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9 - Neues Land - Boris
ОглавлениеSeit Boris vor beinahe 10 Jahren nach Steinwelten geflohen war, hatte er sich hauptsächlich in Rupes und Rotsand aufgehalten. Die Steinberge hatte er gesehen, war im verlorenen Tal gewesen, viel im Wald und am See. Einmal hatte er Joret nach Trotarum begleitet um sich das Arbeitslager anzusehen und ihn zu beraten, welche Mittel sinnvoll für die Apotheke dort sein könnten.
Ilrimi hatte ihn immer wieder eingeladen, ihn nach Colonia zu begleiten, wenn er seine Eltern besuchte. Irgendetwas war ihm jedes Mal dazwischengekommen. Und so war es nun das erste Mal, dass Boris dem Fluss entlang abwärts reiste.
Da die Dorfältesten der nahegelegenen Ortschaften bereits zum Ausruf nach Rupes gekommen waren, hielt sich der 21 Mann grosse Reisetrupp nicht lange in diesen Ortschaften auf. Boris, Kantorx und Berte wurden begrüsst, wenn vorhanden die Meistergebäude von Boris aktiviert, einen Umtrunk, ein kurzes freundliches Gespräch und sie ritten weiter.
Obwohl Sora und Esmar es bevorzugt hätten, dass Boris in einem der fünf geschlossenen Begleitwagen reiste, hatte es Boris vorgezogen, auf einem Pferd zu reiten. Er wollte sich die Gegend ansehen. Aber obwohl das Licht der Lebensenergie der Landschaft etwas weniger grell war, als das der Menschen und der Stadt Rupes, blendete es immer noch und Boris sah die Natur nicht wie erhofft und gewohnt. Eine Enttäuschung mit der er leben musste.
Arons Gemütsstimmung hingegen hatte sich deutlich verbessert, seit er Boris anvertraut hatte, dass er sich um Simone sorgte und in Rupes nicht nach ihr sehen konnte. Es mit jemandem zu teilen, war eine Erleichterung gewesen. Gleichzeitig einer Aufgabe nachzugehen, die einem das Gefühl gab, nicht machtlos rumsitzen zu müssen, gab Arons Stimmung zusätzlich neuen Aufschwung. Er hatte sogar die Truppenleitung übernommen, was Joret eigentlich erst verboten hatte. Als Boris dann gemeint hatte, dass ihm Joret zwar einen seiner ‚besten’ Männer mitgebe, er ihn aber nicht einsetzen durfte, wie er es für richtig fand, sei ‚hohl’, hatte Joret eingelenkt und doch noch sein Einverständnis gegeben.
So genoss Boris diesen Ausflug trotzdem. Die Natur und Landschaft waren wunderschön. Vor allem die Ruhe war Balsam für seine neuerdings überempfindlichen Sinne. Die sanften Bewegungen des Pferdes unter seinem Sattel, die Tritte, leichtes Gebrummel seiner Begleiter im Hintergrund und die Freude der Menschen, die sie besuchten waren wohltuend.
„Hättest halt früher herkommen sollen.“ „Wie?“
Es war Nacht. Dunkel, am klaren Nachhimmel glitzerten die Sterne und die Monde leuchteten. Boris hatte sich ans Flussufer gesetzt und dem Rauschen des Wassers zugehört. Für ihn spielte es keine Rolle ob es Tag oder Nacht war. Es war immer etwa gleich hell. Die Lebensenergien wurden ja nachts nicht kleiner. Er hatte nur bemerkt, dass das Wasser wie eine Art Dämpfer wirkte. Es leuchtete nicht so hell, war viel ruhiger. Daher nutzte Boris wann immer möglich die Zeit um am Wasser zu sein. Konzentrierte sich auf sich, suchte seine Sinne besser kennenzulernen. So auch jetzt. Er sass am Flussufer, liess den Tag durch seine Gedanken ziehen. Lauschte den Geräuschen, fühlte die Menschen, die Tiere, versuchte sie voneinander zu unterscheiden, die Menschen zu unterscheiden.
Boris sah sich um, aber wer hatte ihn angesprochen? Er konnte niemanden ausmachen. Schüttelte den Gedanken ab. Erschreckte, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte. Wollte aufstehen, die Hand drückte ihn kraftvoll auf den Boden, hielt ihn fest und gehörte niemand anderem als Horau Me, der neben ihm sass und ihn anstrahlte.
