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Kapitel 10: Die Begegnung

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Sie sah aus wie eine Fee.

Nicht wie die Feen, die ich kannte. Keine von diesen fetten, alten Weibern.

Nein, sie sah aus wie die Feen, wie sie sich die Menschen vorstellen, wie die Feen aus Kinderbüchern. Sie war klein, zart und mit ihren kurzen roten Haaren sah sie aus wie Julia Roberts als Tinker Bell, die Fee, die Peter Pan vor Captain Hook beschützt.

Sie saß im Café und frühstückte. Ich beobachtete sie von der gegenüberliegenden Straßenseite durch die Scheibe und konnte meinen Blick nicht abwenden. Sie war nicht allein, mit ihr am Tisch saß eine ältere Frau. Die beiden hatten enorme Mengen Essen vor sich stehen und ich fragte mich zwei Dinge: Wieso war sie nicht auf dem Weg zur Schule? Konnte ein so schlanker Mensch derartig viel Essen verdrücken?

Ich riss mich von ihrem Anblick los, überquerte die Straße und betrat die Bäckerei. Es war tierisch voll vor dem Brötchentresen. Seufzend stellte ich mich an und widerstand der Versuchung, mich nach ihr umzudrehen. Sie war schön, sie war eine Fee und sie war unerreichbar – für mich.

„Was darf's denn sein?"

Endlich war ich dran.

Ich beugte mich über die Auslage und deutete auf ein paar Brötchen, doch irgendetwas irritierte mich. Irgendwie hatte ich ein komisches Gefühl im Nacken. Es war - warm. Ja, warm war der richtige Ausdruck. Irgendwie warm. Irritiert fasste ich an meinen Hals, doch da war nichts. Natürlich nicht.

„Wieviele wollen Sie?"

Die Verkäuferin sah mich ungeduldig an.

„Was?"

Ich wusste nicht, was sie von mir wollte.

Das warme Gefühl wanderte von meinem Nacken hinab über den Rücken, bis zu meinem Hintern.

„Brötchen. Wieviel Brötchen wollen Sie?"

„Ich weiß nicht, vielleicht sechs", murmelte ich und drehte mich irritiert herum.

Dabei sah ich sie an.

Und plötzlich wusste ich es.

Es war ihr Blick gewesen, der sich in meinen Nacken gebrannt hatte.

Irre! Sowas hatte ich noch nie erlebt! Ich konnte ihre Blicke spüren.

Sie peilte, dass ich wusste, dass sie mich ziemlich gründlich gemustert hatte und ich musste grinsen. Doch das Grinsen blieb mir im Hals stecken, weil sie offensichtlich ein ähnliches Problem hatte. Scheiße, ich wollte sie doch nicht so in Verlegenheit bringen, dass ihr gleich das Frühstück im Hals stecken blieb!

Sie sah mich entsetzt und mit weit aufgerissenen Augen an. Verzweifelt versuchte sie, Luft zu bekommen. Schließlich verdrehte sie die Augen und sank in sich zusammen. Vom Verkaufstresen bis zu ihrem Tisch waren es nur wenige Schritte. Ohne zu überlegen spurtete ich los, umfasste sie von hinten, drückte auf ihren Brustkorb und ein Stück Schinken sprang aus ihrem Mund. Sie war so zart, so zerbrechlich in meinen Armen, dass ich schon befürchtete, ihr ein paar Rippen gebrochen zu haben. Doch als sie hustend und nach Luft schnappend wieder zu sich kam, gab sie keinen Schmerzenslaut von sich. Offenbar war alles in Ordnung mit ihr.

Widerwillig ließ ich sie zu Boden gleiten und der zu erwartende Tumult brach aus. Ihre ältliche Begleiterin stürzte sich unter lautem Rufen auf sie und begann, sie an sich zu drücken. Die Hausfrauen bildeten einen Kreis um die beiden und tauschten aufgeregt Geschichten über ähnliche Begebenheiten aus, die offenbar jede von ihnen schon einmal erlebt oder miterlebt hatte. Die Bedienung stand abwartend daneben – als ob sie darauf wartete, dass jemand neuen Schinken bestellte.

Niemand beachtete mich mehr. Ich nahm meine Brötchen vom Verkaufstresen und verschwand aus der Bäckerei.

Es war klar, dass zu Hause alle Bescheid wussten. Als ich ankam, saß schon ein kleines Tribunal bereit. Ich warf die Tüte mit den Brötchen auf den Tisch und sah sie an.

