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Kapitel 6 Deutschklausur

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Wir fuhren in Tante Rosies rotem Sportflitzer an meiner Schule vor, als es gerade zur ersten Stunde läutete. Zum Glück waren die meisten meiner Mitschüler schon im Gebäude, so dass ich mich von ihr verabschieden konnte, ohne viel Aufhebens zu verursachen. Nur Kathi stand noch vor der Schultür und wartete auf mich.

„Hey Mia, ich dachte schon, du kommst heute nicht.“

Sie warf einen Blick auf Tante Rosie, die winkend davonbrauste.

„Oh Mann, ist das deine Tante?”, fragte sie ungläubig.

„Ja, das ist sie. Ich hatte sie mir auch irgendwie anders vorgestellt. Aber sie ist wirklich nett.“

„Das glaube ich gerne. Auf jeden Fall ist sie anders, als meine Großtante. Die hat sich vor einiger Zeit einen Gehwagen zugelegt und ihren Führerschein abgegeben.“

Kathi fasste mich am Arm und zog mich Richtung Schultür.

„Komm, wir sind schon spät dran, heute schreiben wir doch in der ersten Stunde Deutsch.“

Entsetzt blickte ich sie an. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Eigentlich brannte es mir auf der Zunge, ihr zu erzählen, wie der Tag für mich begonnen hatte, aber dazu war jetzt keine Zeit mehr.

Herr Lempel war schon im Klassenraum, als wir atemlos reinstürzten.

„Guten Morgen, die Damen. Ich hatte schon geglaubt, dass wir diese Leistungsüberprüfung ohne sie beide durchführen müssen.“

Ich sah ihn genervt an. Nicht zuletzt wegen Herrn Lempel war Deutsch eines meiner schlechtesten Fächer. Ich konnte sein borniertes Gerede nur schwer ertragen und er hatte offensichtliche Probleme mit meinem norddeutschen Zungenschlag. Hinzu kam noch, dass er einige ausgewählte Lieblinge in der Klasse hatte, mit deren Beiträgen er gerne den Unterricht bestritt und es daher sehr schwer war, sich aktiv an den Diskussionen zu beteiligen und so im Mündlichen eine gute Note zu bekommen.

Heute sah Lempel mich aber überraschend freundlich an.

„Geht es dir gut, Mia?”, fragte er in meine Richtung. Ich war gerade dabei, mich hinter meinen Tisch zu schlängeln und balancierte meine Schultasche vor mir her. Irritiert sah ich ihn an.

„Ich habe schon von deinem Missgeschick beim Bäcker heute morgen gehört“, fügte er hinzu. „Wenn du lieber nach Hause gehen möchtest, kann ich das gut verstehen. Du könntest die Klausur nachschreiben.“

Meine Mitschüler und ganz besonders Kathi sahen mich fragend an. Ich beugte mich zu ihr hinüber und flüsterte: „Das erzähle ich dir später.“

Laut sagte ich zu Lempel: „Nein, vielen Dank, mir geht es schon wieder gut. Ich kann die Arbeit heute schreiben.“

Im gleichen Moment ärgerte ich mich über mich selbst. Warum war ich immer so verflixt ehrlich? Ich hätte doch ruhig etwas auf die Tränendrüse drücken und alles etwas ruhiger angehen können. Nun war es zu spät.

Lempel nickte mir anerkennend zu und begann die Aufgaben zu verteilen.

Bald merkte ich, dass ich mich doch nur schwer konzentrieren konnte. Der Schreck saß mir noch gehörig in den Knochen, auch wenn ich vollmundig verkündet hatte, dass es mir wieder gut gehe. So gut ich konnte, versuchte ich, die Erinnerung an meinen nur knapp vermiedenen Erstickungstod zu verdrängen. Nicht verdrängen konnte ich allerdings die Erinnerung an meinen unbekannten Retter, der dann spurlos verschwunden war. Wenn ich versuchte, mir sein Gesicht in Erinnerung zu rufen, sah ich nur seine Augen, die mich besorgt anblickten. Mal abgesehen davon, dass dies der Anblick war, als ich die Augen aufschlug, und knapp dem Tod entronnen war, hatte mich dieser Blick seltsam berührt.

