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Kapitel 12: Der Wolf und die Fee

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Es war wie eine Art geistige Behinderung. Zumindest empfand ich es so.

Aber schlimmer als eine gewöhnliche Behinderung war es eine, die verheimlicht werden musste, weil sie beängstigend war für alle, die sie nicht hatten und auch beängstigend war für die, die sie hatten. Vielleicht war es nur ein Gendefekt, der dafür sorgte, dass wir Dinge tun konnten, die andere Menschen nicht vermochten. Vielleicht war es auch eine „Gabe“, wie meine Mutter immer zu sagen pflegte. Ich tendierte mehr zum Gendefekt, da es ja erwiesenermaßen erblich war.

Auf jeden Fall war es ziemlich nervig, denn es führte dazu, dass ich permanent meine Gedankten kontrollieren musste, damit kein Unglück geschah oder ich mich plötzlich in einer Situation befand, die ich nicht erklären konnte.

Ein Außenstehender würde uns als Zauberer bezeichnen, denn auf zauberhafte Weise geschahen Dinge nur kraft unserer Gedanken, aber ein Außenstehender durfte niemals erfahren, was wir vermochten.

Es war schon Nachmittag, als wir wieder den Hof erreichten. Aaron sprang vom Pferd und flitzte auf meine Schwester zu, die gemeinsam mit meinen Eltern und meinem Bruder im Hof stand.

„Constanze, schau mal hier. Eine Perle für dich!“ Strahlend kramte er in seiner Tasche und holte seinen Schatz hervor. Die Perle zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, stellte er sich auf die Zehenspitzen und hielt sie Constanze vor das Gesicht. „Die habe ich in einer Muschel gefunden. Extra für dich!“

„Hey, toll, Kleiner!“ Constanze nahm ihm die Perle aus der Hand, schenkte ihr weiter keine Beachtung und steckte sie die Gesäßtasche ihrer schwarzen Jeans. Auch meine Eltern reagierten nicht auf dieses nun wirklich nicht gewöhnliche Geschenk, sondern sahen über Aaron hinweg und es schien, als suchten sie mit ihren Blicken den Hof ab.

Ich stieg von Seraphim und sah die anderen an.

„Ist was los?”, fragte ich meinen Vater.

„Ja, Wolf ist weg. Mal wieder.“

„Wir haben ihn seit heute Mittag nicht mehr gesehen“, ergänzte meine Mutter.

„Bei mir ist er nicht“, erklärte ich, obwohl es ganz offensichtlich war, dass wir unseren Ausflug ohne ihn gemacht hatten.

„Er wird schon wieder kommen“, sagte ich betont lässig. Dabei war mir bei dem Gedanken, dass er sich mal wieder alleine auf den Weg gemacht hatte, nicht wirklich wohl. „Er will halt ein bisschen die Gegend erkunden.“

„Ich möchte nicht, dass er hier alleine umherstreift“, ließ sich mein Vater vernehmen. „Rasputin, sieh dich doch bitte mal um, ob du ihn finden kannst. Wir sind schon ganz entnervt von der Sucherei.“

Das fehlte mir noch, dass ich nun auch noch dieses Vieh suchen musste. Sollte er doch ein bisschen durch die Gegend rennen. Immerhin war es helllichter Tag – was sollte da schon groß passieren – außer, dass der Winzling von einem anderen Hund gefressen wurde. Für uns würde das ein paar Probleme weniger bedeuten.

Mein Unwillen schien mir deutlich ins Gesicht geschrieben, denn meine Mutter setzte noch energisch hinzu: „Er muss auf jeden Fall wieder zu Hause sein, bevor es dunkel wird. Also, mach dich auf den Weg.“

„Yes, Ma’am“, antwortete ich halb spöttisch, halb ehrfurchtsvoll. „Ich bringe nur noch schnell die Tiere in den Stall zurück. Dann geht es los.“

Die Geschichte mit der Muschel und der Perle konnte ich auch noch später erzählen.

Ich suchte bereits eine Stunde unser Anwesen ab und hatte mich mit Staub und Dreck vollkommen eingesaut, als ich einsah, dass Wolf hier nicht zu finden war. Anscheinend hatte er sich tatsächlich auf eine kleine Spritztour begeben. Notdürftig klopfte ich meine Kleidung ab und entfernte die gröbste Staubschicht, bevor ich den Hof durch das Tor verließ.

