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Kapitel 5: Dem Tod entronnen

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Meine unkonventionelle Tante war zwar in einem Sportwagen mit nur einer kleinen Reisetasche bei mir vorgefahren, am nächsten Morgen stellte sich allerdings heraus, dass dies nur die Spitze des Eisbergs war.

In aller Herrgottsfrühe, noch bevor mein Wecker klingelte, wurde ich von lautem Motorenlärm geweckt. Ein LKW mit einem Überseecontainer hielt vor unserem Garten und zwei Männer sprangen aus der Fahrerkabine. Ich sah durch mein Fenster, wie Tante Rosie den beiden die Gartenpforte öffnete und ihnen unter lautem Gestikulieren den Weg ins Haus wies. Wotan, der die Nacht in meinem Zimmer verbracht hatte, stellte sich neben mich, sah aus dem Fenster und stimmte ein kurzes Knurren an.

„Pscht“, wies ich ihn zurecht und er verstummte sofort. Verwundert sah ich ihn an – so viel Gehorsam hatte ich nicht erwartet. Allerdings hatte er mich bereits am Tag zuvor überrascht, als er – völlig unerwartet – Tante Rosie unbehelligt ließ, obwohl sie in unserer Küche saß.

Wir hatten ihn, nachdem Tante Rosies Lebensgeschichte beendet war, aus seiner Einzelhaft befreit. Mit Leine und Maulkorb hatte ich ihn mit klopfendem Herzen in die Küche geführt, wo Tante Rosie reglos und mit einem großen Stück Wurst bewaffnet am Küchentisch saß. Zu unserer Verblüffung machte er keinerlei Anstalten, sie in Stücke zu zerreißen, sondern setzte sich vor sie, legte eine seiner großen Vorderpfoten auf ihr Knie und sah unverwandt das Stück Wurst an, das sie in der Hand hielt. Vorsichtig, ganz vorsichtig, brach Tante Rosie ein Stück ab und schob es ihm durch die Gitter seines Maulkorbs hindurch in die Schnauze. Und ebenso vorsichtig nahm Wotan das Wurststückchen und kaute lange und genussvoll darauf herum.

„Ich glaube, wir können ihm den Maulkorb abnehmen“, meinte Tante Rosie, nachdem Wotan auf diese Art und Weise eine ganze Fleischwurst verzehrt hatte. Mit zitternden Fingern löste ich die Riemen von seinem Kopf, die Leine fest in meiner Hand. Wotan sah mich kurz an, dann drehte er sich um, stellte sich vor Tante Rosie und leckte ihr mit seiner riesigen Zunge einmal quer durch das Gesicht. Tante Rosie quiekte angewidert, fing dann doch an zu lachen und tätschelte ihm schließlich etwas zögernd den Kopf.

„Ich glaube“, sagte sie, „dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“

Und nun stand ich mit Wotan am Fenster und wir sahen zu, wie aus dem Container Kisten, Koffer, ein Fernseher, eine Stereoanlage, ein Computer, eine Stehlampe in futuristischem Design, ein Lesesessel und zum guten Schluss noch ein riesiger Spiegel ins Haus getragen wurden. Meine Tante sprang zwischen den Männern umher und es erschien mir wie ein Wunder, dass sie keinen von ihnen zu Fall brachte. Nach etwa einer halben Stunde war der Container leer und das Schauspiel beendet. Gemeinsam mit Wotan ging ich die Treppe herab, neugierig ob im Untergeschoss noch Platz zum Atmen übrig geblieben war. Kisten stapelten sich im Flur und ließen nur noch einen schmalen Pfad frei, dem ich in die Küche folgte. Hier saß meine Tante am Tisch, auf dem sich die Stereoanlage zusammen mit dem Computer drängte. Überragt wurde das Bild von der imposanten Stehlampe, die ihren riesigen grünen Schirm über Tante Rosies Kopf streckte.

„Guten Morgen“, sagte ich über den voll gepackten Küchentisch hinweg.

„Hallo Mia, ich glaube, heute wird es etwas schwierig mit dem Frühstück!“

Damit konnte sie Recht haben, jedenfalls war der Weg zum Kühlschrank weitgehend durch den monumentalen Spiegel versperrt.

