Читать книгу Späte Rache - Lydia Jablonski - Страница 17
Kapitel 5
ОглавлениеIm Hotel lässt Vincent sein Handy auf den Boden fallen und bricht weinend zusammen. Er zittert am ganzen Körper. Ian nimmt ihn vorsichtig in den Arm und hält ihn fest. Als Vincent sich ein wenig beruhigt hat, fragt Ian: „Hey, Vincent. War das Matthew?“
Vincent nickt stumm.
„Das ist gut. Dann ist er am Leben“, stellt Ian logisch fest. Er versucht, so cool wie möglich zu sein, Vincent zu liebe. Innerlich zittert er wie Espenlaub. „Wie geht es ihm? Was hat er gesagt?“
„Ich soll 10 Millionen Bargeld auftreiben. Und keinen Mist machen. Keine Polizei. Mehr nicht. Dann war die Verbindung weg.“ Damit bricht Vincent erneut in Tränen aus.
Gegenüber von Vincent sitzt der inzwischen eingetroffene Kriminalkommissar. Er trägt Zivilkleidung. Jeans, Turnschuhe, schwarzes T-Shirt mit dem Logo einer Hardrockband. Dazu eine Lederjacke und auf seinem blondgelockten Kopf hat er ausgerechnet eine Baseballkappe der Boston Red Sox. Er ist fast zwei Meter groß, breitschultrig und hat strahlend blaue Augen.
Jacob Svenson ist Polizist aus Berufung. Als jemand versuchte, ihn für einen Werbespot zu gewinnen, musste er herzlich lachen. Er kann dem Fernsehen nicht viel abgewinnen. „Gewalt und Dummheit habe ich schon den ganzen Tag – wenn ich mich amüsieren will brauche ich keine Glotze“, sagt er immer, wenn seine Kollegen sich über das Programm vom Vorabend unterhalten.
Trotz seiner imposanten Erscheinung ist der Kommissar ein einfühlsamer Mann mit einer samtweichen Stimme.
„Ich frage nicht gern Mr. Mitchell, dennoch muss ich alles wissen. Können sie sich an irgendetwas anderes erinnern? Hintergrundgeräusche? Waren da noch mehr Personen außer ihrem Bruder und dem Täter?“
Vincent schüttelt den Kopf.
„Tut mir leid. Da war nichts. Nur Matthew.“
„Das ist okay. Es hilft uns nicht weiter, aber es ist okay. Wir werden an ihres, die Handys ihrer Kollegen, und das ihres Bruders eine Fangschaltung legen. Mein Kollege erledigt das binnen Minuten, wenn sie ihm kurz ihre Telefone geben.“
Stumm reichen die Männer ihre Handys an den Kommissar, der sie sofort weiterleitet.
Die Spurensicherung trifft ein. Herr Direktor Albrecht persönlich leitet sie in Matthews Zimmer. Kommissar Svenson leitet per Funk eine Großfahndung an.
All das geschieht streng geheim. Wenn die Presse oder die vor dem Hotel wartenden Fans Wind davon bekommen, dass Matthew entführt wurde, bringt das sein Leben noch mehr in Gefahr, als es sowieso schon ist. Sehr wahrscheinlich lebt er dann nicht mehr lange. Der Täter darf sich auf gar keinen Fall unter Druck gesetzt fühlen. Hinzu kommt, dass das Hotel für hohe Sicherheitsstandards bekannt ist. Die Entführung kann diesen Ruf ruinieren.
Als Kommissar Svenson alles in die Wege geleitet hat, kehrt er zu den CSK zurück. Er setzt sich an den großen Tisch und sagt:
„Nun können wir nur noch abwarten.“
„Werden sie Matthew retten?“ fragt Vincent und schaut so hilflos aus wie ein kleiner Junge, dem man den Lolli weggenommen hat.
„Wir tun, was immer in unserer Macht steht. Mehr kann ich ihnen leider nicht versprechen.“
„Danke“, antwortet Vincent leise. Er zittert immer noch am ganzen Körper.