Die Sonne war inzwischen schon deutlich gesunken und es würde nicht mehr lange dauern, bis es begann, dämmrig zu werden. Spätestens dann sollte das Vieh zu Hause sein.

Ich umrundete den Hof von außen und ließ meinen Blick zwischen Büschen und Hauswand schweifen. Schließlich wandte ich meine Schritte ab und ging den Weg entlang, der sich hinter unserem Haus wand. Plötzlich glaubte ich, ein Kläffen zu hören. Ich blieb stehen und lauschte. Tatsächlich, ein leises Kläffen drang an mein Ohr. Ich war mir nicht sicher, ob es von Wolf stammte, richtete jedoch trotzdem meine Schritte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Mit jedem Schritt wurde es lauter und ich glaubte, Wolfs Stimme zu erkennen. Allerdings mischten sich auch dunklere Töne dazwischen; Wolf schien nicht alleine zu sein. Ich beschleunigte meine Schritte und folgte dem Gebell.

Nach wenigen hundert Metern stand ich vor einem großen, extrem stabilen Tor, das den Hintereingang in den Garten unserer Nachbarn markierte. Das gesamte Anwesen war von einem mannshohen Drahtzaun umgeben, der außen von einer ebenso hohen Buchenhecke umsäumt wurde. Ich fragte mich, warum diese undurchdringliche Hecke noch einmal von innen mit einem Zaun gesichert war. War das hier Fort Knox? Hatten die Nachbarn auch etwas zu verbergen? Suchend spähte ich durch das Tor und sah tatsächlich Wolf, wie er vor einem grauen Werwolf stand. Vor den beiden stand die Fee und betrachtete sie mit einem ängstlichen Ausdruck auf ihrem Gesicht.

Mein erster Impuls war, über das Tor zu springen, den Werwolf zu töten, die Fee zu retten und Wolf in den Arsch zu treten.

Glücklicherweise konnte ich mich beherrschen und so stellte ich fest, dass erstens das Tor sowieso nicht abgeschlossen und von außen leicht zu öffnen war. Zweitens der Werwolf kein Werwolf sondern einfach nur ein riesiger, stinkender, extrem hässlicher Hund war und die Fee sich drittens offenbar nicht in Gefahr befand – wenn man einmal von Wolf absah.

Ich blieb vor dem Tor stehen und beobachtete eine Weile das seltsame Treiben auf dem Rasen. Wir suchten das Vieh wie verrückt und dabei tyrannisierte es den Nachbarshund. Kaum zu glauben.

Ich ließ die beiden außer Acht und konzentrierte mich auf die Fee. Irgendwie machte es mich befangen, sie heimlich aus der Nähe zu betrachten, aber trotzdem konnte ich meinen Blick nicht von ihr lösen. Sie stand, feengleich, im sanften Licht der frühen Abendsonne unter diesem Apfelbaum, der, um auch noch das letzte kitschige Klischee zu erfüllen, in voller Blüte war.

Ihr rotes Haar war etwas verstrubbelt, als wäre sie gerade erst aufgestanden. Sie trug das gleiche T-Shirt wie am Morgen und erst jetzt wurde mir bewusst, wie zierlich ihre Figur, die in einer engen, verwaschenen Jeans steckte, war. Sie verfolgte das Treiben der Hunde, und ihr Gesicht hatte einen etwas ängstlichen Ausdruck.

Was hatte Wolf hier angestellt? Hatte er der Fee Angst gemacht?

Unauffällig versuchte ich, mit ihm Kontakt aufzunehmen, doch er ignorierte mich geflissentlich. Dabei wusste ich genau, dass er mich längst gesehen hatte.

Gut, er hatte es so gewollt. Ich würde ihn persönlich aus diesem Garten entfernen und ihm klar machen, dass die Fee für ihn absolut tabu war.

Entschlossen öffnete ich das Gartentor und in diesem Moment ließ er vom Nachbarshund ab und sprang fröhlich, nachdem er noch ein paar Runden um den Apfelbaum gedreht hatte, auf mich zu. Mit knapper Not kam er schließlich vor meinen Füßen zum Stehen.

Ich beugte mich zu ihm herab. Laut sagte ich betont fröhlich: „Alter, da bist du ja.“ Leise knurrte ich in sein rechtes Ohr: „Wir sprechen uns noch!“

Ich richtete mich wieder auf und blickte der Fee direkt in die Augen. Nach der Erfahrung mit ihrem Blick, der auf meinen Rücken gerichtet war, hätte ich eigentlich darauf vorbereitet sein müssen, was passierte, wenn er mich direkt traf. Aber irgendwie war ich es nicht. Ich merkte, wie meine Knie weich wurden und mein Hirn sich zu einem Klumpen Neuronen zusammenzog. Irgendwie schaffte ich es aber trotzdem, von der Gartenpforte bis zum Apfelbaum zu gelangen, wo die Fee immer noch reglos neben ihrem paralysierten Hund stand.