„Am besten, du ziehst dich schnell an, dann fahren wir zusammen in die Stadt und gehen noch irgendwo frühstücken, bevor deine Schule anfängt.“

Dies war eine gute Alternative zu dem momentan herrschenden Chaos, auch wenn mir bei dem Gedanken, in Tante Rosies rotem Sportflitzer vor der Schule vorzufahren, nicht wirklich wohl war.

Wir hatten nur noch ungefähr eine Stunde Zeit, bis der Unterricht anfing, so dass ich mich in Windeseile in meine Klamotten schmiss, Wotan in den Garten schickte und meine Schulsachen zusammenpackte. In weniger als einer Viertelstunde saßen wir nebeneinander in Tante Rosies Cabrio.

In unserem winzigen Städtchen war die Auswahl der Frühstücksmöglichkeiten ziemlich beschränkt. Tante Rosie sah mich an.

„Wo soll es hingehen?”, fragte sie und steckte den Zündschlüssel ins Schloss.

„Ich weiß nicht recht. Viel Auswahl haben wir nicht und, um ehrlich zu sein, ich war hier noch nie auswärts frühstücken.“

Wenn ich es recht bedachte, war ich eigentlich noch nie auswärts frühstücken gewesen, aber ich beschloss, dass ich das Tante Rosie ja nicht unbedingt auf die Nase binden musste.

„Gestern auf der Herfahrt, bin ich an einer Bäckerei vorbeigekommen, die eigentlich ganz ordentlich aussah. Da fahren wir jetzt mal hin.“

Energisch setzte Tante Rosie den Wagen in Bewegung und bog auf die Landstraße ab. Ich überlegte kurz. Wenn es das war, was sie meinte, war die Bezeichnung Bäckerei etwas untertrieben. Das Café Koch war das erste Haus am Platz, wenn man in einem so kleinen Ort überhaupt davon sprechen konnte.

„Dort kauft der Oberbürgermeister seine Brötchen“, hatte mein Vater diese Bäckerei einmal ironisch charakterisiert. Nun ja, Tante Rosie war aus New York vermutlich Besseres gewohnt, so dass sie sicher nichts Besonderes daran fand.

Binnen fünf Minuten hatten wir unser Ziel erreicht. Meine Tante parkte schwungvoll ein und ergriff ihre Handtasche, die auf der kleinen Rückbank lag. Neben diesem Kunstwerk aus Leder wirkte meine Schultasche, die ich schon seit mehreren Jahren benutzte, wie ein alter Sack. Ich beschloss, sie ebenso würdevoll zu schultern, wie es Tante Rosie tat.

Wir betraten das Café und ließen uns an einem Tisch nieder. Tante Rosie studierte kurz die Karte und ließ dann ihren Blick suchend umherschweifen.

„Bist du auch so hungrig wie ich?”, fragte sie mich und versuchte dann offenbar, mit der Bedienung, die am Nebentisch beschäftigt war, auf telepathischem Wege, durch unverwandtes Anstarren, Kontakt aufzunehmen.

Offensichtlich war sie erfolgreich damit, denn diese drehte sich mit den Worten: „Ich bin gleich bei Ihnen“, zu uns um und Tante Rosie sah mich an.

„Ich sag dir eins Mia, Menschen spüren es, wenn man sie anstarrt. Ich weiß nicht warum, aber es wirkt immer.“

Ich sah sie zweifelnd an. Allerdings kam ich nicht mehr dazu, ihr meine Meinung zu dieser Theorie zu erläutern, denn die Bedienung machte ihr Versprechen wahr und stand mit gezücktem Notizblock vor uns.

„Wir nehmen zweimal das Schlemmerfrühstück. Für mich bitte Kaffee.“ Tante Rosie sah mich fragend an: „Trinkst du auch Kaffee zum Frühstück.“

„Ja, bitte“, brachte ich hervor. Schlemmerfrühstück? Eine Schale Corn Flakes mit Milch war für gewöhnlich alles, was ich morgens hinunter bekam.

„Eigentlich esse ich morgens nicht so besonders viel“, wandte ich ein.

