Читать книгу Späte Rache - Lydia Jablonski - Страница 18
Kapitel 6
ОглавлениеMatthew tut alles weh. Die Stahlfesseln drücken auf seine Gelenke, der Knebel trocknet seinen Mund aus. Die Matratze ist alt und eine Sprungfeder sticht in seinen Rücken. Er könnte schwören, dass vor einiger Zeit eine Ratte durch die Halle gehuscht ist. Direkt hinter seinem Kopf hat sich eine Spinne abgeseilt. Er sieht sie nicht. Arachnophobie ist weit verbreitet und Matthew ist von keinem Tier begeistert, dass kleiner als ein Kaninchen ist. Seine Gedanken rasen dahin, mit ihnen die Emotionen. Kommt er hier lebend wieder raus? Was machen die Anderen gerade? Haben sie die Polizei eingeschaltet? Wer ist auf der Suche nach ihm? Wo ist Kolja? Hat irgendjemand Clarissa informiert? Matthew hofft, dass das niemand getan hat. Er macht sich Sorgen um seine Frau, seit sie einen Zusammenbruch hatte. Was passiert, wenn der Entführer das Lösegeld hat? Lässt er Matthew wirklich laufen?
Nach einer gefühlten Ewigkeit hört er, wie die Metalltür quietschend geöffnet wird. Die Schritte, die sich nähern, sind nicht so schwer wie die seines Entführers. Wer auch immer da kommt, bewegt sich langsam, leise und vorsichtig. Ein vom Alter her schwer einzuschätzender Mann steht vor ihm. Er bekommt beinahe einen Herzinfarkt vor Schreck, als er Matthew entdeckt.
„Was machst du denn hier?“ fragt er auf Deutsch. Matthew versteht kein Wort. „Hast du nicht bezahlt oder was?“
Matthew kann durch den Knebel nicht antworten.
„Ach, du kannst nix sagen? Warte, ich helfe dir mal.“
Der offenbar drogensüchtige Mann hat die Arme voller Einstiche und Abszesse. Er zittert stark, als er Matthew das Isolierband abreißt und ihm den Knebel aus dem Mund nimmt. Das Abreißen tut weh, aber Matthew reißt sich zusammen und holt tief Luft.
„Danke“, sagt er mühsam. Es ist eines der wenigen Worte, die er auf Deutsch spricht.
„Kein Problem“, sagt der Andere. „Wo sind denn die Schlüssel?“
Matthew schüttelt den Kopf. Er hat nicht verstanden.
„Weißt du nicht? Das ist schlecht. Anders bekomme ich die Dinger nicht auf. Ich könnte mal einen Kumpel fragen, der hat einen Dietrich. Aber ich weiß nicht genau, wo der ist. Organisiert gerade einen Schuss oder so.“
Matthew schüttelt wieder den Kopf.
„Ich spreche kein Deutsch“, sagt er auf Englisch.
„Was?“
„Ich kann kein Deutsch“, wiederholt Matthew langsam. Doch es kommt nicht an.
„Wo kommst du denn her? Was quatscht denn da? Ich kann kein Italienisch. Das hat schon meine Ex-Frau nicht kapiert. Sie kommt aus Italien, weißte? Na, ist ja auch egal. Pass auf, ich versuch mal, meinen Kumpel aufzutreiben. Vielleicht kriegen wir dich dann hier raus. Rühr dich nicht vom Fleck!“
Damit dreht sich der Junkie um und geht zur Tür.
„Hey! Nicht weggehen!“ ruft Matthew verzweifelt. Der Junkie dreht sich nochmal um. Ein beinahe zahnloser Mund grinst Matthew an. Es soll beruhigend wirken, sieht aber eher nach Geisterbahn aus.
„Keine Angst. Ich komme wieder.“
Matthew zerrt wieder an seinen Fesseln. Der Junkie nickt.
„Ja ja, ich weiß ja. Ich komme wieder.“ Er zeigt auf sich, auf die Fesseln und die Tür. Nun hat Matthew ihn verstanden. Dankbar nickt er und lächelt den Junkie an. Der dreht sich wieder um und verlässt die Halle. Die Tür lässt er nicht ins Schloss fallen, sondern macht sie ganz vorsichtig von Hand zu. In Matthew macht sich ein kleiner Hoffnungsschimmer breit. Immerhin hat ihn jetzt jemand gefunden. Er kann nur hoffen, dass der Junkie über seinem nächsten Schuss nicht vergisst, was er gesehen hat.