Ich tätschelte seinen monumentalen Kopf, während ich versuchte, mich wieder einigermaßen zu fassen.

Die Fee starrte mich an. Ich bemerkte, wie ich zu schwitzen begann. War mit mir etwas nicht in Ordnung - abgesehen von all dem, das mit mir nicht in Ordnung war, aber das sie unmöglich sehen konnte? Schließlich öffnete sie den Mund und sagte etwas zu mir, dass ich nicht verstand. Es klang wie: „Du streichelst meinen Hund.“

Ich sah sie verständnislos an.

Ja klar, streichelte ich ihren Hund.

Wo war das Problem?

„Wotan lässt sich eigentlich nicht von Fremden anfassen.“

Scheiße!

„Und eigentlich wollen Fremde ihn auch gar nicht anfassen.“

Verdammt, jetzt hieß es cool bleiben.

Natürlich ließ sich Wotan – was für ein Name für dieses Urzeitmonster - von mir anfassen. Mir war noch kein Tier unter der Sonne begegnet, das sich nicht von mir anfassen ließ. Doch die Erklärung dafür konnte ich natürlich nicht liefern. Also sagte ich nur betont lässig: „Ich mag Hunde, die merken das.“ Ging es eigentlich noch dämlicher?

Die Fee sah mich zweifelnd und ungläubig an. Aber noch bevor sie etwas entgegnen konnte, schallte eine tiefe Frauenstimme durch den Garten und nannte die Fee bei ihrem Namen.

Mia.

Den Rest des Satzes verstand ich nicht mehr. Ihr Name klang noch immer in meinen Ohren.

„Du bist also Mia“, sagte ich und streckte ihr völlig konfus die Hand entgegen. „Ich bin Rasputin.“

Sie ignorierte meine Hand, was wahrscheinlich auch besser war, denn womöglich hätte mich bei dieser Berührung der Schlag getroffen. Unvermittelt sagte sie stattdessen:

„Du hast heute mein Leben gerettet.“

Ich zog meine Hand, die noch immer nutzlos zwischen uns schwebte, wieder zurück und kam mir blöd vor. Um den Eindruck zu revidieren, machte ich auf cool:

„So dramatisch würde ich das nicht sehen!“ Was für ein dämlicher Satz; natürlich war es dramatisch gewesen! Aber es kam noch dämlicher.

„Und dann warst du plötzlich weg“, stellte sie sachlich fest.

„Ich musste mich beeilen“, hörte ich mich sagen. Himmel, die Fee schien mein Sprachzentrum zu lähmen oder vielleicht mein gesamtes Großhirn. Was stammelte ich da für einen Unsinn?

Gerettet wurde ich durch eine schrill gekleidete ältere Frau, die mit großen Schritten durch den Garten auf uns zukam. Ich erkannte sie sowohl an ihrem Outfit als auch an ihrer Stimme. Sie war es gewesen, die heute Morgen mit Mia im Café war und sie war es auch gewesen, die heute Vormittag bei uns mit ihrer Flasche Schnaps in der Hand geklingelt hatte. Und nun redete sie davon, dass ihre Nichte, also war sie wohl die Tante, dem Alkohol verfallen war. Ich warf einen prüfenden Blick auf die Fee, um zu sehen, ob sie betrunken war, kam aber nicht dazu, irgendetwas zu sagen, denn Tante Rosie, wie Mia sie nannte, setzte zu einer Dankestirade an, die sich über gefühlte zehn Minuten erstreckte und in der ich erfuhr, dass die Fee sich offenbar nur versehentlich am Nachmittag betrunken hatte und außerdem offenbar für ein Jahr mit dieser Verrückten alleine war.

Insgeheim zog ich die Möglichkeit in Betracht, dass „Tante Rosie“ wie ein Insekt über Tracheen verfügte, die es ihr ermöglichten, Atmen und Reden unabhängig von einander zu betreiben, als sie dann doch plötzlich Luft holen musste und kurz verstummte.

