Читать книгу Die Ruinen von Kab - Manfred Rehor - Страница 8
Оглавление6
Noch nie hatte ich die Königin-Witwe Arienna von so nahe gesehen. Als sie zu ihrem Platz auf dem Podest vor dem Tempel des Einen Gottes ging, kam sie eine Armlänge entfernt an mir vorbei. Sie trug ein schwarzes Kleid und hatte einen dünnen Schleier in gleicher Farbe über ihr Haar gelegt, der jedoch nicht das Gesicht bedeckte. Diese Frau war wirklich eine Schönheit, und gerade die Trauer stand ihr gut. Neben ihr ging Prinz Joha, der es trotzig ablehnte, ihre Hand zu halten. Er war fünf Jahre alt und man hatte ihn in eine Uniform gesteckt, in der er sich stolz und erwachsen fühlte. Sogar ein kleiner Degen hing an seinem Gürtel.
Selbstverständlich hatten sich alle Anwesenden auf den Ehrenplätzen erhoben, bis die Königin-Witwe ihren einem Thron gleichenden Stuhl erreichte und sich setzte. Und zu diesen Ehrengästen zählte jeder, der in Dongarth wichtig war: die Angehörigen des königlichen Rats, Fürst Borran, die höchsten Würdenträgern von Tempel und Akademie. Dazu kamen noch Vertreter der Stadtverwaltung, der Gilden und die Inhaber der größten Handelshäuser.
Zu ihrer eigenen Überraschung hatte Jinna auch eine Einladung erhalten. Das Handelshaus Oram war nicht so bedeutend wie die anderen, aber da sie nachweisen konnte, dass sie Parfüms und Seifen an das Königshaus lieferte, machte man eine Ausnahme.
Jinna war ein interessanter Kontrast zur Königin-Witwe: Nicht dunkelhaarig, sondern blond; dezent gekleidet aber nicht in Schwarz; mit ernstem Gesichtsausdruck, aber ohne diesen leidenden Zug, der bei Arienna zu spüren war. Vor allem aber erkannte ich an meiner Freundin ein Selbstbewusstsein, das der Königin-Witwe abging. Jinna konnte für sich selber stehen, das Leben meistern und Erfolg haben. Arienna war auf die Hilfe angewiesen, die ihr in Form des Rats königlicher Verwalter zur Verfügung stand. Dass dazu viele Kurrether gehörten, verwunderte niemanden, und der wichtigste, Rat Geshkan, hatte seinen Platz an ihrer rechten Seite.
Wir alle sahen die Treppenstufen des Tempels hinab auf eine große Menschenmenge. Was in deren Köpfen vor sich ging, konnte ich mir ausmalen. Ihre Herrscherin saß nun neben dem Mann, den sie angeblich heiraten wollte - sehr zum Unmut aller Bürger. Man würde jede ihrer Bewegungen, und natürlich auch seine, genau beobachten, um Schlüsse daraus zu ziehen. Und falls sie im Laufe der Feier zu ihren Untertanen sprach, würde man auf jedes Wort achten.
Doch zunächst war es Sache des Hohepriesters Echterion, die Zeremonie zu beginnen. Er trug eine weiße Robe, die sparsam mit goldenen Symbolen bestickt war. Seine Körperhaltung und Gestik ließen ihn überlebensgroß erscheinen. Zwölf Priester unterschiedlichen Alters standen schweigend im Halbkreis hinter ihm.
Es war eine langwierige Angelegenheit. Zunächst wurde der Eine Gott um Beistand angefleht, dann rief Echterion die wichtigsten der einfachen Götter an. Er bat sie um Unterstützung, um Heilung und darum, Hilfe in materiellen Notlagen zu gewähren, falls ihr göttlicher Ratschluss das für sinnvoll erachtete.
Anschließend gingen der Hohepriester und ein Priester der Göttin Fanna an einer langen Reihe von Verletzten vorbei, die sitzend oder auf Tragen liegend auf den Segen warteten. Dem Hohepriester sahen sie hoffnungsvoll entgegen, denn der Eine Gott war mächtiger als alle anderen. Dem Segen des Priesters von Fanna dagegen hätten sich die meisten wohl gerne entzogen. Denn sie war, wie alle minderen Gottheiten, für zwei gegensätzliche Gebiete zuständig. Sie war Göttin der Heilung, gleichzeitig aber auch Göttin des Totenreichs. Wer sich ihr anvertraute, wusste vorher nie, für welchen Weg zur Aufhebung seines Leidens sie sich entschied: rasche Heilung oder rascher Tod.