***
Der Junkie hält Wort. Nur ein paar Minuten später betreten zwei Personen die Halle. Die eine ist der Junkie, die Andere offenbar auch, wenn er auch ein wenig gesünder aussieht als sein Kumpel.
„Du hast ganz schön Glück“, lächelt der fast Zahnlose. „Mein Freund war nur ein paar Straßen weiter.“
„Hi“, grüßt der Matthew und lächelt ihn an. „Mein Freund hat gesagt, du brauchst Hilfe. Zahlst du gut?“
Matthew sieht den Anderen erwartungsvoll an, hat aber außer ´Hi´ nichts verstanden.
„Der kann kein Deutsch, glaub ich.“
„Ach so. Na, dann muss er da durch. Guck dir mal die Klamotten an. Der stinkt nach Kohle sag ich dir.“
„Ja. Nun mach erst mal Achim. Ich will hier nicht länger rumstehen als nötig. So einer wie der bleibt nicht lange allein.“
Achim zieht seinen Dietrich aus der Tasche und macht sich an dem Schloss von Matthews linker Fußfessel zu schaffen. Ewa 20 Sekunden später ist sie geknackt. Ebenso gekonnt löst er auch die anderen Fesseln.
„Na, das haben wir doch schnell hingekriegt. Nun aber raus hier. Die Belohnung kannst du uns draußen geben. Nun komm, komm!“ Achim dreht sich um und winkt Matthew und seinem Kumpel, damit sie ihm folgen. So schnell sein Kreislauf es zulässt, steht Matthew auf. In diesem Moment wird die Tür geöffnet. Schwere Männerschritte kommen rasch näher. Alle drei bleiben schreckensstarr stehen.
„Was ist denn hier los?“ donnert der Entführer wütend unter seiner Maske. „Das glaube ich einfach nicht!“
Er zieht seine Waffe aus der Jacke, zielt kurz und schießt Achim mitten in die Brust. Es zeigt sich, dass er jahrelange Erfahrung im Umgang mit Schusswaffen hat. Achim sinkt stöhnend zusammen. Sekunden später ist er tot. Der andere Junkie versucht wegzulaufen, doch der Entführer stellt sich ihm in den Weg. Der Junkie fällt auf die Knie.
„Spar dir dein Geflenne!“ herrscht ihn der Täter an. „Du kannst froh sein, dass du so draufgehst.“ Damit schießt er dem Anderen auf die sehr kurze Distanz ebenfalls eiskalt in die Brust, mitten ins Herz hinein. Er fällt sofort um und ist wie Achim nach wenigen Sekunden tot.
„Schöner Mist!“ knurrt der Täter. „Da wird der Boss nicht begeistert sein.“ Er wendet sich an Matthew, auf Englisch. „Was soll der Mist? Wer hat dir erlaubt wegzulaufen? Du bringst mich nicht um mein Lösegeld! Beweg dich du Idiot! Leg dich wieder hin, zackig!“
Er wedelt mit der Waffe und Matthew bewegt sich langsam rückwärts. Der Schock über die beiden kaltblütigen Morde steht ihm ins Gesicht geschrieben. So schnell wie es ihm vorsichtig möglich ist, legt Matthew sich wieder auf die Matratze. Er zittert am ganzen Körper und der Angstschweiß läuft ihm über die Stirn. Der Täter begutachtet die Fesseln. „Verdammt! Die sind hinüber! Oh, ich könnte dich auf der Stelle umbringen!“
Matthew macht sein Testament. Er dachte immer, der Film, der in schnellen Bildern sein Leben vor dem inneren Auge zeigt, sei ein Gerücht. Matthew steigen Tränen in die Augen. Er kann sie nicht stoppen.
„Nun fang bloß nicht an zu heulen! Ich bring dich schon nicht um. Ich brauche dich lebend.“
Matthew seufzt erleichtert.
„Aber wenn ich noch ein krummes Ding von dir erlebe, kannst du dein Knie in Einzelteilen nachhause tragen. Kapiert?“
Matthew bekommt ein kleines Nicken zustande.