„Horau!“ Boris sah sich um, dass ihn auch niemand sah, wie er mit Luft sprach. „Ich dachte, das sei eine einmalige Illusion am Tag der Stadtmeisterausrufung gewesen!“ „Nö, eigentlich nicht.“ „Bevor ich mich selbst für verrückt erkläre und einsperren lasse: Bitte erklär mir das!“ Boris flüsterte „Ein Tipp“ fing Horau an, Horau liebte Rätsel, Boris nicht. „Was sind Steintränen?“ „Horau, ich habe weder Lust, Zeit noch Nerven für Spielchen. Entweder du sagst es mir oder verschwinde!“ „Holla! Gleich so zickig. Hast wohl schon lange nicht mehr geschlafen, wie?“ „Sehr witzig.“ demonstrativ wendete Boris seinen Blick ab, obwohl es sehr angenehm war, Horau anzusehen, denn er sah ihn völlig normal, ohne Leuchten.
„Ist ja gut. Beruhig dich wieder. Mein aquawaldischer Freund.“ Horau stand auf, blickte zum Fluss. Der Wind spielte mit seiner Kleidung und seinem Haar, liess es durch die Luft wirbeln, was eigentlich nicht sein konnte, aber es sah definitiv so aus. Die Nachtstimmung war wunderbar, stellte Boris erneut fest. Und er mochte das ‚Hoa, Hoa’ der Backenmarder aus dem Wald hinter ihm. Wirkte so friedlich und beruhigend.
Horau sprach, ohne sich umzudrehen „Steintränen sind Lebensenergie. Was du hier siehst, ich meine mich, ist meine körperlose reine Lebensenergie.“ „Hmmm...“ einverstanden, das ergab Sinn, fand Boris. „Dann kann ich mit Toten sprechen?“ Horau blieb ernst, schüttelte den Kopf „Nein, denn die Energie der Toten reicht dafür nicht aus. Vielleicht, wenn du deine Kräfte irgendwann einmal so gut kontrollieren kannst, dass du es mittels Meditation und so...“ Horau wirbelte mit seinen Händen in der Luft „...ja dann halt.“ beendete er seine Ausführung.
„Ich versteh nicht, was ist dann mit dir?“ Horau hob seine Schultern „Als dein Vorgänger und ehemaliger Hüter der Steintränenenergie ist meine Lebensenergie stärker und nach all der Zeit als Stadtmeister auf immer verbunden mit der nun in dir fliessenden Energie. Darum ist es uns beiden vergönnt, uns unterhalten zu können.“ „Moment. Was heisst hier Vorgänger?“ Horau winkte ab „Das erzähl ich dir ein anderes Mal. Sprechen wir von dir. Wie geht es dir?“ „Nett, dass du fragst. Was interessiert es dich? Vorgänger?!“ „Jetzt komm schon. Stell dich nicht so an! Ich bemühe mich hier wirklich.“ Boris schüttelte den Kopf.
Horau drehte sich um und nicht zum ersten Mal schnippte er mit der linken Hand gen Boris Stirn. „Aua! He, was soll das? Lass das!“ Horau wusste genau, dass das Boris nicht mochte. „Jetzt schalt dein Hirn an und hör mir zu!“ „Tu ich doch.“
Seufzend setzte sich Horau wieder neben Boris, wischte seinen Pferdeschwanz nach hinten, strich sich mit der rechten Hand übers Haar, wie er es immer tat. Boris schmunzelte. Und da merkte er, dass er diesen komischen Kauz eigentlich sehr vermisst hatte und es schön war, ihn wieder zu sehen.
„Es interessiert mich, weil ich dein Vorgänger bin. Sagte ich doch.“ „Du willst Stadtmeister gewesen sein? Hätte das nicht jemand merken sollen?“ „Das ist kompliziert und war lange vor deiner Zeit. Aber glaube mir, ich war Stadtmeister von Rupes. Und als solcher verantwortlich für die Energie der Tränen. Diese Verantwortung legst du nie mehr ab. Also kümmere ich mich weiter darum und du wirst es nach mir auch tun. Das wirst du nicht mehr los. Musst dich mit einem Dummkopf von Nachfolger herumplagen.“ dabei grinste Horau, war ja ironisch gemeint. „Also nochmals: Wie geht es dir?“
Seit seinem Ausruf zum Stadtmeister hatten ihn viele dasselbe gefragt. Nur hatte er bei keinem einen wirklichen Gesprächspartner für dieses Thema gefunden. Er war alleine, alleine Beschützer der Rupianer. Da war keiner mehr, der IHN beschützen konnte. Zylin, wäre eventuell so jemand gewesen, doch der war ja tot. Darum tat es eigentlich gut, sehr gut sogar, die Frage endlich mit jemandem bereden zu können, der verstand, worum es ging. Selbst wenn es ein Toter, oder so, war.
