Читать книгу Die Ruinen von Kab - Manfred Rehor - Страница 7
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Eine Neuigkeit verbreitete sich schneller in der Stadt, als ein Mensch rennen konnte: Die Königin-Witwe Arienna hatte vor, zu heiraten! Solche Gerüchte liefen immer wieder mal um, gewöhnlich nahm sie niemand ernst. Diesmal war es anders, denn das Gerede lenkte die Bürger ab von dem, was sie durch das Beben zu erleiden hatten. Endlich gab es etwas Gutes, über das man reden konnte. Die königliche Hochzeit versprach ein Riesenfest zu werden, an dem alle Dongarther teilhaben durften.
Doch kaum hatte jeder davon erfahren, kam ein zweites Gerücht auf, und die Stimmung kippte: Angeblich beabsichtigte die Königin-Witwe, einen Kurrether zu heiraten!
„Wenn das stimmt, gibt es einen Aufstand!“, sagte Jinna. „Man hat sich damit abgefunden, dass die Kurrether in den Verwaltungen, Gilden und Ratsversammlungen an führender Stelle beteiligt sind. Aber einen von ihnen als neuen König? Das würde niemand akzeptieren.“
Wir beide saßen im Verkaufsraum des Handelshauses Oram. Alles sah wieder so aus wie vor dem Unglück, nur die Regale waren nicht so voll. Doch das spielte keine Rolle, denn die Kunden kamen nicht. Jinna rechnete aber fest damit, dass die wohlhabenden Damen all die vielen Flakons und Parfümfläschchen, die bei ihnen zu Bruch gegangen waren, bald nachkauften. Der Umsatz würde dann sicherlich den Verlust wieder wettmachen. Die Schäden in der Manufaktur in der Nordstadt, wo man die hochwertigen Essenzen herstellte, sollten auch bald behoben sein. Vorläufig hatten ihre Arbeiter und Verkäuferinnen frei und konnten sich um ihre eigenen Belange kümmern. Zwei Wochen, so schätzte Jinna, und man würde Dongarth das Beben nicht mehr ansehen. Zumindest in den besseren Stadtvierteln.
„Kurrether sind Menschen wie alle anderen auch“, sagte ich. „Obwohl sie Fremde in unserem Land sind, haben sie das Recht, zu heiraten, wen sie wollen.“ Ich wusste, wie falsch es klang, wenn ich so etwas behauptete, aber irgendwie traf es ja zu.
Jinna schüttelte den Kopf. „Ich habe noch nie von einer Ehe zwischen einem Kurrether und einer Ringländerin gehört.“
„Ich auch nicht. Im Übrigen glaube ich nicht, dass der Ehemann der Königin-Witwe der neue Herrscher der Ringlande sein wird. Das bleibt der Kronprinz, der den Thron besteigt, sobald er volljährig ist. Bis dahin vertritt ihn seine Mutter. Warum sollte es also Unruhen geben?“
„Erstens: Wissen das alle Leute in Dongarth?“, fragte Jinna. „Wohl nicht! Sie werden sagen, wer im Bett der Königin-Witwe liegt, hat die Macht. Und zweitens: Was ist, wenn Prinz Joha etwas zustößt? Er ist das einzige Kind von Arienna. Dann ist sie Königin. Bekommt sie von dem Kurrether ein Kind, so wird das der Thronfolger. Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass die Dongarther das hinnehmen werden.“
„Andererseits, was können sie dagegen tun? Protestieren, ja. Es kann zu Unruhen kommen, aber ein größerer Aufstand ist unmöglich. Der Schutz des Berges Zeuth lässt keine Kämpfe zwischen Gruppen von mehr als einem Dutzend Menschen zu. Insofern schützt er auch die bestehenden Verhältnisse, weil kein Bürgerkrieg ausbrechen kann.“
Wir schwiegen eine Weile. Ich war mir früher selbst nicht klar darüber gewesen, dass sich die Grundlage unserer friedlichen Existenz, die Magie des Berges und des Ringgebirges, auch gegen uns richtete. Aber es war so. Jeder Krieg war unmöglich, nur kleine Scharmützel konnten ausgefochten werden. Damit war aber die derzeitige Regierungsmacht, bestehend aus dem Königshaus und den sieben Fürstenhöfen, nicht zu stürzen. Da die Königin-Witwe und die meisten der von den Fürsten regierten Provinzen von Kurrethern beeinflusst wurden, bedeutete das auch, dass der Berg Zeuth die größer und größer werdende Macht der Fremden beschützte.