„Was mache ich jetzt mit dir?“ fragt der Täter, ohne eine Antwort zu erwarten. Matthew weiß auch keine. Er ist froh, unverletzt zu sein. Die Leichen liegen genau in seinem Sichtwinkel. Ihm ist übel vor Angst und Schock.
Der Täter zieht sich die Maske vom Gesicht und wirft sie in seine Sporttasche. Sein Gesicht ist schweißnass und offenbar ist es ihm egal, ob Matthew ihn erkennen kann. Dann holt er ein Smartphone aus seiner Hosentasche und wählt eine Nummer. Es tutet eine Weile, doch schließlich scheint er eine Verbindung zu haben.
„Ich bin es, Carl“, sagt er mit leicht zitternder Stimme auf Englisch.
„Was willst du? Ich habe dir gesagt, du darfst mich nicht anrufen!“
„Ja, ich weiß Boss, tut mir wirklich leid! Ich habe hier ein Problem“, stammelt Carl.
„Was habe ich damit zu tun?“
„Hier waren zwei Junkies, die wollten unseren Freund befreien. Ich habe sie erschossen.“
„Du hast was?! Von Mord war nie die Rede! Das geht auf dein Konto du Idiot! Damit habe ich nichts zu tun!“
„Ja Boss“, stammelt Carl weiter. „Aber was soll ich denn nun tun?“
„Wie blöd bist du? Entsorge die Leichen.“
„Aber wer passt dann auf Matthew auf?“ wagt Carl leise einzuwenden.
„Das kann doch nicht wahr sein! Fessel ihn und gut.“
„Die Junkies haben die Fesseln zerstört“, erwidert Carl und wird immer leiser. Der Mann am anderen Ende explodiert beinahe. Sehr bestimmt und laut antwortet er:
„Hol dir Hilfe. Und dann pass gefälligst auf, dass nicht noch mehr schiefgeht. Es kann doch wohl nicht sein, dass du Depp nicht einmal einen so einfachen Deal hinbekommst. Sei froh, dass ich nicht da bin! Ich warne dich: Sei wachsam! Noch so ein Ding und du bekommst Besuch von meinen Freunden!“
Carl schluckt. „Verstanden Boss.“
„Gut!“ erwidert der und legt auf.
Leicht zitternd steckt Carl das Handy zurück in die Hosentasche. Sekunden später holt er es wieder heraus. Matthew hat zwar nur die Hälfte des Telefonats mitbekommen, aber er kann deutlich sehen, dass sein Entführer ein Problem hat. Ist das die Gelegenheit zur Flucht? Ganz langsam richtet Matthew sich auf, bis er sitzt. Carl wirft ihm einen Blick zu, zieht die Augenbrauen nach oben und gibt etwas von sich, das wie ein Knurren klingt. Er drückt Matthew die Waffe auf die Brust. Matthew schluckt und legt sich schnell wieder hin. So war das nicht geplant. Dennoch lassen ihn die Gedanken an Flucht nicht los. Es muss einen Weg geben! Matthew überlegt fieberhaft. Ob Carl wohl irgendwo etwas versteckt, was sich als Waffe gegen ihn verwenden lässt? Die Tasche steht zu weit weg, als dass Matthew unbemerkt darin herumwühlen könnte. Er hat auch keine Chance, die Schusswaffe risikolos an sich zu reißen. Matthew seufzt leise. Wieder sieht Carl zu ihm, aber da Matthew noch liegt, schaut er wieder auf das Display seines Handys. Letztlich entscheidet er sich und wählt entschlossen.
„Ich bin es“, sagt er auf Deutsch. „Beweg deinen Hintern hierher. Es sind 10 Riesen für dich drin.“
Am anderen Ende wird etwas erwidert, aber Matthew versteht weder Carl noch den Unbekannten.