Während des ganzen Redeschwalls sah die Fee mich peinlich berührt an. Ich hielt mich weiter an ihrem Monsterhund fest und brachte ein: „Geht es dir gut?“ hervor, ehe ihre Tante, versorgt mit Sauerstoff, wieder das Wort ergriff. Sie lud mich nun zum Essen ein.

Ich war völlig perplex und wusste nicht so recht was ich sagen sollte. Heute Morgen war ich noch der Held und nun schien es so, als würde ich hier von einer Peinlichkeit in die nächste stolpern.

Also betraten wir das Haus der Fee. Ich weiß nicht, was ich mir vorgestellt hatte, aber auf das, was mich erwartete, war ich nicht vorbereitet. Vor mir breitete sich ein unbeschreibliches Chaos aus. Die gesamte untere Etage schien weitgehend durch unzählige zum größten Teil geöffnete aber nicht ausgeräumte Umzugskartons unbewohnbar gemacht. Mias Tante schien dies allerdings nicht weiter zu stören, denn munter stolzierte sie vor uns her in die Küche.

Zu meiner Überraschung stand hier zwischen verstreutem Wohnzimmermobiliar und einem Computer tatsächlich Essen auf dem Herd und es roch sehr appetitlich.

Ich bemerkte, dass mir der Magen knurrte. Tatsächlich hatte ich eigentlich den ganzen Tag über nichts gegessen.

Mias Tante tischte irgendwas mit Hühnchen auf und ich erklärte höflich, dass es sich um eines meiner Leibgerichte handelte, während ich unablässig aus dem Augenwinkel die Fee beobachtete und dabei gleichzeitig auf die zahllosen Fragen ihrer Tante antwortete.

Die Fee schwieg.

Was den Redefluss anging, schien sie nicht viel mit ihrer Tante gemeinsam zu haben. Oder war es ihr unangenehm, dass ich jetzt hier zusammen mit ihr saß? Vielleicht fand sie mich ja blöd, und wäre mich gerne nach einem kurzen „Danke schön“ für die Lebensrettung wieder losgeworden? Wahrscheinlich war es so. Dass man jemandem das Leben rettete, bedeutete ja nun noch lange nicht, dass sich dieser sofort hoffnungslos in seinen Retter verliebte. Das gab es ja wohl nur in Romanen. Schlechten Romanen!

Ich war ein Idiot und wer hatte mich in diese bescheuerte Situation gebracht? Wolf! Wo steckte er überhaupt? Diskret ließ ich meinen Blick schweifen und entdeckte ihn, wie er schwanzwedelnd Tante Rosie zu Füssen lag. Diese setzte währenddessen ihre inquisitorische Befragung fort.

Die Fee schwieg weiterhin.

Rosie entrang mir das Bekenntnis, dass ich die Schule noch nicht beendet hatte und noch ein Jahr bis zum Abitur brauchte. Wenn wir uns einigermaßen niedergelassen hatten, würde ich hier das letzte Jahr am Gymnasium absitzen.

Die Fee hustete.

Ihre Tante sah sie entsetzt an, weil sie dachte, sie hätte wieder etwas im Hals stecken. Ich sah sie entsetzt an, weil ich mir sicher war, dass sie sich ob der Aussicht, mich nun auch noch tagtäglich treffen zu müssen, vor Schreck verschluckt hatte.

Sie sah uns beide mit Tränen in den Augen an und meinte: „Alles in Ordnung, ich habe mich nur ein bisschen verschluckt.“

Betont sachlich sagte ich zu ihr gewandt: „Passiert dir das öfter? Dann solltest du mal zum Arzt gehen.“

„Nein, nein“, hüstelte sie. „Eigentlich verschlucke ich mich sonst nie.“

Komisch, warum dann zweimal an ein und demselben Tag, fragte ich mich im Stillen.

Es wurde Zeit für mich zu gehen. Wie von Zauberhand klingelte mein Handy gerade in diesem Moment. Komisch, dass niemand dran war; aber das merkte ja nur ich.

Ich lauschte ein bisschen in die tote Leitung und nickte dann eifrig. „Ich bin gleich da“, versicherte ich dem nicht vorhandenen Gesprächsteilnehmer und legte auf.

„Ich muss leider los“, sagte ich zu Rosie gewandt und befahl Wolf mit einem kurzen Nicken zu mir herüber.

Und um meine Popularität noch ein bisschen zu steigern, gab ich der Fee noch einen markigen Spruch mit auf den Weg, bevor ich ohne ein weiteres Wort verschwand.

Krötenküssen

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