Als sich unvermutet die Tür öffnete, sprang ich auf und griff nach der Waffe. Wäre es ein Kunde gewesen, der bei Jinna einkaufen wollte, so hätte ich ihn mit dieser Reaktion sicherlich für immer vertrieben. Aber im Eingang erschien die kerzengerade Silhouette von Romeran, dem Leibdiener des Fürsten Borran.
„Sie vernachlässigen Ihre Pflichten, Herr von Reichenstein!“, sagte er ohne ein Wort der Begrüßung. „Der Fürst hatte Sie aufgefordert, ihm am heutigen Morgen über die Zustände in der Stadt Bericht zu erstatten.“
„Noch ist der Vormittag nicht vorbei“, versuchte ich, mich zu rechtfertigen.
Jinnas vorwurfsvoller Blick zeigte mir, dass nicht einmal sie mich unterstützte. Von Romeran war sowieso keine Nachsicht zu erwarten. So unerschütterlich, wie er trotz seines hohen Alters seinen Verpflichtungen nachkam, so erwartete er es auch von jedem anderen.
„Schon gut“, sagte ich. „Ich komme gleich mit Ihnen mit.“
„Das ist nicht mehr erforderlich. Fürst Borran hat sich das notwendige Wissen auf Umwegen beschafft. Er hat bereits damit begonnen, die Bedürftigen zu unterstützen.“
Jinna war ebenfalls aufgestanden. Nun zog sie ihren Stuhl Richtung Tür und bot Romeran an, sich zu setzen. Ich hätte ihr sagen können, dass das sinnlos war. Der Diener würde niemals so tief sinken, dass er sich hinsetzte, wenn er im Auftrag seines Herrn unterwegs war.
Er dankte ihr mit einer kurzen Bemerkung, blieb aber wie erwartet stehen.
„Ihre Anwesenheit bei der Gedenkfeier im Tempel des Einen Gottes wird gewünscht, Herr von Reichenstein“, sagte er zu mir. „Vorher sollen Sie jedoch Magi Achain behilflich sein, einige Dinge zu regeln. Er wartet auf Sie am Eingang der Akademie des Zeuth.“
„Gedenkfeier?“, fragte ich nach. „Davon habe ich noch nichts gehört.“
„Für die Opfer des Erdbebens“, erklärte Romeran und warf mir einen Blick zu, der mir zeigen sollte, dass ich wieder einmal unter seinen Erwartungen blieb. „Die Feier findet morgen zur Mittagszeit statt. Auf Veranlassung der Königin-Witwe, wie ich anmerken möchte, die persönlich anwesend sein wird.“
„Oh, dann muss ich auch hin!“, rief Jinna.
Arienna war seit dem Tod des Königs nur selten in der Öffentlichkeit gesehen worden. Sie aus der Nähe zu erleben, war für jeden Ringländer ein besonderes Erlebnis. Entsprechend gut besucht würde die morgige Feier sein.
„Es ist geplant, den allgemeinen Teil der Veranstaltung im Eingangsbereich des Tempels abzuhalten“, informierte Romeran sie. „Vom Vorplatz aus können mehrere tausend Menschen dem Ereignis beiwohnen. Trotzdem ist zu empfehlen, frühzeitig dort zu sein.“
„Ich werde dich begleiten“, versprach ich Jinna.