„Ist mir völlig schnurz“, sagt Carl. „Den Job wirst du mögen. Wann bist du hier? …. Geht es nicht schneller? ... Okay, ich schaukele das irgendwie. Aber mach hin!“
Carl legt auf. Dann wendet er sich auf Englisch wieder an Matthew:
„Ein Kumpel von mir wird in etwa einer halben Stunde hier sein. Wir haben also noch ein wenig Zeit zum Plaudern.“
Matthew antwortet nicht. Smalltalk ist das Letzte, wonach ihm zumute ist.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?“
Matthew schüttelt stumm den Kopf. Er weiß beim besten Willen nicht, was er sagen soll. Noch immer hat er blanke Angst und er kann seinen Entführer nicht einschätzen. Von der einen Sekunde zur nächsten wechselt dessen Stimmung. Matthew traut sich kaum zu atmen, aus Angst, den Anderen zu reizen.
„Eigentlich bin ich nur hergekommen, um dir was zu essen zu geben“, sagt Carl. „Aber wenn du hier solche Kapriolen schlägst, werde ich es wohl allein essen müssen. Strafe muss sein.“
Damit greift Carl in die Tasche und holt eine Dose heraus. Wieder befindet sich darin belegtes Brot und kleingeschnittenes Obst. Fingerfood. Matthew Besteck zu geben, will Carl wohl nicht riskieren. Genüsslich beißt Carl in die Mahlzeit hinein. Nur gut, dass Matthew so im Schockzustand ist, dass er sowieso keinen Hunger hat. Er hat einen allzu guten Blick auf seine toten Befreier und allein das reicht, um in ihm einen Würgereiz auszulösen. Als Carl allerdings auch die Wasserflasche allein austrinkt, fällt Matthew das Zusehen schon schwer. Der Durst, den er verspürt, ist riesengroß.
Nach dem Essen wischt Carl sich den Mund mit dem Handrücken ab und rülpst vernehmlich.
„Jetzt fühle ich mich besser!“, grinst er Matthew ins Gesicht. „Nun können wir uns richtig unterhalten.“
Matthew schüttelt noch immer geschockt den Kopf. Er weiß nicht, worüber er sich mit Carl unterhalten soll.
„Schön, wie du willst. Dann muss ich mir wenigstens dein Gejammer nicht anhören“, meint Carl achselzuckend. Er nimmt sein Handy und spielt damit herum. Die Waffe legt er nicht einmal für eine Sekunde aus der Hand.
Nach einer Weile nimmt Matthew allen Mut zusammen:
„Wie geht es weiter? Komme ich hier überhaupt wieder raus?“
„Kann ich dir nicht im Detail sagen. Ich habe Anweisung, dich am Leben zu lassen. Mehr nicht.“
Wieder entsteht eine Pause. Noch einmal nimmt Matthew seinen Mut zusammen:
„Kann ich vielleicht bitte meinen Bruder anrufen?“
„Nein.“
„Er macht sich sicher Sorgen um mich.“
„Das ist mir egal. Ich kann kein Risiko eingehen.“
Nach ein paar weiteren scheinbar endlosen Minuten kommt ein anderer Mann herein. Er ist groß und hager, seine Jeans sitzt zu tief und seine Schuhe sind ausgelatscht. Das T-Shirt hat schon bessere Zeiten gesehen.
„Igitt“, sagt er mit Blick auf die Leichen. Dann geht er einfach weiter zu Carl und Matthew.
„Hier bin ich. Aber erwarte nicht von mir, dass ich die Schweinerei saubermache! Dann gehe ich gleich wieder!“ sagt er auf Deutsch statt einer Begrüßung zu Carl.
„Als ob du dir das erlauben könntest“, höhnt Carl gegen an. „Aber mach dir keine Sorgen. Du sollst nur auf den hier aufpassen. Die Leichen entsorge ich.“
„Wer ist das?“
„Er heißt Matthew und ist ein Vermögen wert. Du kannst machen, was du willst, aber lass ihn am Leben.“
„Okay“, grinst Ralph. „Solche Aufgaben mag ich!“
„Das kann ich mir denken“, knurrt Carl. „Übertreib es nicht! Ich habe klare Anweisung, ihn nicht umzubringen. Bleibende Schäden machen sich auch nicht so gut.“
„Ja ja, geht klar“, erwidert Ralph und sieht enttäuscht aus. „Nun hau schon ab, ich hab nicht ewig Zeit.“
Carl nickt knapp und packt die beiden Toten auf eine herumstehende leere Palette. Er deckt sie mit dunkler Folie ab und packt noch ein paar Kartons drum herum und drauf. Anschließend bugsiert er seine Fracht mit einem Hubwagen aus der Halle heraus. Die Tür fällt laut knallend ins Schloss.