„Fällt ihnen jemand ein, der einen Grund hätte, Mr. Mitchell zu entführen? Hat vielleicht jemand eine Rechnung mit ihm offen? Hatte Mr. Mitchell Feinde?“
„Tut uns wirklich leid“, sagt Ian „aber wenn man berühmt ist, lebt man immer mit der Gefahr, dass solche Dinge einfach passieren.“
„Ihren Job möchte ich nicht haben“, antwortet Svenson und meint es auch so.
„Dafür stelle ich mir ihren toll vor“, grinst Ian plötzlich. Seine positive Grundeinstellung hat die Oberhand übernommen und er will die Situation auflockern. „Ich wollte früher auch Polizist werden.“
„Warum sind sie es nicht geworden?“
„Die Musik war stärker. Ich wollte immer ein Star sein. Als damals alles anfing, habe ich meine Chance gesehen. Wenn ich etwas will, dann kriege ich das auch!“
„Das glaube ich ihnen.“
„Es war harte Arbeit. Aber immer, wenn ich auf der Bühne stehe, dann weiß ich wofür.“
„Jo, live ist das Beste überhaupt!“ grinst auch Howard. Er hat seinen Galgenhumor wiedergefunden. „Vor allem, weil die Girls auf mich stehen!“
„Auf dich?“ hakt Preston nach, der verstanden hat, dass ein wenig Rumblödeln nicht schaden kann. „Träum weiter! Ist doch ganz klar, dass sie nur auf meinen Traumbody abfahren!“
„Ihr tickt ja nicht richtig!“ wirft Vincent ein und bekommt sogar ein kleines Grinsen zustande. „Sieht doch ein Blinder mit einem Krückstock, dass alle Girls nur auf mich abfahren!“
„Und das ist nun wirklich Verschwendung!“ lacht Preston. „Ich frage mich sowieso, wo du die Motivation hernimmst. Sind doch nie genug Jungs im Publikum.“
„Aber genügend, um zu wissen, dass ich sehr attraktiv bin!“, grinst Vincent verschmitzt. Das Lächeln fällt ihm schwer, aber herumalbern hat schon immer geholfen.
„Ihren Humor haben sie offenbar nicht verloren“, bemerkt Svenson trocken.
„Wenn wir den verlieren, sind wir verloren“, gibt Ian eine seiner Weisheiten preis.
Es vergehen ein paar Stunden, in denen nichts Nennenswertes passiert. Mittags lässt Direktor Albrecht ein Büffet aufbauen. Doch nicht einmal Ian, der immer Hunger hat, mag etwas essen. Trotzdem zwingen sich alle Vier dazu, zumindest ein wenig zu sich zu nehmen. Sie wissen, dass sie die Energie brauchen. Glücklicherweise stehen bis auf das Konzert am Abend keine weiteren Termine an. Niemand wäre in der Lage, jetzt ein Interview zu absolvieren, Fans zu treffen oder sonst irgendetwas zu tun, was mit der Arbeit zu tun hat. Vincent zündet sich eine Zigarette nach der Anderen an. Es herrscht Rauchverbot im großen Saal, aber niemand sagt etwas. Der Direktor persönlich macht wortlos das Fenster einen Spalt auf. Der Saal geht auf den Innenhof hinaus, auf lauschende Fans oder Presse braucht also niemand zu achten. Dennoch stellen sich zwei Bodyguards automatisch neben das Fenster. Sie haben es im Blut.
Ein paar Minuten nach dem Essen kommt Kolja, Matthews Bodyguard, zur Tür hereingeschwankt. Zwei Männer von der Spurensicherung begleiten ihn. In ihren weißen Overalls sehen sie aus, als würden sie für den ABC Schutz arbeiten.