„Das werden Sie nicht“, korrigierte mich der Diener. „Sie werden an der Seite des Fürsten unter den Ehrengästen sein.“
Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Warum das?“
„Weil es sein Wunsch ist! Und jetzt bitte ich Sie, Magi Achain aufzusuchen, damit nicht auch er umsonst auf Sie wartet. Guten Tag!“
Als er hinausging, sah ich zwei Wachsoldaten des Fürsten vor der Tür. Romeran wagte sich also noch nicht alleine in die Stadt.
„Weißt du, was Achain von dir will?“, fragte Jinna.
„Nein. Aber es hat wohl mit etwas zu tun, das der Hohepriester und Fürst Borran sich ausgedacht haben.“ Ich hatte Jinna nichts von dem nächtlichen Einbruch in die Königsburg erzählt. Solche Schandtaten widersprach ihrem Gefühl für Recht und Anstand. Es hätte mir tagelang Vorwürfe eingebracht.
„Schließe das Ladengeschäft für heute zu“, schlug ich noch vor, als ich ging. „Kunden kommen sowieso keine. Ich werde bald zurück sein.“
Mit einem schnellen Kuss verabschiedete ich mich und ging hinaus.
In den Straßen bemerkte ich eine neue Aufbruchstimmung. Die Menschen waren nicht mehr so niedergeschlagen, sondern hatten ihre Tatkraft wiedergefunden. Überall begegneten mir Handkarren und Fuhrwerke mit Baumaterial, die durch das West-Tor hereinkamen. Sicherlich waren geschäftstüchtige Handelsherren bereits auf die Idee gekommen, Material und Bauarbeiter aus anderen Städten anzufordern, um hier an den Aufräumungsarbeiten zu verdienen.
Auf dem Weg durch die Innenstadt hoch zur Magischen Akademie sah ich Doppelstreifen der Stadtwache. An Kreuzungen und auf den Plätzen standen Soldaten und behielten das Treiben um sich herum im Auge. Ihnen gelang es hoffentlich, weitere Plünderungen zu verhindern, zumindest tagsüber.
Die gewölbte Außenmauer der Akademie leuchtete nach wie vor in schwachem Rot. Ob wegen des Bebens oder wegen der bevorstehenden Ernennung einer Kurretherin zur Erzmagierin, wusste ich nicht. Als ich mich dem Eingang des gewaltigen Gebäudes näherte, öffnete sich das Tor und Magi Achain erschien.
„Sie sind alleine?“, fragte er und sah an mir vorbei, als erwarte er noch einen Besucher.
„Sollte ich nicht? Romeran hat mir ausgerichtet, dass Sie mit mir reden wollen. Er hat nicht gesagt, dass ich jemanden mitbringen soll.“
„Nun gut, dann werde ich das Nötige mit Ihnen besprechen und Sie geben es weiter. Kommen Sie herein.“
Zum zweiten Mal in meinem Leben betrat ich die Akademie. Das war sonst niemandem vergönnt, der nicht Novize oder Magier war. Aber seitdem ich mit zwei Begleitern in den Tiefen des Gebäudes den damaligen Erzmagier Therphan und den verrückt gewordenen Magi Zarkos getötet hatte, gehörte ich sozusagen ehrenhalber dem erlauchten Kreis der Berechtigten an.
Die Eingangshalle war groß genug, um ein Wohnhaus darin zu errichten. Das Licht kam nicht durch Fenster, sondern von der Decke, wo magisch leuchtende Bänder sich umeinander wanden wie Schlangen. Ein Dutzend Personen erwartete uns. Die Gruppe stand mitten in der Halle und es war nicht zu übersehen, dass sich diese Leute hier nicht wohl fühlten. Sie waren zum ersten Mal hier. Am liebsten wären sie vermutlich an uns vorbei gerannt, hinaus ins Freie. Misstrauisch sahen sie mir entgegen.