Kaum hat Carl die Halle verlassen, zieht Ralph seine eigene Waffe. Er sieht Matthew an und grinst.
„Du bist also ein Vermögen wert, hm?“
Matthew versteht mal wieder kein Wort.
„Hey! Antworte mir gefälligst!“ Ralph schubst Matthew an der linken Schulter. Dieser weicht automatisch zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand sitzt.
„Ich rede mit dir!“
Matthew versucht es noch einmal, seine Stimme ist zittrig:
„Ich verstehe kein Deutsch!“
„Hä? Warte mal…. Kannst du kein Deutsch oder was? Auch noch Ausländer. Das habe ich ja gern. So eine Sau wie dich bewache ich besonders gern!“ Ralph lacht laut.
Matthew hat immer noch keine Ahnung, was sein Gegenüber gesagt hat, aber das höhnische Lachen lässt ihm eiskalte Angstschauer über den Rücken laufen.
„Aber Englisch kannst du offenbar“, stellt der Andere fest.
Matthew nickt erleichtert.
„Dann bist du ja nicht ganz dumm, wenn du wenigstens das kannst“, sagt Ralph auf Englisch. Sein Englisch ist flüssig, allerdings hat er einen deutlichen Akzent.
„Wo kommst du denn her?“ will er wissen.
„Ich bin Amerikaner“, erwidert Matthew.
„Schade. Ich hätte wetten können, du kommst aus Israel oder so. Dann hätte ich dich noch lieber verprügelt.“
„Ich mag keine Gewalt. Und Fremdenhass auch nicht.“
Ralph zieht die Augenbrauen hoch.
„Ein Weichei! Das kapier ich nicht. Die Terroristen haben euch doch die Türme zerschossen. Wie kannst du die nicht hassen?“
„Was am 11. September geschah wird nie vergessen werden. Aber deshalb muss ich ja nicht alle Ausländer hassen.“
Ralph schüttelt den Kopf.
„Kapier ich nicht. Aber das ist ja dein Ding.“
Matthew zuckt mit den Achseln. Er weiß aus Erfahrung, dass es sinnlos ist, mit solch beschränkten Menschen über dieses Thema zu reden.
Ralph zieht ein großes Messer aus seinem Gürtel. Die Schusswaffe steckt er hinten in den Hosenbund. Matthew wird ganz anders, als er die Machete sieht. Doch Ralph reinigt sich nur mit der Spitze seine Fingernägel.
„Du bist also ein Vermögen wert?“ fragt Ralph noch einmal.
„Kann schon sein“, antwortet Matthew vorsichtig.
„Wie viel?“
„10 Millionen“, erwidert Matthew leise.
Ralph pfeift durch die Zähne.
„Wow, du musst ja ´ne ganz große Nummer sein. Dann mach ich das hier aber nicht für lausige 10.000 Mäuse.“
Plötzlich hat Matthew eine Idee. Er sieht seinen Bewacher an, schätzt ihn kurz ab, nimmt seinen Mut zusammen und sagt:
„Ich zahle dir eine Million, wenn du mich gehen lässt!“
Ralph sieht ihn interessiert, aber skeptisch an. Er überlegt einen Augenblick. Doch dann schüttelt er den Kopf.
„Mir nützt das nichts. Wenn ich dich gehen lasse, bin ich tot.“
„Zwei Millionen?“, versucht Matthew es noch einmal.
„Nee. Das Risiko ist mir zu groß.“
„Bitte! Sag denen, ich hätte dich überwältigt. Schließlich bin ich nicht mal gefesselt.“
„Das glaubt mir keiner. Und komm mir nicht auf dumme Ideen. Ich kann mit dem Ding hier umgehen!“ Bei diesen Worten wedelt Ralph mit der Machete.
Matthew hatte tatsächlich gerade den Gedanken, den Anderen einfach spontan anzugreifen und dann wegzulaufen. Aber nun ist seine Angst wieder größer. Trotzdem grübelt er weiter. Es muss einfach einen Ausweg aus dieser vertrackten Situation geben!