Soweit ich mich erinnern konnte, war dies mein achtes Zuhause. Beständig waren wir um die Welt gezogen. Die Magic Family – so nannten wir uns. Eine Zaubererfamilie, eine Zaubershow. Ich war Teil dieser Show, ebenso wie meine Eltern und meine Geschwister. Die Magic Family zog um die Welt, doch damit sollte nun Schluss sein. Am Arsch der Welt wollten wir uns niederlassen und ein Varieté eröffnen. Auf so eine dämliche Idee konnte nur mein Vater kommen.

„Ah, der Samariter ist zurück!”, begrüßte mich mein Vater mit einem gequälten Lächeln.

Ich entgegnete nichts und setzte mich auf den einzigen freien Stuhl am Tisch. Schützend verschränkte ich die Arme vor meiner Brust.

Sie sahen mich an und schwiegen ebenfalls. Die Situation war unangenehm. Ich räusperte mich und blickte zu meiner Mutter.

Sie sah mich an und warf ihr langes schwarzes Haar über die Schulter auf den Rücken zurück. Meine Schwester saß neben ihr und tat es ihr gleich.

„Mann, Rasputin, kannst du dich nicht mal beherrschen?”, fuhr sie mich an.

„Was habt ihr? Hätte ich das Mädchen ersticken lassen sollen?“

Mir war, als würde ich ein unmerkliches Nicken bei allen am Tisch entdecken.

„Ihr spinnt wohl!”, entfuhr es mir.

„Wir sind seit zwei Tagen in dieser Stadt und wir wollen hier bleiben. Es war unfassbar schwer, ein geeignetes Objekt zu finden. Wir haben monatelang gesucht und du lässt alles sofort auffliegen, um so eine dumme Göre zu retten.“

„Was habe ich denn auffliegen lassen? Sie hatte ein Stück Schinken im Hals und ich habe es entfernt. Das ist alles, das ist die ganze Geschichte.“

„Genau das ist der Punkt. Du hast es entfernt. Warum hat es nicht jemand anders gemacht?”, fragte mein Vater mit genervtem Seufzen.

„Es war gerade niemand da“, verteidigte ich mich.

„Offenbar hast du es aber auch nicht darauf angelegt, dass dir jemand diesen Job abnimmt“, stimmte nun auch noch mein Bruder in das Klagelied mit ein.

„Zum Beispiel jemand, der dafür eine konventionelle Methode benutzt hätte?“ ergänzte meine Mutter und tippte sich dabei missbilligend an die Stirn.

„Wie würdet ihr den Heimlich-Griff denn bezeichnen?”, antwortete ich einigermaßen verwundert. Ich dachte, sie wüssten alles. Offenbar war das nicht der Fall.

„Heimlich-Griff? Was soll das denn sein?”, erkundigte sich meine Mutter.

„Das ist ein Rettungsgriff, bei dem man den Erstickten von hinten umfasst und dann auf seinen Brustkorb drückt. Dabei springt meistens das raus, was in seiner Luftröhre quer sitzt – das weiß doch jeder.“

„Und du beherrscht den Heimlich-Griff?“

„Ja, verdammt, ich beherrsche den Heimlich-Griff. Wer einen Führerschein hat, sollte das zumindest. Ihr scheint davon ja wohl noch nie was gehört zu haben. Wie habt ihr denn euren Führerschein bekommen?”, entgegnete ich ziemlich pampig obwohl ich sehr genau wusste, wie alle Anwesenden, mit Ausnahme von mir, ihren Führerschein bekommen hatten.

Die Mienen am Tisch hellten sich auf. Mein Vater stieß erleichtert die Luft aus und meine Mutter legte spontan ihre Hand auf meine.

„Warum haltet ihr mich für total bescheuert?”, schrie ich empört und wollte aus dem Zimmer stürzen. In diesem Moment fuhr mit quietschenden Reifen ein Wagen auf den Hof, eine Autotür fiel lautstark ins Schloss und wenige Sekunden darauf klingelte es an der Haustür.

Alle sahen mich an. „Ich erwarte niemanden“, sagte ich einigermaßen verwirrt.

„Wer kann das sein?”, fragte meine Mutter in Richtung meines Vaters.

Mein Vater erhob sich. „Ich werde nachsehen“, sagte er und machte sich auf den Weg zur Haustür. Währenddessen klingelte es ein zweites Mal. Wir konnten hören, wie er die Tür öffnete, und ihm ein Redeschwall entgegenschlug, noch bevor er ein einziges Wort sagen konnte.

„Ach, mein Lieber, entschuldigen Sie bitte, dass ich schon wieder stören muss“, hörten wir eine laute Stimme sagen. Wir sahen uns an. Diese Stimme kannten wir schon vom Tag unseres Einzugs. Die Nachbarin, die schon unsere Hilfe gebraucht hatte, weil sie sich ausgesperrt hatte. Gespannt warteten wir darauf, was nun kommen würde.