Lautes Papiergeraschel schreckte mich aus meinen Gedanken hoch. In der Reihe vor mir packte Martin seine Sachen zusammen. Er legte die beschriebenen Bögen Klausurpapier zusammen, steckte seinen Füller in die Mappe und erhob sich, um seine Arbeit auf das Pult von Lempel zu legen. Ich erschrak und sah auf meine Uhr. Die Hälfte der Zeit, die uns Lempel zugestanden hatte, war bereits vergangen. Martin war der Beste in Deutsch und es wunderte mich nicht, dass er schon fertig war. Ich selber hatte noch keine zusammenhängende Zeile zu Papier gebracht. Eigentlich hatte ich mir noch nicht einmal die Aufgabe vernünftig durchgelesen. Ich blickte kurz zur Seite und sah, dass Kathi eifrig Blatt um Blatt füllte. Sie blickte zurück und ihr Blick traf auf mein leeres Papier.

„Was ist los mit dir?”, wisperte sie zu mir hinüber. „Du hast ja noch gar nichts geschrieben.“

Inzwischen war es drinnen warm geworden und dreißig rauchende Köpfe hatten jede Menge Sauerstoff verbraucht. Lempel öffnete eines der großen Fenster unseres Klassenzimmers. Ein dicker grüner Käfer kam herein geflogen und kreiste mit lautem Brummen über unseren Köpfen. Dankbar für diese Ablenkung blickte die ganze Klasse nach oben und verfolgte seinen Flug. Schließlich kreiste er noch einige Male über meinem Kopf bevor er auf meinem Tisch landete. Er begann mit kleinen Trippelschritten an der Kante auf und ab laufen. Mein erster Impuls war, ihn mit der flachen Hand vom Tisch zu fegen, doch der kleine Kerl sah irgendwie hübsch aus mit seinen grünen, glänzenden Flügeldecken, auf denen einige feine rostrote Punkte zu sehen waren.

Ich ließ ihn krabbeln und versuchte, aus dieser vermurksten Klassenarbeit noch das rauszuholen, was rauszuholen war. Der Käfer machte es sich vor meinem Blatt Papier bequem und begann, mit seinen Vorderbeinen seine Fühler zu putzen. Dabei blickte er mich gelegentlich an, zumindest hatte ich das Gefühl, dass er zu mir hoch sah, auch wenn mir klar war, dass ein Insekt wohl kaum Blickkontakt mit mir aufnehmen würde.

Ich saß da und starrte auf mein noch weitgehend leeres Blatt.

Der Käfer marschierte am oberen Rand des Blattes wie ein kleiner grüner Soldat auf und ab. Fast schien es so, als warte er darauf, dass ich endlich zu meinem Füller griff und etwas zu schreiben begann.

Ich versuchte, meine Gedanken zu sammeln und las die Aufgabenstellung noch einmal durch.

„Interpretieren Sie das Goethe-Gedicht Wanderers Nachtlied. Welche Botschaft finden Sie darin für Ihr eigenes Leben?“

Darunter stand der Text eines sehr kurzen Gedichtes:

Über allen Gipfeln

ist Ruh.

In allen Wipfeln

Spürest Du

Kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur, balde

Ruhest Du auch.

Ich las das Gedicht zweimal durch. Beim dritten Durchlesen blieb meine Aufmerksamkeit an den letzten Zeilen haften. „Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde, ruhest Du auch.“ Erst in diesem Moment begriff ich tatsächlich, dass ich heute dem Tod von der Schippe gesprungen war, und dass um ein Haar mein junges Leben ein plötzliches Ende gefunden hätte. Mit einem Mal erfasst mich eine unbändige Lebenslust.

Ich lebte!

Ich war nicht gestorben und hatte mein ganzes Leben noch vor mir. Ja, die Botschaft für mein eigenes Leben war klar und ich begann zu schreiben. Mein Stift flog über das Papier und ich füllte Seite um Seite, mit dem glühenden Bekenntnis, dass ich nicht vorhatte, in absehbarer Zeit für immer zu ruhen.