„Keine Chance!“ sagt Ralph und Matthew fühlt sich ertappt.
Ralph bohrt mit der Spitze der Machete ein bisschen unter Matthews Kinn.
„Wag es nicht. Denk nicht einmal daran. Du hast nicht den Hauch einer Chance. Ich hab nicht nur das hier, sondern auch noch eine Schusswaffe. Und ich war lange im Schützenverein. Du würdest nicht einmal bis zur Tür kommen.“
„Schon gut“, wehrt Matthew ab. „Ich mach ja nichts.“
„Kluges Kerlchen!“ meint Ralph und nimmt die Machete weg.
„Trotzdem – die zwei Millionen hätte ich gern. Wie wäre es: Du zahlst und dafür lasse ich deine Ohren, wo sie hingehören?“
Matthew fängt wieder an zu zittern. So war das nicht geplant.
„Ja, das klingt gut. So machen wir das.“ Wieder bohrt Ralph die Machete unter Matthews Kinn.
„Wo soll ich das Geld denn hernehmen? Ich habe es nicht in der Tasche.“ fragt Matthew ängstlich.
„Das ist mir doch egal!“ knurrt Ralph. „Irgendjemand wird das schon tun. Wer 10 Millionen Lösegeld für dich zahlt, zahlt auch 12 Millionen.“
„Dann muss ich meinen Bruder anrufen.“
„Ich muss erst Carl fragen. Er hat bestimmt nichts dagegen, noch einen Batzen mehr abzubekommen.“
Dazu fällt Matthew keine Antwort ein. Aber er ahnt, dass Carl wohl nicht mit einem weiteren Anruf bei Vincent einverstanden sein wird. Schließlich hat er das schon gesagt.
„Wer steckt eigentlich hinter der ganzen Sache?“ fragt er Ralph vorsichtig nach einer weiteren Weile.
„Ha! Selbst wenn ich das wüsste, würde ich es dir nicht sagen. Und nun hör auf, dusselige Fragen zu stellen. Das nervt mich.“
„Okay, sorry“, wiegelt Matthew ab, als er den zornigen Ausdruck in Ralphs Gesicht sieht. Bloß nichts riskieren, mit dem ist nicht gut Kirschen essen.
Ralph spielt noch eine Weile mit dem Messer herum. Matthew sitzt da und versucht, ihm nicht zuzusehen. Hin und wieder lässt Ralph seinen Blick über Matthew gleiten und Matthew versucht jedes Mal, ihm auszuweichen. Ralphs Blick gefällt ihm gar nicht. Er sieht ihn an wie ein Fan, der scharf auf ihn ist und sich nicht traut, nach einer Umarmung zu fragen.
Endlich geht die Tür wieder auf und Carl kommt herein. Er hat vier Ketten in der linken Hand und einen Satz Vorhängeschlösser in der rechten.
„Was anderes war nicht aufzutreiben“, sagt er zu Matthew. „Die Dinger werden ein wenig einschneiden, aber da musst du durch.“
„Warte mal Carl“, sagt Ralph bevor der sich daran macht, Matthew erneut zu fesseln.
„Was denn?“ gibt Carl unwirsch zurück und hält inne.
„Ich habe mich ein wenig unterhalten. Wieso kriege ich nur 10.000, wenn ein Anderer 10 Millionen bekommt?“
„Sei froh, dass du überhaupt was kriegst!“ knurrt Carl. „Ich könnte sonst deinen Anteil auch noch einstecken und mal einen Abstecher zu deiner Frau machen“.
„Das ist nicht fair. Wenn das alles hier auffliegt, ist mein Risiko genauso groß wie deins.“
„Das ich nicht lache. Ich habe gerade zwei Junkies gekillt. Du hast nur Babysitter gespielt.“
„Das ist doch egal! Mensch, der Typ ist 10 Millionen wert! Lass ihn seinen Bruder anrufen und dann schlagen wir 2 Millionen drauf. Die können wir teilen!“
„Der darf nicht nochmal telefonieren! Ich muss erst ein neues Handy besorgen. Die Bullen sind doch nicht blöd.“
„Denkst du wirklich, sein Bruder hat die eingeschaltet?“
„Tausendprozentig.“
„Verfluchte Scheiße.“
Carl nickt. „Außerdem – wenn der Chef rauskriegt, dass wir extra Cash machen, geht’s uns beiden dreckig.“
„Das muss der doch nicht mitkriegen.“
„Der kriegt alles mit.“
„Dann gib mir was von deinem Anteil! Mann, ich brauch die Kohle, das weißt du!“
„Ich denke ja nicht daran!“
Ralph geht auf Carl zu und sieht ihm in die Augen.