„Ach, Kindchen, einmal ist keinmal. Wir lassen es uns jetzt mal gut gehen.“

Tante Rosie schien bester Laune zu sein. Das Café Koch wurde seinem Ruf gerecht und die Bedienung ließ uns nicht lange auf unser Frühstück warten. Rasch kehrte sie mit zwei Kännchen Kaffee zurück und begann dann, unser opulentes Mahl aufzutischen. Eine große Käseplatte und eine überdimensionale Aufschnittplatte wurden von zwei gekochten Eiern, einer Auswahl Marmeladen, einer großen Schale Müsli, Quark und Joghurt begleitet. Ein riesiger Brotkorb, der neben Croissants und Brötchen auch noch Knäckebrot und Vollkornbrot enthielt, war die Krönung des ganzen. Der Begriff Schlemmerfrühstück war offenbar ernst gemeint.

„Ach, du lieber Himmel, das können wir niemals aufessen!”, entfuhr es mir, doch Tante Rosie griff unverdrossen nach einem Brötchen.

„Vor allem müssen wir jetzt schnell schlemmen, sonst kommst du zu spät in die Schule.“

Sie hatte Recht. Es blieb uns noch ungefähr eine halbe Stunde, um unserem Schlemmerfrühstück gerecht zu werden. Also langte auch ich beherzt zu. Zu meiner Verwunderung schmeckte es mir ausgezeichnet, Tante Rosies Gesellschaft schien appetitanregend zu sein.

Kauend blickte ich mich im Café um, in der Erwartung, vielleicht einen meiner Mitschüler zu erspähen, der sich noch kurz vor Unterrichtsbeginn ein Brötchen kaufte. Von unserem Tisch aus hatte ich einen guten Blick in den Verkaufsraum und ich konnte sehen, dass sich dort eine ganze Reihe von Menschen vor der Verkaufstheke drängte.

Das war der Moment, in dem ich ihm zum ersten Mal begegnete.

Inmitten all der bayrischen Hausfrauen und der Schüler stand er da.

In einer schwarzen Jeans und einem schwarzen T-Shirt über das er, trotz der sommerlichen Temperaturen, einen langen schwarzen Mantel gezogen hatte. Auch seine Haare waren schwarz. Gefärbt oder echt – fragte ich mich für einen Augenblick. An den Füßen trug er Stiefel – in schwarz, die an den Seiten silberne Riegel hatten und an seinen Fingern steckten zahlreiche Silberringe.

Er sah punkig aus und auch wieder nicht und passte so ganz und gar nicht in diese Umgebung.

Ich betrachtete ihn gedankenverloren und studierte intensiv die Linien, die seine Oberarme unter den Ärmeln des Mantels zeichneten. Als er sich über den Verkaufstresen beugte und das Brötchenangebot studierte, ließ ich ungeniert meinen Blick über seinen festen Hintern in der verwaschenen Jeans wandern, der sich unter seinem Mantel abzeichnete. Er wies auf ein paar Croissants in der Auslage hin und langte dann in seine rechte Gesäßtasche um nach Kleingeld zu greifen. Ich ließ meinen Blick in seinen Nacken schweifen und entdeckte dort ein herzförmiges Muttermal, das sich links an seine Wirbelsäule schmiegte.

„Hey, Mia, pass auf! Der Punk dreht sich gleich nach dir um, wenn du ihn weiter so anstarrst.“

Tante Rosies Warnung kam zu spät.

Er drehte sich zu mir um. Er wusste, dass ich ihn angestarrt hatte, er wusste, wie ich ihn angestarrt hatte und er wusste, dass ich wusste, dass er es wusste. Ich fühlte mich ertappt und schnappte erschrocken nach Luft.

Und dabei blieb mir im wahrsten Sinne des Wortes der Bissen im Halse stecken.

Im Nachhinein vermag ich nicht zu sagen, ob der Schreck über mein Ertappen für einen Moment meine Kaumuskulatur lähmte, oder ob es einfach ein Zufall war. Jedenfalls blieb mir das Stück Schinken, das ich gerade noch gedankenverloren im Mund hin und her bewegt hatte, schlicht und ergreifend vor dem Eingang zu meiner Luftröhre stecken und mir blieb die Luft weg. Für einen Augenblick der bitteren Erkenntnis wurde mir klar, dass meine Sauerstoffzufuhr definitiv unterbrochen war und ich versuchte verzweifelt, das Fleisch hinaus zu würgen, bis mir schwarz vor Augen wurde. Tante Rosies Schreie gelten noch in meinen Ohren, als ich das Bewusstsein verlor.

