Читать книгу Die nationalsozialistische Herrschaft 1933-1939 - Magnus Brechtken - Страница 12
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ОглавлениеFaschismus – Totalitarismus – Politische Religion? Bis in die Gegenwart wird diskutiert, wie die nationalsozialistische Herrschaft am treffendsten auf einen Begriff gebracht, wie ihr Wesenskern präzise charakterisiert werden kann. Die gängigsten Begriffe interpretieren den Nationalsozialismus als „deutschen Faschismus“, als Totalitarismus oder als politische Religion. Wer sich unvoreingenommen darum bemüht, die NS-Herrschaft analytisch zu verstehen, wird feststellen, dass der Versuch, sie auf einen einzigen Begriff zu reduzieren, eine erkenntnisbehindernde Reduktion bedeutet.
Aus kommunistischer Perspektive war der Nationalsozialismus schlicht „der Faschismus an der Macht“ und bedeutete nach der von Georgi Dimitrow 1935 auf dem VII. Weltkongress der Komintern in Moskau geprägten Formel theoriegetreu „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“ Daraus folgte: „Die reaktionärste Spielart des Faschismus ist der Faschismus deutschen Schlages.“ Auch ein weniger orthodoxer Faschismusbegriff bietet in der Anwendung auf den Nationalsozialismus einen vergleichsweise begrenzten Erkenntnisgewinn. Zu groß waren bei Lichte betrachtet die Unterschiede zwischen der Diktatur Mussolinis oder anderer ähnlicher „faschistischer“ Regimes und der Herrschaft Hitlers in Deutschland und dann in Europa, wobei die genuine Differenz nicht allein, aber vor allem in der gezielten und systematischen nationalsozialistischen Massenvernichtung identifizierbar ist.
Der Begriff Totalitarismus liefert mit seinen weitgehend formalen Kriterien – offizielle Ideologie, Massenpartei, Kontrolle der Massenkommunikationsmittel, terroristische Polizeimaßnahmen und Geheimpolizei, Waffenmonopol, Kontrolle bis hin zur zentralen Lenkung der Wirtschaft (Carl J. Friedrich), ergänzt durch revolutionäre Dynamik, totalen Herrschaftsanspruch, Führerprinzip, Fiktion der Identität von Herrschern und Beherrschten (Karl Dietrich Bracher) – einen höheren Gegenwert analytischer Erkenntnis und ermöglicht nicht zuletzt, die entscheidenden Differenzen zwischen Demokratie und Diktatur herauszupräparieren. Allerdings fokussiert der hochgradig formale Totalitarismusbegriff auf die Analyse der Herrschaftstechnik, während er sozioökonomische Antriebe, mentale Dispositionen und politische Ziele vernachlässigt.
Die Interpretation des Nationalsozialismus als politische Religion rekuriert vor allem auf religionssoziologische und religionspsychologische Kategorien, in denen etwa die Adaption liturgischer Elemente, Masseninszenierungen und Rituale, eine auf Initiation und Berufung fußende Auserwähltheitsprogrammatik mit Heilsversprechen und Heilserwartung bis hin zur „Vergöttlichung“ des „Führers“ als „Erlöser“ in das Zentrum gerückt werden. Demgegenüber bleiben die Techniken des Machterwerbs, der Machtdurchsetzung und Machtbehauptung unterbelichtet.
Eine undogmatische Offenheit des Betrachters eröffnet in der Zusammenschau dieser und weiterer analytischer Zugriffe ein sich ergänzendes Bild von Machttechnik und Mentalität, Terror und Tradition, Gewalt und Gesinnung, Folgsamkeit und Verführung, das für ein Verständnis der Komplexität der NS-Herrschaft, ihrer Beweggründe, Funktionsweisen und Ziele unerlässlich erscheint.
