückt vor.“

Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr sie fort: „Noch könnte ich meine Teilnahme rückgängig machen und hier bei dir bleiben.“

„Du spinnst wohl!”, entfuhr es mir. „Ihr habt alles vorbereitet, Tage damit verbracht, unzählige Kisten zu packen, du freust dich auf diese Expedition und wir haben schließlich Telefon und Internet um in Kontakt zu bleiben.“

Sie nahm mein Kinn in ihre Hand und sah mich prüfend an. „Du sagst das jetzt nicht nur, weil du tapfer sein willst?“

„Nein, weil ich weiß, wie viel euch diese Reise bedeutet und weil ich – wie ihr ja schon selber bemerkt habt – kein Baby mehr bin.“

Sie blickte auf meinen Computer.

„Versprich mir, dass wir uns regelmäßig schreiben!“

„Klar, versprochen!“ Heimlich kreuzte ich zwei Finger hinter dem Rücken. Das fehlte mir noch – Mutti als Brieffreundin!

„Und“, sie sah mich erwartungsvoll an. Was kam jetzt noch?

„Lass uns regelmäßig skypen!“

Skypen?! Ich war schon drauf und dran, ihr zu sagen, dass ich eigentlich keinen Bock darauf hatte, per Kamera überwacht zu werden, als ich bemerkte, dass sie mit den Tränen kämpfte. Scheiße, sie war echt traurig, dass sie mich hier zurücklassen würde. Und wenn ich ehrlich war, war ich es auch. Doch ich schluckte die Emotionen runter und antwortete stattdessen betont munter:

„Klar. ich freue mich schon darauf, euch zwei mit euren Schneeanzügen und roten Nasen zu sehen, während ich hier im Sommerkleidchen sitze“.

Und dann kam er – der Tag des Abschieds von meinen Eltern.

Wer nicht kam, war Tante Rosie.

Die Abreise war für Samstag geplant. Tante Rosie hatte ihr Kommen für Freitagabend versprochen. Ich war sehr gespannt auf die unbekannte Tante. Meine Mutter hatte sich zurückgehalten mit der Beschreibung und nur angedeutet, dass Tante Rosie eine eher ausgefallene Person sei, aber dafür echt nett. Offensichtlich hatte sie verschwiegen oder verdrängt, dass Tante Rosie nicht zu den zuverlässigsten Zeitgenossen zu gehören schien, denn am frühen Nachmittag klingelte unser Telefon und ich hörte meine Mutter „Oh, das ist aber misslich!“, „Hoffentlich ist es bis morgen wieder in Schuss“, „Ach, Sonntag sagst du?”, ins Telefon stammeln. Kurz darauf stand sie hinter mir. Ich drehte mich um und ahnte schon, dass es unangenehme Neuigkeiten gab.

„Tante Rosie war am Telefon. Sie kann erst am Sonntag kommen, offenbar ist ihr Auto kaputt und die Reparatur wird erst morgen im Laufe des Tages erledigt. Sie bricht dann gleich am Sonntagmorgen auf.“

Meine Mutter machte ein betretenes Gesicht.

„Wir können unsere Abreise leider nicht aufschieben. Das Flugzeug geht morgen um 14:00 Uhr ab München. Das heißt, du und Wotan wäret dann erstmal alleine hier.“

„Na, dann kann mir ja nichts passieren“, erwiderte ich etwas sarkastisch.

Meine Mutter sah mich besorgt an.

„Nein, im Ernst, nun mach dir mal keine Gedanken um mich. Ich komm schon klar, das ist kein Problem“, beteuerte ich und fand den Gedanken, eine Nacht alleine zu verbringen, nicht weiter der Rede wert. Wahrscheinlich war es sogar besser, wenn Wotan den Trennungsschmerz von meinem Vater erst einmal ohne fremde Gesellschaft verarbeiten konnte.

Am nächsten Morgen waren wir alle früh auf. Meine Eltern waren sehr aufgeregt und liefen zwischen Frühstückstisch, Koffern und Kleiderschrank hin und her. In der letzten Minute fiel ihnen auf, dass ich auch mit ausreichend Geld versorgt werden musste und sie legten mir noch schnell zwei Kreditkarten auf den Esstisch, flüsterten mir die dazugehörigen Geheimnummern ins Ohr, beteuerten, dass alle laufenden Kosten für unser Haus automatisch monatlich beglichen würden und ich mich um nichts zu kümmern hatte, und schon hörten wir ein Hupen vor dem Gartenzaun.

Der Fahrer des geologischen Instituts wartete draußen, um meine Mutter und meinen Vater zum Flughafen zu bringen. Gemeinsam schafften wird den unglaublichen Berg von Taschen und Koffern in den Wagen.

Dann ging alles ganz schnell. Mein Vater nahm mich fest in den Arm und drückte mich.

„Du schaffst das schon“, flüsterte er mir ins Ohr. „Wir melden uns, sobald wir angekommen sind.“

Meine Mutter unterdrückte ein paar Tränen und ich hatte auch einen großen Kloß im Hals, als sie mich umarmte.

„Du wirst sehen, es wird prima mit Tante Rosie. Nach ein paar Tagen wirst du deine alten Eltern gar nicht mehr vermissen.“

Dann beugten sie sich beide herunter zu Wotan, der neben uns stand und die Szene skeptisch beäugte.

„Wotan, alter Freund, mach es gut. Sei nett zu Mia. Wenn wir in einem Jahr wieder da sind, wollen wir hier einen braven Hund sehen.“

Wotan wedelte unsicher mit dem Schwanz und blickte zu mir hoch. Ich sah ihn an und in Anbetracht der Tatsache, dass er nun meine Restfamilie darstellte, kam er mir irgendwie nicht mehr so schrecklich vor.

Nun war es unwiderruflich. Das Auto startete und fuhr den schmalen Weg, der von unserem Haus zur Hauptstraße führte, entlang. Ich sah die winkenden Silhouetten meiner Eltern kleiner und kleiner werden, bis der Wagen abbog und aus meinem Blick verschwand. Für einen Moment fühlte ich mich sehr alleine.

Krötenküssen

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