„Ich will mehr Geld! 100.000 müssen schon drin sein!“
„Du spinnst ja! Ich krieg ja selbst nur einen Bruchteil!“
„Mir doch egal!“
Ralph hält seine Machete an Carls Brust.
„Ich kann dich auch einfach killen und alles allein einsacken!“
„Als ob dir das irgendwas nützen würde. Du weißt ja nicht einmal, wer hinter der ganzen Sache steckt!“
Matthew versteht mal wieder kein Wort von der ganzen Unterhaltung. Aber er kann an den Mienen der Männer ablesen, dass sie sich streiten.
„Jetzt oder nie!“ denkt er und steht vorsichtig auf. Niemand beachtet ihn. Er schleicht an seinen Bewachern vorbei. Leise, bloß leise sein! Nur keine Aufmerksamkeit erregen. Wenn er erst hier raus ist, findet er sicher irgendwo Hilfe. Endlich, da ist die Tür. Er legt die Hand auf die Klinke und drückt sie vorsichtig hinunter. Ein schneller Blick zurück verrät ihm, dass Carl und Ralph immer noch voll und ganz mit sich selbst beschäftigt sind.
Quieeetsch – ah, die dämliche Tür klingt wirklich scheußlich.
„HEY!“ donnert Carl hinter Matthew. „Bleib stehen!“
Matthew denkt nicht daran. Er huscht durch die Tür und läuft los. Innen laufen Carl und Ralph hinterher. Matthew blickt nicht zurück. Er kann die Schritte hinter sich hören.
„Bleib stehen!“ brüllt Carl noch einmal.
Matthew läuft einfach weiter. An einer Gabelung vertraut er seinem Instinkt und biegt rechts ab. Dann wieder links, rechts, links… Matthew sprintet um sein Leben. Er hat eine super Kondition, aber nun bekommt er doch Seitenstiche. Wo, zur Hölle nochmal, ist er? Und warum sind hier überall kleine, enge Gassen und nirgendwo auch nur eine andere Menschenseele? Hier gibt es nichts als Lagerhallen und Container. Große, eiserne Schiffscontainer ohne irgendeine Möglichkeit, sich darin zu verstecken. Matthew hat nicht einmal einen Hauch von Orientierung. Er findet auch nirgendwo ein Restaurant oder sonst etwas, wo er Hilfe bekommen könnte. Hier ist wirklich nichts außer noch mehr Lagerhallen. Matthew muss kurz verschnaufen. Doch die Schritte von Carl und Ralph sind immer noch hinter ihm zu hören. Verdammt, geben die denn nie auf? So fit sehen die beiden gar nicht aus.
Es hilft nichts, Matthew muss weiterlaufen. Irgendwann muss einfach eine große Straße oder etwas anderes auftauchen.
Wieder biegt Matthew rechts ab. Seine Verfolger scheinen sich hier auszukennen, die Schritte kommen immer näher.
„Er läuft da hinten lang!“ hört er Carl hinter sich rufen. Carl spricht deutsch, Matthew hört nur die Stimme.
„Da kriegen wir ihn!“ ruft Ralph zurück. „Ich laufe linksrum, du rechts!“
Matthew biegt wieder einmal irgendwo ab. Plötzlich sieht er Carl auf sich zukommen. Matthew dreht sich auf der Stelle um und will weglaufen, aber da sieht er Ralph auf sich zukommen. Mist!
„Bleib stehen, du Depp!“ schreit Carl Matthew an. Er vergisst englisch zu sprechen, doch Matthew hat den Sinn der Worte auch so verstanden.
„Vergiss es!“ schreit er zurück. Er läuft ein Stück in Ralphs Richtung und schlägt dann einen Haken in die rechte Abzweigung hinein. Nichts wie weg hier!