Es handelte sich um Männer und Frauen mittleren Alters, einzelne waren noch älter. Die Gesichter wirkten intelligent, die Körperhaltung der meisten war jedoch gebeugt und strahlte wenig Selbstvertrauen aus.
„Dies ist Leviktus“, stellte mich Achain einem der ältesten in der Gruppe vor.
Der Mann war groß, hager und grauhaarig. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert, aber so liefen derzeit viele Bürger durch die Straßen. Es gab nach dem Beben Wichtigeres zu tun, und sauberes Wasser war noch nicht überall verfügbar. Seine Miene war ernst, aber die Augen blickten neugierig auf mich. Er verbeugte sich wie jemand, der gewohnt ist, vor Höhergestellten zu erscheinen. Es war gleichzeitig ehrerbietig und doch Ausdruck einer eigenen Persönlichkeit.
„Leviktus ist oberster Schriftleiter im Tempel des Einen Gottes“, erklärte Achain. „Er wurde auserwählt, die Leitung dieser Arbeitsgruppe zu übernehmen. Dies sind die besten Schreiber des Tempels und der Akademie.“ Er machte eine Geste, die alle Personen umfasste.
„Schreiber?“, fragte ich verständnislos. Sicherlich, jemand musste die heiligen Texte der Priester und die Erkenntnisse der magischen Wissenschaft in Bücher übertragen, und jemand musste auch den ganzen Schriftverkehr erledigen, der in solchen großen Organisationen täglich anfiel. Aber niemand machte viel Aufhebens wegen der Menschen, die diese Arbeit erledigten. Man benötigte dafür eine bessere Bildung als ein Diener oder eine Küchenmagd. Aber es war eben doch eine dienende Tätigkeit - notwendig, ausreichend bezahlt, aber nebensächlich.
„Schreiber!“, bekräftigte Achain. „Der Tempel und wir von der Akademie haben beschlossen, all unsere Kenntnisse zusammenzufassen, um sie für die Nachwelt zu erhalten. Aber das ist noch nicht alles. Es gibt viel Wissen, das nicht in die Bereiche Glauben und Magie fällt. Dazu gehören die Erfahrungen von Heilkundigen ebenso wie zum Beispiel die Fertigkeiten von Schwertschmieden. Kurz, jeder Beruf hat seine Eigenheiten und Geheimnisse, die man weitergibt von Meister zu Lehrling, und die man von Generation zu Generation weiter verbessert. Auch die sollen erfragt und niedergeschrieben werden. Und wenn wir schon dabei sind, so dachten wir, lassen wir gleich eine Geschichte der Ringlande verfassen. Ausreichend Arbeit, um diese Schreiber viele Jahre zu beschäftigen.“
„Aber wozu das?“, fragte ich. „Es gibt Bücher zu fast allen Bereichen des Lebens. Lehrbücher für jedes Handwerk, Erzählungen über unsere Vorfahren und sicherlich mehr als genug Folianten mit Artikeln des Glaubens und Geheimnissen der Magie. Das hat doch bisher genügt.“
„Die Zeiten ändern sich“, belehrte mich Achain. „Manches von dem, was wir Heutigen wissen, kann in wenigen Jahrzehnten für immer verloren sein. Wir wollen schriftlich niederlegen und sicher verwahren, was die Ringlande ausmacht.“
Noch erschloss sich mir der Sinn des Ganzen nicht. „Das ist eine so gewaltige Aufgabe, dass sie nie abgeschlossen werden kann“, wandte ich ein. „Alles entwickelt sich weiter. Vieles ist nirgendwo niedergeschrieben, man kann es daher nicht abschreiben. Man muss es erst einmal herausfinden und zusammentragen.“
„Diese Schreiberinnen und Schreiber sind die besten ihrer Zunft. Sie sollen nicht einfach Texte kopieren. Dafür stehen ihnen unsere Kopisten zur Seite. Ihre Aufgabe ist es, Wissen in Büchern zu finden, zu entscheiden, was wichtig ist, und das dann durch die Befragung von Fachleuten des jeweiligen Gebiets zu erweitern.“
