Читать книгу Späte Rache - Lydia Jablonski - Страница 22
Kapitel 10
ОглавлениеAm Hamburger Hauptbahnhof geht es wie immer turbulent zu. Menschen reisen von A nach B, treffen und verabschieden sich. Dazwischen Restaurants, Händler, Angestellte, Bettler, Drogensüchtige, Straßenschwalben und Freier. Nölende Kinder, meckernde Rentner, hetzende Arbeiter. Schon an normalen Tagen wimmelt es hier vor Zivilpolizei, Bahnhofspolizei und uniformierten Polizisten. Doch heute sind es doppelt so viele wie sonst. An jedem Gleis sind zwei Männer postiert. Kommissar Svenson sitzt im Überwachungsraum des Bahnhofs und lässt nichts aus den Augen.
An Gleis 14 steht der Intercity von Hamburg nach Rom. Er wartet auf die Abfahrt. Außerdem steht direkt an der Notrufsäule ein scheinbar vergessener, schwarzer Koffer mit der Aufschrift Hans Moser. Drinnen befinden sich 10 Millionen in Scheinen, die Polizei hat für solche Fälle einen speziellen Fond. Niemand beachtet ihn.
Um 14:10 Uhr ist noch nichts passiert. Der Koffer steht nach wie vor unberührt an Ort und Stelle. Kommissar Svenson wird langsam nervös.
Um 14:12 Uhr geht an Gleis 2 mit einem lauten Knall eine Rauchbombe hoch. Nur mit jeweils einem Abstand von ein paar Sekunden auch an den Gleisen 4, 6, 8, 10, 12 und 14.
Der gesamte Innenbereich des Hauptbahnhofs steht unter beißendem Qualm. Erschreckte Menschen schreien um Hilfe und Kinder weinen. Alle laufen quer durcheinander um schnell zu einem Ausgang zu gelangen. Es herrscht das totale Chaos. Nur Sekunden nach der ersten Rauchbombe schreit Kommissar Svenson in sein Funkgerät:
„Behaltet den Koffer im Auge!“
„Der Koffer ist weg!“ antwortet ein Kollege postwendend.
„Das kann doch nicht wahr sein!“ flucht Svenson. „Alle Mann zu den Ausgängen! Der Täter kann noch nicht weit sein!“
Sofort laufen alle Einsatzkräfte so schnell es geht zu den Ausgängen. Doch sie kommen zu spät. Der Täter ist mit dem Koffer über alle Berge.
„So ein verfluchter Mist!“ schreit der Kommissar frustriert und muss sich beherrschen, um seine Baseballcap nicht auf den Boden zu werfen. Er hat vor sechs Jahren das Rauchen aufgegeben, aber in Momenten wie diesen ist die Sehnsucht nach einer Zigarette groß. Dem Himmel sei Dank herrscht im gesamten Bahnhof Rauchverbot und bis er draußen ist, ist der kurze Anflug wahrscheinlich wieder vorbei.
„Alle Mann zurück zur Fahndung!“ bellt Svenson ins Funkgerät. Dann wendet er sich an den Kollegen der Bahnpolizei:
„Gibt es eine Möglichkeit, noch eine andere Kameraeinstellung zu sehen, in der der Täter trotz des Qualms zu erkennen ist?“
„Ich überprüfe das sofort“, antwortet der Bahnpolizist. „Aber ich bezweifle es. Wir haben für jedes Gleis drei Kameras. Das wissen sie. Und die Kameras auf den Gleisen 13 und 15 waren auf eben diese Gleise gerichtet.“
Kommissar Svenson nickt.
„Ich weiß. Aber versuchen sie es bitte trotzdem.“
„Selbstverständlich.“
„Sie wissen, wie sie mich erreichen können. Sollten sie noch irgendetwas bemerken oder eine brauchbare Aufnahme finden, melden sie sich bitte sofort bei mir. Ansonsten danke ich ihnen für die Unterstützung. Sie waren eine große Hilfe.“
„Das ist doch gar kein Problem“, winkt der Kollege ab. „Ich habe nur meine Arbeit erledigt.“
Kommissar Svenson tippt sich grüßend mit dem Zeige- und Mittelfinger an die Schläfe und verlässt den Überwachungsraum. Innerlich flucht er immer noch. So ein gerissener Mistkerl!
Svenson hat mit vielen Szenarien gerechnet - aber den gesamten Bahnhof unter Qualm zu setzen, hat nicht dazugehört.
