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I. Einleitung: Nationalsozialistische Herrschaft und deutsche Geschichte

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„Drittes Reich“ als Kontinuum

Der Blick auf die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland, die mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 begann und mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 endete, offenbart ein komplexes, zusammengehöriges Kontinuum. Gleichwohl markiert der Beginn des Zweiten Weltkrieges eine Zäsur, die einen separat fokussierenden Blick auf die Friedenszeit des „Dritten Reiches“ sinnvoll erscheinen lässt. Schon diese gut sechseinhalb Jahre enthüllen konturscharf die kennzeichnenden Wesensmerkmale des Nationalsozialismus – eine stetig forcierte Rassenpolitik und einen beharrlichen außenpolitischen Expansionismus –, aber sie bergen doch noch die verbreitete Hoffnung, dass dergleichen aggressive Herrschaft in Deutschland in friedlicher Weise kompatibel bleiben könnte mit den übrigen Staaten Europas. Erst mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen am 1. September 1939 zerbrach auch die letzte Illusion jener, die solcherart Hoffnung über die Krisen und Konflikte der Vormonate hinweg gegen alle Erwartung bewahrt haben mochten. Wenngleich die geschichtsnotorische Erinnerung an das „Dritte Reich“ mit einer gewissen Folgerichtigkeit dominant von den ungleich monströseren Verbrechen der Kriegsherrschaft und Vernichtungspolitik in Europa geprägt bleibt, erscheint es doch angezeigt, einen erklärenden Blick auf das unterschwellige und offenbare, jedenfalls schon in den Friedensjahren angelegte Bewegungsgesetz des Nationalsozialismus zu richten, um dessen Charakteristika plastisch werden zu lassen.

Der ungekannt gewaltsam-revolutionäre Charakter und die verbrecherische Bilanz dieser zwölf Jahre deutscher Geschichte provozierten seit jeher die Frage nach dessen Ursachen und Wesen. Die Irritation darüber, dass sich ein mitteleuropäisches Kulturvolk schleichend oder im Galopp der Barbarei einer alltäglichen Willkürherrschaft teils widerwillig, teils lethargisch, teils euphorisch hingab, beschäftigte schon manche Zeitgenossen und erklärt, warum das „Dritte Reich“ inzwischen „der wohl am intensivsten bearbeitete Untersuchungsgegenstand in der modernen Geschichte überhaupt“ (Klaus Hildebrand) geworden ist.

Deutscher Sonderweg?

Auf der Suche nach Erklärungen wird bis in die Gegenwart immer wieder diskutiert, inwieweit Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert auf einem „Sonderweg“ der europäischen Geschichte geschritten sei. Dergleichen Diskussionen haben eine zweifache Perspektive. In der Tat hätten wohl viele Deutsche, die in den Jahren vor 1914 und darüber hinaus über die Rolle der eigenen Nation in der Welt nachdachten, die Frage nach ihrer nationalen Besonderheit mit innerer Überzeugung bejaht. Insofern sich also zahlreiche Deutsche sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik und dann, rassistisch übersteigert, im „Dritten Reich“ als eine „besondere Nation“ mit einer spezifischen „Sendung“ betrachteten, ist die Rede vom „positiven“ Sonderweg als verbreitetes Selbstbild zumindest bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges regelmäßig erkennbar.

Die zweite Perspektive resultiert aus dem verständlichen Bemühen, den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus zu erklären. Die These vom „negativen Sonderweg“ interpretiert die deutsche Geschichte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als ein Verlassen des vermeintlich „normalen“ Entwicklungspfades, wie ihn ökonomisch ähnlich strukturierte Länder in Westeuropa, allen voran Großbritannien und Frankreich, in ihrer politischen Evolution beschritten hatten. Die gescheiterten Revolutionen von 1848 und die konstant erfolgreiche Reformfeindlichkeit des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates nach der Reichsgründung 1871 gegenüber den Forderungen nach einer Parlamentarisierung und durchdringenden Demokratisierung konstituieren in dieser Perspektive eine vielfältig angereicherte Kontinuitätslinie „von Bismarck zu Hitler“, in der Nationalismus, Obrigkeitsorientierung und Antiparlamentarismus, Militarismus und Effizienzstreben, Bürokratievertrauen und Fürsorgeerwartung, Antimodernismus und historisch mythifizierender Irrationalismus, tief wurzelnde Präferenzen für Ordnung vor Freiheit gleichsam spezifisch deutsch zur Bereitwilligkeit kumulieren, dem scheinbar all dies neuartig amalgamierenden Nationalsozialismus die Macht zu überlassen.

Argumente zur Sonderwegsdebatte

Zwei Argumente vor allem widersprechen dieser Betrachtung. Zum einen die Vorstellung, dass es einen historischen „Normalweg“ gebe, auf dem Deutschland bis zu einem gewissen Punkt, beispielsweise 1848, 1862 oder 1871, geschritten und dann abgeirrt sei, um schließlich nach 1945 auf diesen Weg zurückzukehren. In manchen Augen mag diese Interpretation insofern etwas Verlockendes haben, als sie die grundsätzliche Anlage der deutschen Geschichte hin zur liberaldemokratischen Gegenwart als das „Normale“ impliziert, freilich, indem sie das „vergangene Reich“ (Klaus Hildebrand) der Jahre 1871 bis 1945 einer gewissen generellen Stigmatisierung preiszugeben droht, bei der man fragen muss, ob sie den seinerzeit Lebenden in toto gerecht zu werden vermag.