„Zum Beispiel?“
„Die Kunst, ein Schwert aus Stahl herzustellen, ist auch heute schon in Lehrbüchern dargelegt. Aber es gibt viele Kniffe und Feinheiten, die darin nicht erfasst sind. Diese zu erfragen, ist wichtig.“
„Das würde doch bedeuten, dass die Schreiber durch die ganzen Ringlande reisen müssen. Die besten Schwerter stellt man in Krayhan her. Die Spezialisten für Glasbläserei leben in der Provinz Malbraan, ebenso wie die herausragendsten Winzer. Die Bootsbauer siedeln an der Küste entlang des Haland-Meers. Und so weiter.“
Achain lächelte. „All diese Meister ihres Faches laden wir ein, einige Zeit auf unsere Kosten in die Hauptstadt zu kommen. Und ihre Mitarbeit werden wir auch finanziell belohnen. Das Wissen kommt also zu den Schreibern, nicht umgekehrt.“
Ich sah mir die Gruppe an, die uns schweigend zuhörte. Niemand schien besonders begeistert über die bevorstehende Arbeit, und das konnte ich verstehen. Sie würden ihr Leben daran verwenden. Ja, sie würden vermutlich alt werden und sterben, bevor sie abgeschlossen war.
„Wer bezahlt das alles?“, fragte ich. „Die Kosten für die Schreiber, die Kopisten, die Reisen der unzähligen Meister und Fachleute, die Sie in die Hauptstadt einladen wollen. Dafür ist ein Vermögen erforderlich!“
„Der Tempel und die Akademie verfügen über Geld. Außerdem hat sich Fürst Borran bereit erklärt, bei Bedarf einen Teil der Kosten zu übernehmen.“
„Und das Königshaus?“, fragte ich aus einer Eingebung heraus.
„Wurde nicht von uns gefragt“, antwortete Achain. Es klang, als habe man das Königshaus nicht einmal informiert über dieses Vorhaben.
Ich wartete auf eine Erläuterung, aber vergebens. „Verstehe“, behauptete ich schließlich. Achain hatte Grund genug, über die Königin-Witwe und ihre Ratgeber verärgert zu sein. Er wäre der nächste Erzmagier der Akademie geworden, aber man hatte eine kurrethische Magierin benannt. Als Entschädigung bot man ihm eine Position im Rat der königlichen Verwalter an. Das war ehrenvoll, aber es war bekannt, dass dort nur einer entschied, was gemacht wurde: Rat Geshkan, der mächtigste aller Kurrether.
Für einen selbstbewussten, fähigen Mann wie Achain war es keine Option, als Mitläufer zu agieren - nicht in der Akademie und nicht im Rat. Nun hatte er also eine neue Aufgabe für sich gefunden: das Sammeln allen Wissens der Ringlande. Nur, was hatte das mit mir zu tun?
„Auch die Allgemeinheit soll profitieren von dem, was wir vorhaben“, fuhr der Magi fort. „Deshalb wird die Arbeit der Schreiber nicht in einem abgeschlossenen Bereich des Tempels oder hier in der Akademie stattfinden, sondern in einem Haus, das wir eigens dafür gekauft haben. Das Beben hat die Umbauarbeiten unterbrochen, aber in Kürze wird es seiner Bestimmung übergeben werden. Kennen Sie das ehemalige Handelshaus Prehm? Es war zum Verkauf ausgeschrieben, weil der Erbe des alten Prehm ein moderneres Gebäude nahe dem West-Tor bezogen hat.“
Natürlich kannte ich es. Das Haus stand am Rand der Altstadt. Es war ein ungewöhnlich großes, dreistöckiges Haus aus früheren Zeiten, das genug Platz geboten hatte für den Handelsherrn und seine Familie, sein Warenlager, das Kontor und sogar Pferde und Kutschen. Ich wusste auch, dass es seit einigen Monaten leer stand, eine Seltenheit in der überfüllten Hauptstadt. Aber die Kosten für die Renovierung wurden so hoch geschätzt, dass ein Abriss und Neubau billiger wäre. Das wollte aber der junge Prehm nicht, aus Andenken an seinen Vater.