Die Stunde war zu Ende und der Gong ertönte. Ich klappte meinen Füller zu und faltete die Klausurbögen in der Mitte. Erst jetzt sah ich, dass der grüne Käfer noch immer auf meinem Tisch saß. Er hatte sich an die hintere Tischkante zurückgezogen und bewegte sich nicht. Ich nickte ihm zu.

„So, ich bin fertig. Du kannst jetzt nach Hause fliegen.“

Als hätte er mich verstanden, spreizte er die Flügeldecken, reckte seine Hinterbeine und flog los. Ich sah ihn durch das geöffnete Fenster verschwinden und blickte ihm nach, bis ich nur noch ein winziges Pünktchen im blauen Himmel erkennen konnte.

In der großen Pause war ich umringt von Mitschülerinnen und Mitschülern, die, aufmerksam geworden durch Lempels Bemerkung, hören wollten, welches „Missgeschick“ mir beim Bäcker passiert war. Mir war diese Aufmerksamkeit unangenehm und ich versuchte, das ganze so unspektakulär wie möglich zu erzählen. Heftig verschluckt hatte sich bestimmt jeder schon einmal und dass ich nur knapp dem Tod entronnen war, behielt ich einfach für mich. Tatsächlich erzielte ich damit die gewünschte Wirkung. Die meisten meiner Mitschüler setzten eine enttäuschte Miene auf, offenbar hatten sie eine spektakulärere Geschichte erwartet und schlenderten davon. Die Menge zerstreute sich schnell wieder und übrig blieben nur Kathi, Martin und Frank, die mich fragend ansahen.

„Das war die ganze Geschichte?”

Kathi zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. „Deswegen wollte der Lempel dich die Arbeit nachschreiben lassen, weil du dich beim Bäcker verschluckt hattest?“

„Na ja, ganz so war es dann doch nicht“, gab ich zu.

„So, jetzt mal raus mit der Sprache.“ Die drei sahen mich erwartungsvoll an.

Und nun schilderte ich, was wirklich geschehen war. Angefangen beim Schlemmerfrühstück für zwei Personen, über das Stück Schinken, dass mir die Luftröhre blockiert hatte, bis hin zu meiner Ohnmacht und meinem wundersamen Erwachen. Nur bei meinem unbekannten Retter ging ich nicht zu sehr ins Detail. Irgendwie wollte ich diese Erinnerung ganz für mich behalten und nicht mit anderen teilen. Als ich mit meiner Schilderung zu Ende war, sah ich in drei entsetzte Gesichter.

„Oh Gott, Mia. Das war ja wohl wirklich knapp. Um ein Haar hätten wir dich hier heute nicht mehr gesehen!“ Frank machte einen ehrlich betroffenen Eindruck. Auch Martin sah mich bestürzt an. Und zu meinem Entsetzen machte er unvermittelt einen Schritt auf mich zu, nahm mich in den Arm und drückte mich kurz und heftig.

„Du lieber Himmel, das wäre ja schrecklich gewesen, wenn du mit einem Stück Schinken im Hals verreckt wärst.“

Um seine ganz offensichtliche Rührung zu überspielen, kramte er in seiner Jackentasche herum und zog ein Päckchen Zigaretten hervor. Lässig ließ er eine Zigarette aus der Packung hervorschnellen und bot sie mir an.

„Äh, danke, ich rauche nicht“, schlug ich sein Angebot aus. Er selber führte eine mit lässiger Geste zum Mund und zündete sie an. Wir alle drei sahen ihm dabei erstaunt zu. In der Schule und auch auf dem Schulhof war das Rauchen verboten. Offenbar hatte er das vollkommen vergessen. Bevor allerdings noch der Aufsicht führende Lehrer auf diesen offensichtlichen Verstoß gegen die Schulordnung reagieren konnte, läutete es zur dritten Stunde und die Pause war vorbei.

Martin trat seine noch kaum gerauchte Zigarette aus und wir machten uns zu viert auf den Weg ins Schulgebäude. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Bayern hatte ich das Gefühl, dass es hier Menschen gab, die sich um mich sorgten.

Krötenküssen

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