Nachdem alle den Segen erteilt bekommen hatten, erhob sich die Königin-Witwe von ihrem Stuhl und ging an derselben Reihe entlang. Sie sprach mit den Verletzten und spendete Trost. So jedenfalls stellte ich es mir vor, denn verstehen konnte ich kein Wort. Sicherlich war das ein großer Moment im Leben jedes dieser Bürger, denn dem Königshaus kam man normalerweise nie so nah. Allerdings war Arienna nicht alleine, sondern ihr folgten Mitglieder des Rats, allen voran Geshkan.
Ich sah die Probleme voraus und war deshalb nicht überrascht, als einer der Verletzten sich weigerte, Geshkan die Hand zu geben. Da sich die Szene unten in der vordersten Reihe der Zuschauer abspielte, bekamen nicht viele Menschen etwas davon mit. Aber einige klatschten Beifall. Wir, die wir oben auf den Stufen standen, sahen es alle. Es gab von Seiten der Ehrengäste keinerlei Reaktion, weder zustimmend noch ablehnend. Jeder tat so, als wäre nichts vorgefallen.
Geshkan verließ die Königin-Witwe und kam mit gleichmütigem Gesichtsausdruck zu uns hoch. Er setzte sich an seinen vorherigen Platz, ohne sich um unsere Blicke zu kümmern. Aber ich konnte nicht glauben, dass dieser Vorfall so an ihm abgeperlt war. Innerlich musste er vor Wut kochen.
Die restliche Zeremonie verlief, wie die Veranstalter sie geplant hatten. Arienna sagte ein paar Worte zu der Menschenmenge, nachdem sie den Verwundeten Trost zugesprochen hatte. Dann kamen die hohen Herren und Damen der Stadtverwaltung an die Reihe, die viele Versprechungen machten. Es gebe Hilfen für die Reparatur beschädigter Gebäude und Zuschüsse für den Bau eines neuen Hauses, wenn das alte abgerissen werden musste. Selbstverständlich würden die Schäden an Brücken und öffentlichen Gebäuden schnellstmöglich behoben. Die Kosten erwähnten sie nicht, und schon gar nicht die dafür notwendigen höheren Steuern.
Nach einem geistlichen Gesang, den der Hohepriester anstimmte und den viele mitsangen, endete die Veranstaltung. Die Menschenmenge zerstreute sich, während wir Ehrengäste mit der Königin-Witwe ins Innere des Tempels gingen, wo es Speisen und Getränke gab.
Interessanterweise folgten uns die Kurrether nicht. Für einen Moment war ich erstaunt, aber dann fiel mir ein, dass ich noch nie etwas über ihren Glauben gehört hatte. Falls sie nicht an den Einen Gott glaubten, durften sie diesen Tempel nicht betreten. Das war natürlich auch eine elegante Ausrede, mit der Geshkan sich der Peinlichkeit eines Gesprächs über den Vorfall draußen auf dem Platz entziehen konnte.
Anstatt nun zum gemütlichen Teil des Tages überzugehen, bat für alle überraschend die Königin-Witwe um das Wort. Es fiel ihr sichtlich schwer, zu uns zu sprechen. Sie stockte und unterbrach sich immer wieder dabei.
Was sie schließlich äußerte, waren Klagen über jene Menschen, die Gerüchte in der Stadt verbreiteten, aber auch über Würdenträger, die nicht entschieden genug dagegen vorgingen. Sie stellte klar, dass sie nicht vorhatte, noch einmal zu heiraten, egal wen. Ihr seien die Vorurteile der Einheimischen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen bekannt. Auch wenn sie diese Vorbehalte nicht teile, sei ihr bewusst, dass eine unpassende Verbindung mit einem Außenstehenden Unruhe ins Land bringen würde. Sie sei die Letzte, die das wolle, denn ihr höchstes Ziel sei es, die Ringlande als wohlhabendes, friedliches und geeintes Königreich in die Herrschaft ihres Sohnes zu übergeben.