„Eine gute Wahl“, sagte ich und zwinkerte kaum merklich. „Südlich des Tempels des Einen Gottes, unterhalb der Residenz von Fürst Borran gelegen, und nicht weit von der Akademie entfernt.“ Was meiner Überzeugung nach nur bedeuten konnte, dass dieses Haus an das Tunnelsystem angeschlossen war, dessen Pläne ich mit Merion aus dem Archiv der Königsburg gestohlen hatte. Oder man schuf einen solchen unterirdischen Gang im Rahmen der Umbauarbeiten.
Achain reagierte auf mein Zwinkern mit einem kurzen Lächeln. „Ja, die Lage ist ideal für ein öffentlich zugängliches Gebäude. Dort soll die Bibliothek von Dongarth eingerichtet werden. Sie wird offenstehen für jeden Bürger der Stadt, der sein Wissen erweitern will oder ein Buch sucht, um sich zu unterhalten.“
Das war eine unerwartete, seltsame Idee. Bücher waren teuer und wer eines kaufte, gab es an seine Familienangehörigen und Bekannten weiter, sobald er es gelesen hatte. Es war ein Zeichen von Wohlstand, eine eigene Bibliothek zu besitzen, selbst wenn sie nur wenige Bände umfasste. Eine solche Sammlung von Büchern jedermann zugänglich zu machen, würde bestimmt Anklang finden in der Stadt.
„Ich verstehe immer noch nicht, welche Aufgabe mir in diesem Zusammenhang zugedacht ist“, begann ich nun aufs Neue. „Sollten Sie auf der Suche nach einem ersten Nutzer der Bibliothek sein - Sie haben ihn gefunden! Aber ansonsten habe ich keine Beziehung zu Büchern. Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen kann.“
„Sie haben vielleicht keine Beziehung zu Büchern, aber zu Menschen. Wir möchten zwei Aufgaben in Ihre Hände legen: den Schutz der Bibliothek und die Beschaffung von Informationen aus abgelegenen Gegenden unserer Heimat.“
Meine Augen mussten vor Überraschung groß geworden sein, denn er machte eine begütigende Geste.
„Selbstverständlich sollen Sie das nicht alleine auf sich nehmen. Sie sollen es organisieren.“
„Das bedeutet?“, fragte ich.
„Sie sehen sich das Gebäude der Bibliothek an und entscheiden, wie man am besten verhindern kann, dass wertvolle Bücher daraus gestohlen werden. Sie können nicht abstreiten, dass Sie auf diesem Gebiet über Erfahrung verfügen.“ Er schmunzelte, bevor er fortfuhr. „Deshalb hatte ich gehofft, dass Sie heute ihren Freund Merion mitbringen. Wir möchten auch mit ihm eine Vereinbarung treffen, was die Sicherheit der Bibliothek betrifft.“
Was bedeutete, die Diebesgilde sollte sich verpflichten, ihre Finger von den Büchern zu lassen. Ich nickte verstehend, dachte mir aber, dass das teuer werden würde.
„Und was die Beschaffung seltener Unterlagen angeht, so wünschen wir uns Ihre Unterstützung, indem Sie entscheiden, wer auf die Reise geht und gegebenenfalls, wie viele Personen. Fürst Borran sagte, auch darin haben Sie Erfahrung.“
Das war mir nun regelrecht peinlich. Im Jahr zuvor hatte ich im Auftrag des Fürsten meinen Freund Jonner auf die Suche nach einem Elfenstein geschickt. Jonner war prompt in die erste ihm gestellte Falle gelaufen und ums Leben gekommen. Das als besondere Erfahrung meinerseits zu bezeichnen ...