Hitler und Satrapen
Wenn im Folgenden vom NS-Regime die Rede ist, so stets eingedenk von Hitlers Rolle und Funktion im Zentrum des Herrschaftsprozesses, um den, je nach Politikbereich, ein Kreis wechselnd einflussreicher Männer der zweiten Reihe zu identifizieren ist: von Hermann Göring und Joseph Goebbels über Rudolf Heß und Martin Bormann, Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich bis zu zahlreichen Gauleitern und „Beauftragten des Führers“. Für jeden dieser NS-Partialherrscher lässt sich eine Kurve seines Einflusses und seiner Wirksamkeit zeichnen. Göring beispielsweise steigerte seine Macht vom Tag des Regierungsantritts kontinuierlich über seine Funktion als preußischer Innenminister, Ministerpräsident und Reichsluftfahrtminister bis zu seiner Rolle als „Beauftragter für den Vierjahresplan“, die ihn mit den Vollmachten eines Quasi-Wirtschaftsdiktators auf den Höhepunkt seiner Macht führte. Von hier fiel er mit Kriegsbeginn angesichts der vielfältigen unbeherrschten Probleme in seinem kaum mehr überschaubaren Verantwortungsbereich wieder ab und wurde von anderen, effizienteren „Helfern“ Hitlers wie Albert Speer (1905–1981) so verdrängt, wie Göring selbst einst Hjalmar Schacht verdrängt hatte. Die Karriere Heinrich Himmlers ist hinsichtlich seines Machtzuwachses wohl die steilste – er avancierte vom Anführer einer wenige hundert Mann starken Truppe zum Kommandeur eines effizient Macht raffenden SS-Korpus von mehreren hunderttausend Köpfen.
Gleichwohl ist kaum vorstellbar, dass eine dieser Figuren der zweiten Reihe für sich allein genommen in der Lage gewesen wäre, genügend Macht zu akkumulieren und eine Gefolgschaft zu sichern, mit der das Reich zu regieren gewesen wäre. Göring war ob seiner vordergründigen Jovialität ein beliebter Politiker, aber weder stand seine Treue zu Hitler jemals in Zweifel noch wurde er aus seinen eigenen politisch-ideologischen Vorstellungen heraus wohl zu jenem Vabanquespiel um Weltmacht oder Untergang angetrieben, wie es bei Hitler der Fall war. Himmler verfügte mit den Jahren über immer mehr Machtinstrumente, um die Bevölkerung einzuschüchtern und zu kontrollieren. Zugleich war er selbst höchst unpopulär, und es erscheint zutiefst fraglich, ob ihm eine Herrschaft aus eigener Kraft möglich gewesen wäre – und Ähnliches gilt für alle anderen Exponenten der Clique um Hitler.
Komplexität des „Dritten Reiches“
Schließlich ist zu betonen, dass alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens im „Dritten Reich“, wie sie im Folgenden dargestellt werden, selbstverständlich vielfältig miteinander verwoben waren. Die Differenzierung der folgenden Kapiteleinteilung dient allein der analytischen Transparenz und sollte sich bei der Lektüre, in der Zusammenschau des Gesamttextes, zu einem detaillierten, gleichwohl konturscharfen Bild nationalsozialistischer Herrschaft formen, der viele Deutsche erlagen, der sie willig folgten, die sie lange tatkräftig, ja euphorisch unterstützten, und bei der dennoch die Vielen oft nicht erkannten, was ihnen eigentlich geschah.
Millionen Deutsche waren überzeugte Nationalsozialisten; sie „glaubten an Hitler“, wie Reichsjugendführer Baldur von Schirach (1907–1974) später schrieb. Sie trugen und gestalteten das „Dritte Reich“ und handelten im Dienst der immer radikaleren Ziele, die vor allem in den Kriegsjahren sichtbar wurden. Deren Kernelemente – vor allem die Rassen-, Rüstungs- und Expansionspolitik waren schon in den Friedensjahren angelegt – stehen im Mittelpunkt der weiteren Darstellung.