Es gab schwachen Beifall, der anwuchs, als Prinz Joha sich verbeugte, der das alles auf sich bezog. Ich bemerkte, dass Jinna, die nicht von meiner Seite wich, gerührt und begeistert war von dem kleinen Jungen. Er versuchte, in seiner Uniform staatsmännisch zu wirken, obwohl er vermutlich viel lieber davongelaufen wäre, um in irgendeiner Ecke mit einem anderen Kind zu spielen - falls er so etwas überhaupt tun durfte.
Nachdem Arienna und ihr Sohn die Veranstaltung verlassen hatten, gingen die meisten der Besucher. Im Tempel fühlten sie sich vermutlich nicht sonderlich wohl. Ich beobachtete, wie Fürst Borran sich angeregt mit einem kleinen, älteren Mann unterhielt. Der sah unbedeutend aus, war aber der reichste Handelsherr in der Hauptstadt: Ergan Rozzary.
Borran bemerkte meinen Blick und winkte mich zu sich. Jinna blieb zurück und tuschelte mit Hinde Dailar, deren Anwesenheit mir bisher nicht aufgefallen war. Es war müßig, darüber nachzudenken, warum der Fürst ausgerechnet sie mitgebracht hatte auf diese Feier. Als ehemalige Dirne mit gehobener Kundschaft waren womöglich Männer hier, die sie erkannten. Aber das schien ihr nichts auszumachen, sie war die gute Laune in Person.
Zu Borran und Rozzary gesellten sich nun mehrere andere Handelsherren, die ernste Gesichter machten, gelegentlich nickten und offenbar alle einer Meinung waren. Kaum sahen sie mich kommen, schwiegen sie wie Schulkinder, die man bei der Absprache eines Streichs ertappt hat.
Ich lächelte, neigte den Kopf kurz zu einer an alle gerichteten Begrüßung und postierte mich neben den Fürsten. Selbstverständlich in gebührendem Abstand, aber doch so, dass man sah, ich gehörte zu ihm.
Borran deutete auf mich und erklärte: „Dies ist Aron von Reichenstein. Er wird sich in meinem Auftrag um die Beschaffung seltener Bücher und Gegenstände kümmern. Außerdem stellt er sicher, dass die Arbeit an unserem großen Werk nicht von Dieben und anderen unerwünschten Mitmenschen gestört wird.“
Die besondere Betonung, die er auf die unerwünschten Mitmenschen legte, machte mich hellhörig. Doch bevor ich dazwischenfragen konnte, sprach der Fürst weiter.
„Seine Mitwirkung ist von großem Vorteil für uns, obwohl er nicht in die eigentlichen Abläufe eingebunden ist.“
Das hörte sich so an, als sei ich nicht in ein Geheimnis eingeweiht, das die anderen hier teilten. Denn alle nickten verstehend. Ich nahm mir vor, genauer nachzuforschen, was es mit der menschenfreundlichen Idee einer öffentlichen Bibliothek für Dongarth und der Zusammenfassung alles Wissens der Ringlande auf sich hatte. Etwas lief da an mir vorbei, und ich musste herausfinden, was.
Noch geheimnisvoller wurde es, als der Hohepriester sich in die hinteren Räume des Tempels zurückzog. Borran, Rozzary und zwei weitere Handelsherren folgten ihm, ebenso Achain. Ich wollte mitgehen, aber Borran hielt mich mit einer Handbewegung davon ab.
„Reden Sie so bald wie möglich mit Merion“, trug er mir auf. „Die Sicherheit der Schreiber und deren Arbeit hat höchste Priorität. Die Bücher sind wertvoll und dürfen nicht in die Hände von Dieben fallen. Im Übrigen wahren Sie völlige Verschwiegenheit in dieser Sache.“
Ich kehrte zu Jinna und Hinde Dailar zurück. Sie sprachen über die Möglichkeit, im Handelshaus Oram nicht nur Parfüms anzubieten, sondern auch Mode. Ein Thema, das mich nicht im Geringsten interessierte. Deshalb vertrieb ich mir die Zeit damit, die übrigen Gäste zu beobachten. Einige stammten ihrem Aussehen nach aus den südlichsten Regionen der Ringlande, andere aus dem Nordosten, also aus meiner Heimat Krayhan. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich Händler aus allen Provinzen in der Hauptstadt aufhielten. Aber es waren auffallend viele und ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie alle ein Geheimnis teilten.
Es war wirklich höchste Zeit, mich mit Merion zu treffen.