Nun ja, ich hatte gelernt, mich in wichtigen Dingen hauptsächlich auf mich zu verlassen. Aber das durfte nun nicht bedeuten, dass ich mich jedes Mal auf die Reise machte, wenn ein spezielles Buch aus einer anderen Provinz zu holen war.
„Das ist ein ehrenvoller Auftrag“, begann ich, doch Magi Achain war noch nicht fertig.
„Leviktus und seine Kolleginnen und Kollegen sind hier, um Sie kennenzulernen. Sie alle stehen gemeinsam vor einer neuen Aufgabe, die viele Jahre in Anspruch nehmen wird. In dieser Zeit sollen die Schreiber vertrauensvoll mit Ihnen zusammenarbeiten.“ Er wandte sich an die Schreiber, die schweigend zugehört hatten. „Aron von Reichenstein besitzt das Vertrauen von Fürst Borran, und auch ich konnte mich bereits davon überzeugen, dass er die gefährlichsten Herausforderungen zu meistern versteht. Er ist einer der wenigen Menschen in den Ringlanden, die eine Waffe aus dem alten Kaiserreich ihr Eigen nennen.“
Nun kam Bewegung in die Gruppe. Um sie nicht zu enttäuschen, zog ich den Degen und hielt ihn vor mich, damit sie das Symbol am Ansatz der Klinge sehen konnten: den Löwen über der fünfzackigen Krone. Das sorgte für bewunderndes Gemurmel. Was diese Leute, die ihr Leben in Schreibstuben verbrachten, an so einer Waffe finden mochten, wusste ich nicht. Aber beeindruckt waren sie auf jeden Fall.
Achain sah mich nun durchdringend an. „Sind Sie bereit, der Bitte des Fürsten Borran, und natürlich auch von mir, Folge zu leisten und diese Aufgaben zu übernehmen?“
Die darin verborgene Drohung war, dass ich Borran nicht nur Dank schuldete, sondern auch meinen Lebensunterhalt verdiente, indem ich kleinere Aufträge für ihn erledigte. Einmal davon abgesehen, dass ich seit einem Jahr ein Zimmer in seiner Residenz hatte und mir eine neue Wohnung suchen müsste, wenn ich dieses Angebot ablehnte.
Also akzeptierte ich.
Achain strahlte mich an, als habe er von mir ein Geschenk bekommen, und die Schreiber klatschten sogar Beifall, wenn auch zögerlich. Ich verstand, warum es nötig war, mich als Vertrauensperson darzustellen, ausgestattet mit einer besonderen Waffe. Diese Menschen waren keinerlei Gefahren gewohnt. Es war gut, ihnen das Gefühl zu geben, beschützt zu werden.
„Selbstverständlich wird es Ihr erster Schritt sein, zuverlässige Mitstreiter zu gewinnen“, fuhr Achain nun fort. „Die Bezahlung ist gut und die Herausforderungen sind überschaubar. Machen Sie sich gleich auf den Weg. Und vergessen Sie nicht, mit Merion zu sprechen!“
Eine Handbewegung von ihm, das Eingangstor der Akademie öffnete sich und ich ging hinaus ins Sonnenlicht. Dort schüttelte ich erst einmal ungläubig den Kopf. Mit dieser Entwicklung hatte ich nicht gerechnet. Aber ich würde dem Vorschlag des Magi folgen und meine Freunde Serron, Gendra und Martie bitten, mitzumachen. Sie wussten, dass Fürst Borran gut bezahlte und waren immer bereit, für ihn zu arbeiten. Ob ich Merion überzeugen konnte, war eine andere Frage.