„Wir haben ihn gefesselt und geknebelt in einer Abstellkammer gefunden.“
„Danke“, sagt Svenson zu den Kollegen und bietet Kolja mit einer Handbewegung einen Stuhl an. Dieser setzt sich dankbar. Er reibt sich die Gelenke. Die Fesseln haben sichtbar hineingeschnitten.
„Wir sind da oben fertig“, meldet der Kollege der Spurensicherung. „Alle verwertbaren DNA sind auf dem Weg ins Labor. Vielleicht landen wir ja einen Treffer.“
„Der Raum ist versiegelt?“ fragt Svenson.
„Selbstverständlich.“
„Ich danke ihnen. Sagen sie mir bitte Bescheid, sobald sie irgendein Ergebnis haben.“
„Sicher.“
Der Kollege tippt sich grüßend an die Stirn und verlässt den Saal.
„Mein Name ist Jacob Svenson. Ich bin Kriminalkommissar.“ wendet sich Svenson an Kolja. „Zunächst einmal: Brauchen sie einen Arzt?“
„Nein, das ist nur ein Kratzer“, winkt Kolja ab.
„Wer sind sie?“, will Svenson wissen.
„Ich heiße Kolja Bratschinko. Ich bin Bodyguard und für Mr. Matthew Mitchells Sicherheit verantwortlich.“
„Können sie uns sagen, was passiert ist?“
Kolja schüttelt den Kopf.
„Ich weiß es selbst nicht genau. Ich stand vor Matthews Zimmer und habe Wache gehalten, wie immer. Da kam ein Hotelmitarbeiter mit einem Wäschekorb auf Rollen vorbei. Das ist ja nichts Ungewöhnliches. Ich habe mir jedenfalls nichts dabei gedacht. Auf einmal hatte ich einen Lappen im Gesicht und ich weiß noch, dass mir irgendwas gespritzt wurde. Im nächsten Moment wurde ich bewusstlos. Als ich wieder aufgewacht bin, lag ich in der Kammer. Ich habe so gut es ging gegen die Tür gehämmert und ihre Kollegen haben mich befreit.“
„Können sie sich an den Mitarbeiter erinnern?“
„Nicht wirklich“, gibt Kolja zu. „Ich habe ja auch nicht besonders auf ihn geachtet. Ich weiß noch, dass es auf jeden Fall ein dunkelhaariger Mann war. Er war ein wenig kleiner als ich, ich schätze ihn auf 1.70m. Aber das kann auch täuschen, er schob ja den Korb. Er war stämmig, aber nicht muskulös. Sah eher nach Fett aus.“
„Was hatte er an?“
„Die hier übliche blaue Uniform. Sonst ist mir nichts aufgefallen. Nun sagen sie mir aber doch bitte, was mit Matthew ist! Schließlich bin ich für ihn verantwortlich!“
„Tut mir leid, ihnen das sagen zu müssen, aber ihr Chef ist entführt worden. Etwas Näheres wissen wir auch noch nicht, aber wir arbeiten mit allen verfügbaren Mitteln daran, ihn so schnell wie möglich zu befreien.“
Kolja springt auf.
„Dann muss ich sofort los! Ich kann hier nicht herumsitzen und warten, während Matthew weiß der Geier was angetan wird!“
„Ich komme mit!“ schreit Vincent sofort und springt auf.
„Ich auch!“ rufen Ian, Preston und Howard im Chor und sind ebenso schnell auf den Füßen wie Vincent.
„Nix da!“ tönt es im Chor von Kolja und dem Kommissar zurück.
„Es nützt niemandem, wenn ihr euch hier einmischt.“ Kolja ist ruhig und bestimmt. „Ihr kennt euch in der Stadt nicht aus. Ihr habt keine Ahnung wo ihr anfangen sollt. Außerdem ist es alles andere als diskret, wenn vier von fünf Bandmitgliedern suchend durch die Stadt rennen. Wollt ihr Matthew umbringen?“
„Nein, natürlich nicht!“ ruft Ian. „Aber ich kann hier auch nicht einfach sitzenbleiben. Er ist mein Freund.“
„Und mein Bruder!“ wirft Vincent ein.