Langsam leert sich die Bahnhofshalle. Die Menschen beruhigen sich als sie merken, dass der Qualm sich verzieht und es nicht weiter knallt. Dafür hat nun die Presse Wind bekommen und stürmt mit Mann, Maus und Kamera den Bahnhof. Sie interviewen und filmen, was das Zeug hält. Worte wie „Terroranschlag“ fallen hier und dort. Svenson könnte heulen. Er muss sofort dem Pressesprecher Bescheid sagen, damit der keine Informationen herausgibt. Das Leben von Mr. Mitchell steht immer noch auf dem Spiel.
Svenson denkt mit Grauen daran, dass er alles seinem Vorgesetzten erklären muss. In diesem Fall handelt es sich um den Leiter der Hauptwache persönlich. Der wiederum muss sich vor dem Polizeipräsidenten verantworten. Das geht bis in den Senat hinauf. Alle werden wütend sein. Vor allem, wenn sie erfahren, dass die Ursache für diese Katastrophe eine simple Lösegeldübergabe ist. Und dass noch nichts davon an die Presse darf. Dennoch greift Svenson zu seinem Handy und ruft in der Pressestelle an. Der Pressesprecher ist ein alter Freund von ihm. Er verspricht sofort, keine Informationen herauszugeben. Anschließend verlässt Svenson den Bahnhof. Am Ausgang läuft er einem Reporter in die Arme. Fritz Hansen ist ein alter Bekannter. Er verkauft für eine gute Story seine Großmutter und ist seltsamerweise immer der Erste am Tatort. Außerdem dreht er Tatsachen so, wie es am publikumswirksamsten ist. Wenn er keine Story hat, erfindet er eine. Svenson kann ihn nicht leiden. Aber er hat noch keine legale Möglichkeit gefunden, dem Kerl den Mund zu verbieten. Der dürre, mittlerweile grauhaarige und von Falten gezeichnete Reporter sieht immer aus, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen, hätte die Klamotten von letzter Woche angezogen und den Rasierer nicht gefunden. Seine grünen Augen blitzen immer irgendwie hinterhältig, selbst wenn sein Mund grinst, so wie jetzt.
„Kommissar Svenson! Das ist mir aber eine Freude, sie hier zu sehen!“
„Kann ich gar nicht finden“, antwortet Svenson schlecht gelaunt.
„Sie können mir doch mit Sicherheit sagen, was hier passiert ist. Nun kommen sie schon. Die Hamburger haben ein Recht darauf, zu erfahren was hier vorgefallen ist. Müssen wir mit noch mehr Anschlägen rechnen? Haben wir schon einen Ansatz, von wem die Bomben stammen? Gibt es vielleicht sogar schon ein Bekennerschreiben?“
„Von mir erfahren sie nichts!“ bestimmt Svenson. „Wenden sie sich an die Pressestelle der Polizei, so wie alle anderen auch!“ Damit dreht er sich um und geht zu seinem Auto. Fritz Hansen lässt sich davon nicht beeindrucken. Er ahnt, dass hier mehr dahintersteckt und das will er unbedingt als Erster erfahren.
„Nun haben sie sich doch nicht so. Ich kriege es ja doch heraus. Also können sie mir auch sagen, was hier los ist. Dann ersparen wir beide uns eine Menge Zeit.“
„Mir ersparen sie gar nichts. Und nun gehen sie und suchen sie woanders nach Sensationen. Ich habe zu arbeiten. Guten Tag!“ Mit diesen Worten setzt sich der Kommissar in sein Auto und knallt die Tür zu. Ohne weiter Rücksicht zu nehmen, lässt er den Motor aufheulen und braust davon. Die Nervensäge hat ihm jetzt wirklich noch gefehlt!
Fritz Hansen lässt sich von der Abfuhr nicht abschrecken. Er zündet sich eine weitere filterlose Zigarette an und setzt sich in seinen altersschwachen Kombi. Nach kurzer Überlegung folgt er Svenson ins Hauptrevier. So ist er zumindest der Erste, der den Pressesprecher belästigen kann.
Svenson ist schlecht bei dem Gedanken, das alles seinem Vorgesetzten erklären zu müssen. Aber es bleibt ihm nichts anderes übrig. Eine sehr unerfreuliche halbe Stunde später sitzt Svenson wieder im Auto und ist auf dem Weg ins Hotel um dort zu erklären, was geschehen ist.