„Mein Lieber, Sie können sich nicht vorstellen, was mir heute widerfahren ist! Um ein Haar hätte meine Nichte ihr junges Leben ausgehaucht, weil sie sich verschluckt hatte. Wäre nicht dieser beherzte junge Mann gewesen – ich weiß nicht, wie diese Geschichte ausgegangen wäre!“

Wir hörten meinen Vater Luft holen und zu einer Erwiderung ansetzen, aber er kam nicht so weit.

„Mein lieber Dr. Malinkow – so war doch Ihr Name, nicht wahr? Könnten Sie sich vorstellen, mir noch einmal aus einer misslichen Lage zu helfen? Ich muss etwas zur Beruhigung meiner Nerven tun, aber leider bekomme ich mein Medikament nicht auf. Vielleicht könnten Sie einmal Ihr Glück mit diesem Schraubverschluss versuchen?“

Wir sahen uns an.

„Ich weiß“, hörten wir wieder ihre Stimme. „Es muss komisch wirken, wenn jemand am helllichten Vormittag mit einer Flasche Wodka vor Ihrer Tür steht. Denken Sie nichts falsches, Dr. Malinkow, denn ich sage Ihnen eines: Mein Adrenalinspiegel ist sicher nicht mit Baldriantropfen zu beruhigen. Ein kleines Schlückchen Alkohol wirkt dagegen Wunder.“

„Da haben Sie ja wirklich einen gehörigen Schrecken ausgestanden“, kam mein Vater endlich zu Wort. „Ich glaube Ihnen gerne, dass Sie sich erstmal wieder beruhigen müssen. Aber meinen Sie wirklich, dass Sie dafür das richtige Mittel haben?“

„Machen Sie sich mal um mich keine Sorgen“, entgegnete unsere Nachbarin und wir glaubten, einen kleinen unwirschen Unterton in ihrer Stimme zu hören.

„Natürlich nicht, meine Liebe“, lenkte meine Vater ein. „Dann zeigen Sie mal die widerspenstige Flasche her.“

Wir hörten, wie er sich mit dem Flaschenverschluss abmühte und schließlich konnten wir aus einem vernehmlichen Knirschen schließen, dass er erfolgreich war.

„Ah, ich sehe, Sie sind ein starker Mann!“

Meine Mutter zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, wir grinsten amüsiert.

„Nun übertreiben Sie aber“, hörten wir meinen Vater charmant versichern.

„Ich hoffe, ich kann Ihnen demnächst auch mal einen kleinen Gefallen tun“, zwitscherte die Stimme.

„Also, wenn Ihnen mal das Salz ausgeht, dann kommen Sie doch einfach vorbei!“

„Das werde ich gerne tun, vielen Dank für das nette Angebot“, hörten wir meinen Vater rufen, während sich Schritte entfernten und eine Autotür geräuschvoll geschlossen wurde.

Neugierig sahen wir alle zum Fenster hinaus in den Hof und bekamen gerade noch die Staubfahne mit, die ein rotes Cabrio hinter sich herzog.

Mein Vater kam zurück in die Küche.

„So, so, dann hast du also unserer jungen Nachbarin das Leben gerettet. Ein nettes Mädchen!“

„Du kennst sie?”, fragte ich verwundert.

„Ja, sie stand neulich im Schlafanzug vorm Haus, als ihre Tante mich als Türöffner benutzt hat.“

Er grinste leicht bei dieser Erinnerung. Plötzlich wurde er ernst und sah mich an.

„Rasputin, entschuldige, dass ich vorhin so zynisch war. Aber du weißt, wie wichtig es ist, dass wir hier Fuß fassen und ich hatte befürchtet, dass wir die Zelte, die wir noch nicht mal aufgebaut haben, schon wieder abreißen müssen.“

Ich wollte zu einer Erwiderung ansetzen, aber er hob beschwichtigend seine Hand.

„Mein Junge, du hast alles richtig gemacht.“

Ich glaubte, nicht recht zu hören. Ein Lob aus dem Mund meines Vaters war ziemlich selten.

„Du warst mutig, hast einem Menschen das Leben gerettet und uns in keinster Weise verraten. Ich muss sagen, dass ich wirklich geradezu stolz auf dich bin.“

Meine Mutter stand auf und legte den Arm um mich. „Dein Vater hat Recht. Und es tut mir leid, dass ich dir im ersten Moment nicht vertraut habe. Das soll nicht wieder vorkommen.“

„Alter, mir tut es auch leid“, ließ sich mein Bruder vernehmen. Dies aus seinem Munde war eine größere Entschuldigung als ich hätte mir träumen lassen. Obwohl wir fast gleichaltrig waren – er war nur zwei Jahre jünger als ich – waren wir doch selten einer Meinung.