Es wurde dunkel um mich her und ich fiel in einen tiefen Schacht und fiel und fiel, bis ich den Grund erreichte und zu meiner eigenen Verwunderung weich und komfortabel auf einer riesigen wolkengleichen Wolldecke landete. Ein Gefühl warmer Geborgenheit umgab mich und ich fühlte eine unendliche Ruhe und Gelassenheit. Durch einen warmen Nebel blickten mich ein Paar Augen an und ich wusste, alles wird gut.

Der Nebel lichtete sich, die Augen wurden deutlicher und waren nun dicht über meinem Gesicht. Ich hörte Stimmen und Geräusche und roch frischen Brötchenduft, der sich mit dem Geruch von Kaffee mischte. Ich fühlte, dass ich nicht auf einer Wolldecke sondern auf dem Boden lag und der Typ, der soeben noch neben dem Brötchentresen gestanden hatte, neben mir kniete und mich besorgt ansah.

„Alles okay!", röchelte ich und der Typ lächelte mich an, während er aufstand. Und dann brach ein ziemlicher Tumult aus.

„Oh, mein Gott, sie lebt“, hörte ich Tante Rosie hysterisch kreischen, bevor sie mich in ihre Arme zog.

„Wir müssen einen Notarzt holen“, war eine Stimme aus dem Hintergrund zu vernehmen.

„Ich glaube, das ist nicht mehr nötig“, antwortete eine zweite Stimme. Ich musste husten und richtete mich auf. Um mich herum stand eine große Menschentraube. Alle starrten mich an und die Erleichterung war ihnen ins Gesicht geschrieben. Ich versuchte ein schiefes Lächeln.

„Es ist schon wieder gut. Ich bin in Ordnung.“ Mühsam kam ich auf die Beine und setzte mich auf einen Stuhl.

„Was ist passiert?”, fragte ich.

„Du hast dich verschluckt.“ Zitternd setzte Tante Rosie sich neben mich.

„Das weiß ich“, antwortete ich. „Aber wie habe ich überlebt?“

„Oh, das war dieser beherzte junge Mann. Der hat dir praktisch das Leben gerettet.“ Ich sah sie fragend an.

„Er stand da vorne am Brötchentresen, als du plötzlich anfingst nach Luft zu schnappen. Mit einem Satz war er bei dir, hat dich von hinten umfasst und kurz auf deinen Brustkorb gedrückt. Ein Stück Schinken sprang aus deinem Mund und du warst wieder bei uns.“

Die Menschen um uns her begannen sich zu zerstreuen. Einige nickten mir aufmunternd zu, andere hatten es eilig, den Ort des Geschehens zu verlassen. Ich sah mich um und wollte mich bei meinem Retter bedanken, aber ich konnte ihn nicht finden.

„Wo ist er hin?”, fragte ich Tante Rosie. Sie sah sich verwundert um.

„Ich kann ihn nicht sehen. Komisch, er scheint gegangen zu sein.“

Die Bedienung trat an unseren Tisch.

„Der junge Mann ist gegangen. Wenigstens hat er seine Brötchen mitgenommen. Ein tüchtiges Frühstück hat er sich ja wirklich verdient!“

Wie ich diesen bayerischen Humor liebte!

„Ich glaube, mein Frühstück ist beendet“, erwiderte ich und sah auf meine Uhr. Es war kurz vor acht.

„Ach, du Schreck, die Schule geht gleich los. Ich komme zu spät!”, sagte ich und sprang auf die Füße.

„Kind, du willst doch nicht ernsthaft in die Schule gehen." Tante Rosie klang, als befürchtete sie, ich hätte einen Hirnschaden davongetragen. „Komm, wir fahren wieder nach Hause“, schlug sie vor.

„Doch, ich kann in die Schule“, erwiderte ich und schulterte meinen Rucksack.

Ein Tag zu Hause, in Tante Rosies Chaos erschien mir nicht besonders erstrebenswert. Ich hatte die Hoffnung, dass nach sechs Unterrichtsstunden die gröbste Unordnung beseitigt sein würde. Außerdem erschien mir ein geregelter Unterricht als die beste Methode, um den Schreck von gerade zu verdauen.

Tante Rosie sah mich zweifelnd an. „Du bist noch ganz blass.“

„Das kommt nur vom Schreck. Ich bin wirklich wieder in Ordnung.“

Ich nickte ihr bekräftigend zu und wandte mich zum Gehen.

„Lass uns los, sonst komme ich zu allem Überfluss auch noch zu spät zu Deutsch.“


Krötenküssen

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