„Ich bin für ihn verantwortlich!“ hält Kolja dagegen.
„Sie bleiben auch hier!“ donnert Kommissar Svenson. „Ich kann keinerlei Alleingänge gebrauchen. Bleiben sie gefälligst alle, wo sie sind. Damit helfen sie Mr. Mitchell und der Polizei am meisten.“
„Sie haben wohl Recht“, knurrt Kolja. „Aber es schmeckt mir nicht.“
„Das kann ich mir vorstellen“, meint Svenson ruhig. „Die Herren hier sind eine Band. Mein Kalender sagt mir, dass sie heute Abend noch einmal in dieser Stadt auftreten werden, oder irre ich da?“
„Richtig!“ ruft Kolja und sieht aus, als wäre ihm ein ganzer Kronleuchter aufgegangen. „Ihr müsst in die Arena! Das Meet & Greet wartet auf euch und dann ist Showtime!“
„Showtime?!“ fragt Ian fassungslos. Das kommt nicht oft vor. „Wie bitte sollen wir denn ohne Matthew auftreten?“
„Sagen sie doch einfach, er sei krank“, schlägt Svenson vor.
„So einfach ist das leider nicht“, mischt sich Preston ein. „Matthew ist unser Frontmann.“
„Kann das denn sonst niemand übernehmen? Immerhin sind sie zu fünft.“
„Naja, schon…. Wir beherrschen alle die Songs. Aber das ist nicht dasselbe. Wir können ohne Matthew schlicht und einfach nicht auftreten. Sagen sie das Konzert ab. Nein, verschieben sie es“, bestimmt Ian.
„Kommt überhaupt nicht in die Tüte! Dafür müssten schon alle fünf Member krank sein. Das ist sehr unwahrscheinlich, oder?“
„Stimmt schon“, merkt Preston an. „Ihr habt damals auch weitergemacht, als ich mir den Fuß gebrochen habe.“
Ian zupft sich am Ohrläppchen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er nachdenkt. Eine schweigsame Pause entsteht.
„Wir spielen Matthew Playback ein“, sagt er schließlich.
„Das könnte klappen“, meint Howard zögernd.
„Wir nutzen den Videoscreen und spielen ein paar Bilder ein“, wirft Preston dazu.
„Ich regele das mal“, sagt Ian entschlossen, greift zu seinem Handy und organisiert die Bühnentechniker.
Svenson wendet sich an den noch anwesenden Direktor:
„Ich sage das nur ungern. Aber dennoch muss ich ihre Mitarbeiter überprüfen. Der Entführer trug eine Pagenuniform. Damit arbeitet er entweder hier, oder er hat sich die Uniform auf irgendeinem dunklen Weg beschafft.“
Direktor Albrecht tupft sich schon wieder den Schweiß von der Stirn.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer meiner Mitarbeiter…. Aber natürlich lasse ich das sofort prüfen!“
Svenson nickt wortlos. Albrecht verlässt den Saal.
„Können wir denn wirklich gar nichts tun?“, fragt Kolja eine ganze Weile später und sieht ziemlich verzweifelt aus.
„Sorgen sie einfach dafür, dass die Herren hier keinen Unfug machen. Öffentliches Interesse ist das Letzte, was wir in diesem Fall brauchen. Denken sie daran: Sollte jemand mitbekommen, was hier los ist, gefährden sie das Leben von Mr. Mitchell!“
„Alles klar, Herr Kommissar!“ sagt Kolja und baut sich diensteifrig neben den CSK auf. „Ich passe auf!“
Ian, Preston, Howard und Vincent sind darüber alles andere als glücklich. Aber sie wissen auch, dass sie sich fügen müssen. Sie können nicht einfach losmarschieren und Matthew suchen. Und sie müssen irgendwie das Konzert geben.