Nur meine Schwester, die sich, da sie einige Jahre älter war als wir, für das stellvertretende weibliche Oberhaupt der Familie hielt, stand auf, strich mit der ihr eigenen Geste die Haare aus dem Gesicht und zischte mir im Vorbeigehen zu: „Na, diesmal hast du ja Glück gehabt. Ich weiß, dass wir uns nicht immer auf dich verlassen können. Das hast ja in Edinburgh gründlich bewiesen.“

Meine Güte, wann würde sie es mir endlich verzeihen, dass wir damals wegen meiner Unvorsichtigkeit dort die Zelte abbrechen und sie ihren smarten schottischen Lover zurücklassen musste?

„So, meine Lieben“, ahmte meine Mutter unsere Nachbarin nach und es gelang ihr, täuschend echt deren Stimme zu imitieren. „Genug geredet, an die Arbeit.“

Der Eulenhof, den wir hier in Besitz genommen hatten, befand sich noch in einem völlig verwahrlosten Zustand. Der Begriff Ruine wäre eigentlich zutreffender gewesen. Fürs erste hatten wir nur wenige Räume in einen bewohnbaren Zustand versetzt, damit wir es einigermaßen behaglich hatten. Natürlich musste auch dies verborgen bleiben, wie hätten wir es erklären sollen, dass wir innerhalb von zwei Tagen fünf Zimmer renoviert hatten?

„Hier muss jetzt bis heute Abend lauter und vernehmlicher Baulärm erschallen“, ließ sich mein Vater vernehmen.

Seufzend verließen wir nacheinander die Küche. Vor der Tür saß Schwanz wedelnd Wolf.

„Alter, wir haben dich ausgesperrt“.

Mein Bruder beugte sich zu ihm hinab und tätschelte seinen Kopf. Wolf war eigentlich nicht der richtige Name für einen Hund, der so winzig war, dass er kaum ein Zwergkaninchen überragte. Ich war jedenfalls froh, dass seine Gestalt nicht seinem Namen entsprach. Das hätte auch nur Komplikationen bedeutet.

„Das hätte mir noch gefehlt, dass der auch noch seinen Kommentar zu mir abgegeben hätte“, sagte ich zu Ruben, stieg über Wolf hinweg und schlug den Weg in den hinteren Teil des Hauses ein.

Hier lagen einige große Räume, die sich in einem mehr als verrotteten Zustand befanden. Natürlich war es vollkommen unnötig, hier Muskelkraft aufzuwenden, aber irgendwie hatte ich Lust dazu, mich auszutoben.

Der infernalische Lärm und das heftige Vibrieren in meinen Händen taten mir gut und lenkten mich von meinen Gedanken ab. Ich hatte schon eine ganze Weile mit dem Presslufthammer gearbeitet und ein gutes Stück der Wand abgerissen, als sich ein warmes Gefühl über meinen Nacken ausbreitete.

Ich erstarrte.

Die Fee war da.

Ich wagte nicht, mich umzudrehen. Ihr Blick glitt über meinen Kopf, meinen Nacken, meinen Rücken, landete schließlich auf meinen Stiefeln und kehrte wieder um. Es war, als würde sie mich streicheln, wie eine zarte Berührung, die mich elektrisierte und ein wohliges warmes Gefühl zurückließ. Ich wollte, dass es nicht aufhörte; also arbeitete ich weiter, als würde ich sie nicht bemerken. Einige Augenblicke vergingen, bis sich plötzlich ihr Blick von mir löste.

Ich schaltete rasch den Presslufthammer aus und setzte die Ohrenschützer ab. Draußen war ein leises Kläffen zu hören, das abrupt verstummte.

Mein Freund, der Wolf, hatte sich hier wohl eingemischt. Wenn er doch nur mal seine Schnauze aus Angelegenheiten lassen könnte, die ihn nichts angingen! Hoffentlich hatte sie keine Angst vor Hunden. Vor diesem Hund hatte allerdings kein Mensch Angst, auch wenn es durchaus angebracht gewesen wäre.

Ich drehte mich zum Fenster um und wollte so tun, als wäre ich überrascht, sie hier zu sehen. Aber es war nichts zu sehen. Sie stand nicht vor dem Fenster. Sie war verschwunden. Ich ging näher heran und schaute den Weg hinauf und hinab, der hinter dem Haus entlang führte. Auch hier konnte ich sie nicht ausmachen. Seltsam. Vielleicht hatte ich mich doch getäuscht. Aber ich war so sicher gewesen, dass die Fee mich mit ihrem Blick gestreichelt hatte.

Verärgert rief ich nach Wolf und griff erneut nach dem Presslufthammer.

Krötenküssen

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