Matthew läuft und läuft und es ist egal, was er tut, Carl und Ralph halten Schritt. Wie zur Hölle nochmal soll er die nur abschütteln? Matthews Kondition lässt langsam zu wünschen übrig. Er hat Seitenstechen und ist total durchgeschwitzt. Es tröstet ihn nur, dass er neben den schweren Schritten seiner Verfolger auch hören kann, dass sie außer Atem sind.
Wieder biegt er irgendwo ab. Er hat das Gefühl, im Kreis zu laufen, aber stehenbleiben kommt nicht in Frage.
„Da hinten!“ schreit Ralph. „Er ist in die Sackgasse abgebogen. Jetzt haben wir ihn!“
Matthew hört nur die Stimme, den Text hat er nicht verstanden. Plötzlich steht er vor einer riesengroßen Mauer. So ein verflixter Mist! Wohin nun? Weit und breit ist nicht einmal eine Mülltonne zum Verstecken! Er kann nur zurück, aber dann läuft er Carl und Ralph genau in die Arme. Panisch sieht Matthew sich um. Nichts. Gar nichts. Er steckt fest.
Schon biegen seine Verfolger um die Ecke. Doch Matthew wäre nicht Matthew, wenn er jetzt aufgäbe. Er macht sich zum Kampf bereit. Nicht umsonst ist er in einer rauen Ecke Bostons aufgewachsen. Er weiß, wie man sich prügelt und gewinnt.
Matthew ist total außer Atem. Außerdem ist es mittlerweile dunkel geworden und es gießt in Strömen. Eigentlich sind das denkbar schlechte Voraussetzungen für einen Kampf aber er hat keine Wahl. Er kann nur hoffen, dass sich sein jahrelanges Fitnesstraining jetzt auszahlt.
„Jetzt haben wir dich!“ ruft Carl und vergisst dabei, englisch zu sprechen. Aber Matthew hat ihn auch so verstanden.
„Das denkt auch nur ihr!“ ruft er und stellt sich in Verteidigungshaltung hin.
Carl und Ralph bleiben keinen Meter vor ihm stehen.
„Was machst du da?“ fragt Carl höhnisch wieder auf Englisch. „Glaubst du wirklich, du hast eine Chance?“
„Sag niemals nie!“ erwidert Matthew stur. „Kampflos gebe ich mich nicht geschlagen!“
Carl lacht laut und dröhnend. Ralph stimmt in das Lachen ein.
Matthew kann es absolut nicht leiden, wenn man sich über ihn lustig macht. Er packt seine imaginären Stierhörner aus, senkt den Kopf und rammt ihn Carl mitten in den Bauch. Der schnappt überrascht nach Luft und fällt auf den Allerwertesten. Nun lacht er nicht mehr.
Ralph reagiert erstaunlich schnell und boxt Matthew in die Magengrube. Matthew krümmt sich kurz vor Schmerz japsend zusammen. Ralph holt gerade erneut aus, als Matthew ihm sein Knie blitzschnell mitten in die Eier rammt. Das wirft Ralph heulend zu Boden. Carl hat sich von seinem Schrecken erholt und geht auf Matthew los. Doch Matthews Reflexe sind vom Adrenalin angetrieben und dementsprechend großartig. Er verpasst Carl eine gewaltige Kopfnuss und noch während Carl sich davon erholt, rennt Matthew schon wieder weg.
Er hat noch immer keine Ahnung, in welche Richtung er sich wenden soll. Es ist ihm auch egal. Er will nur weg.
Es dauert eine kleine Weile, bis seine Bewacher sich aufgerafft haben und wieder hinter ihm sind. Ralph hat Tränen in den Augen vor Schmerz. Carls Gesicht ist wutverzerrt. Dennoch sind sie beängstigend schnell wieder auf den Beinen und hinter Matthew her. Wieder haben sie Heimvorteil, denn Matthew rennt erneut in eine Sackgasse hinein.
„Dir zeige ich es, du kleines Arschloch!“ brüllt Carl und zieht seine Waffe. „Ist mir völlig schnurz, was aus dir wird!“
Damit zielt er im Lauf und drückt ab. Matthew schreit vor Schmerz auf und geht blutend zu Boden.