Das zweite Argument zielt auf die in dieser Konstruktion notwendigerweise angelegte Perspektive, dass aus bestimmten Konstellationen bestimmte Folgen entstehen. Denn problematisch, weil im Grunde unerklärlich bleibt, warum Hitler im Januar 1933 zur Macht kam. Die beschriebenen Kontinuitätslinien existierten lange vorher, brachten aber weder 1923 noch 1929 Hitler an die Regierung. Die Ernennung zum Reichskanzler war keine notwendige, sondern eine aus den Intrigen einer kleinen Kamarilla gespeiste Entscheidung, die Manchen verlockend und wünschenswert erschien, aber zu keinem Zeitpunkt zwangsläufig war. Wenngleich also viele Kontinuitätslinien deutscher Geschichte in Hitlers Herrschaft zusammenlaufen und ihn auch trugen, so ist er gleichwohl nicht ihr notwendiges Produkt.

Wenn man also die Theorie eines „Sonderweges“ als Konstruktion charakterisiert, die eine bestimmte Erwartungshaltung an einen vermeintlich „normalen“ Verlauf historischer Prozesse als Maßstab impliziert, so ist das beschriebene deutsche „Sonderbewusstsein“ (Karl Dietrich Bracher) dennoch unübersehbar. Der Regierungsauftrag an Hitler hatte nach den Krisenjahren zwischen 1929 und 1932 in vielen Augen etwas Zwingend-Verlockendes, weil sein Machtanspruch über die Wahlurnen legitimiert erschien. In Zusammenschau mit den beschriebenen Traditionen sowie einem erkennbaren Hang zur autoritätsorientierten Selbstentmündigung generierte dies eine weit reichende Akzeptanzbereitschaft, die der NS-Herrschaft vielfältig erleichternd entgegenkam. Zugleich beeinflusste auch die Deutschen jene europäische Zeittendenz der Zwischenkriegsjahre, die autoritäre Regime wie Pilze aus dem fiebrigen Boden eines allgemeinen Krisenempfindens emporsprießen ließ und dazu beitrug, dass von 25 Demokratien des Jahres 1919 im Jahr 1938 nur noch elf existierten. Gleichwohl ist festzuhalten, dass dergleichen Anfälligkeit stets auch das Maß des humanzivilisatorischen Niveaus reflektiert, das eine Gesellschaft im Verlauf ihrer Geschichte als kulturelle Tradition entwickelt hatte und zu stabilisieren vermochte. Deutschland war ein wissenschaftlich, technisch, sozial und kulturell hochdifferenziertes, im Maßstab anderer Nationen in vielen Bereichen ein über Jahrzehnte führendes Land. Vor diesem Hintergrund markiert das „Dritte Reich“ tatsächlich einen Zivilisationsbruch.

Zeitgenössische Wahrnehmung

Versetzen wir uns allerdings in die zeitgenössische Perspektive des 30. Januar 1933, als Adolf Hitler als Führer der stärksten Reichstagsfraktion zum Kanzler berufen wurde, so wird deutlich, dass die meisten Menschen in Deutschland wie in Europa kaum zu ahnen vermochten, dass dieser Vorgang etwas grundlegend Anderes hervorbringen würde als die beinahe zur frustrierenden Gewohnheit gewordenen Regierungswechsel der Monate und Jahre zuvor. Gewiss, das NSDAP-Parteiprogramm präsentierte in 25 „unabänderlichen“ Punkten die Axiome der so genannten nationalsozialistischen „Bewegung“ und „Weltanschauung“, und im Vorwort seines programmatischen Werkes Mein Kampf verkündete Hitler, dass darin „das Grundsätzliche […] für immer“ niedergelegt sei. Aber die meisten Menschen rechneten darauf, dass die aggressiv-gewaltverheißende Programmatik zwar latent bleiben, die politische Wirklichkeit aber halbwegs pragmatisch und letztlich berechenbar sein würde.

Neben den problematischen Traditionen der deutschen Geschichte, die ein autoritäres Regime begünstigten – ohne dass den meisten Menschen zugleich voll bewusst war, wem sie da die Tore öffneten –, spielten auch außenpolitisch-internationale Faktoren eine gewichtige Rolle, die der ehemalige preußische Ministerpräsident Otto Braun (1872–1955) unter den Schlagworten „Versailles und Moskau“ zusammenfasste. Ohne die offensichtlichen Unzulänglichkeiten des Versailler Vertrages – der je nach Perspektive zu weich war, weil er Deutschland als potentielle Großmacht intakt hielt, oder zu hart, weil er den Besiegten mit materiellen und psychologischen Bürden überlud – wäre die allgemeine Revanchegier wohl moderater und schwerer instrumentalisierbar gewesen. Und ohne die permanente Furcht vor einer kommunistischen Machtübernahme in Deutschland und der drohenden Bolschewisierung Europas wäre die Toleranz der Westmächte, namentlich Großbritanniens, für den vermeintlichen Wellenbrecher Hitler zweifellos kaum so ausdauernd geblieben. Wäre die internationale Staatengemeinschaft, wären vor allem Frankreich und Großbritannien der Hitlerschen Salamitaktik von Beginn an entgegengetreten, so hätte dessen Dynamik, wenn nicht im Keim erstickt, so doch zumindest enorm und vielleicht, was die Option zur Kriegführung betrifft, entscheidend gebremst werden können. Der Hinweis auf die internationale Situation zeigt allerdings zugleich, dass eine nennenswerte innerdeutsche Bremse gegen die Politik Hitlers mit den Jahren immer weniger erkennbar war und sich praktisch nie durchzusetzen vermochte. Es waren die Deutschen, die den Nationalsozialismus an sich mächtig machten, aber es waren auch die anderen Großmächte, die ihn international immer mächtiger werden ließen.

Die nationalsozialistische Herrschaft 1933-1939

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