„Ganz ehrlich?“ „Logisch, was denn sonst!“ „Jetzt wo du da bist: Besser. Fühle mich nicht mehr so alleine.“ Horau lehnte sich zurück, stützte sich auf seine Arme. „Hättest halt früher schon herkommen sollen. Hatte ich es dir nicht immer wieder geraten? Mach doch mal ne Reise?“ „Wie kommst du darauf? Was hat das jetzt damit zu tun?“ „Du hast es gedacht. Sah ich deinem Gesicht an: ‚Schade, dass ich die Gegend nicht ohne dieses Licht sehen kann.’ Das hast du gedacht.“ Boris seufzte „Ja, irgendwie schon.“ „Und jetzt sag’s schon!“ „Was?“ „Na, dass du froh bist, dass ich hier bin.“
Lachen, Boris musste lachen. Tat das gut, wieder einmal zu lachen.
„Alles in Ordnung?“ unterbrach ihn eine besorgte Männerstimme. Eine Wache, die ein Auge auf Boris hatte, hatte seinen Lachanfall gehört. Boris drehte sich um ‚Upps! Den hatte er völlig vergessen.‘ Schnell winkte Boris ab „Alle gut, danke.“ die Wache nickte und ging wieder weg, wenn auch etwas unsicher, aber er ging zurück auf seinen Posten.
„Ja, es ist schön, dass du da bist.“ bestätigte Boris Horaus Wunsch, kicherte weiter „Wirklich“ „Siehst du.“ grinste Horau weiter. „Dann schiess los.“ „Hein?“ „Mit deinen Fragen. Ich weiss doch, dass du es nicht magst, wenn man deine Gedanken liest.“ „Und woher?“ Horau zwinkerte „Ich konnte es lesen und Zylin hat es mir gesagt.“ „Hein? Das musst du mir erklären.“ „Nein, nein. Ein ander Mal. Jetzt deine Fragen. Hopp!“
Eines der wirklich praktischen Dinge als Stadtmeister war, dass er immer warm hatte. So spielte die nächtliche Herbstkälte absolut keine Rolle und Boris legte sich mit dem Rücken auf den kalten, nassen Boden und fror trotzdem nicht. Er schloss die Augen. Spürte die Kälte unter ihm, den feinen bodennahen Hauch des Wassers, der über die Gräser strömte.
„Also gut. Wie du willst.“ „Ich höre. Und bevor ich es vergesse: Du hast nur 3 Fragen zur Verfügung, also wähle weise.“ Boris öffnete die Augen, blickte in Horaus verschmitztes Gesicht „Echt jetzt? Ernsthaft?“ „Nein, natürlich nicht. Aber klingt gut, oder?“
„Idiot“ schmunzelte Boris und stellte seine erste Frage „Ich bekomme das mit dem ‚Sehen’ nicht in den Griff. Alles blendet. Dinge zu unterscheiden ist mühsam, alles mehr eine wage Suppe. Ich versuche ständig irgendein klares Bild zu kriegen. Ich benehme mich so ungeschickt, dass mich ein Freund sogar für blind hielt und er hat Recht, irgendwie. Kannst du das nicht wie damals, etwas zurückfahren?“ „Wenn du die Augen schliesst und dich auf die weiter entfernten Dinge konzentrierst, ist es da klarer?“ „Ja, ja. Schon. Das funktioniert täglich besser, je mehr unterschiedliche ‚Dinge’ und Menschen und Energien ich antreffe, desto besser kann ich sie auf Distanz unterscheiden und fühlen.“ „Dann bist du halt doch ein Dummkopf. Ein aquawaldischer Holzkopf, sozusagen.“ „Witzig“ antwortete Boris sarkastisch „Könntest du bitte wenigstens einmal etwas NICHT auf die leichte Schulter nehmen?“ „Wenn es stimmt? Hihi...“
„Ah! Dann wie du meinst: Und wieso bin ich ein Dummkopf?“ gab Boris nach und ging auf Horaus Antwort ein.
„Weil du dich an dein altes ‚ICH’ klammerst.“ „Wie?“ „Du versuchst die Dinge zu sehen, wie du es bisher kanntest. Das Neue, Unbekannte, das Spüren auf Distanz ist neu, das anerkennst du als ‚neu’, da versuchst du nicht es zu tun ‚wie vorher’. Du kanntest es nicht. Aber das ‚Sehen’, gab es schon. Du musst dein altes ‚ICH’ loslassen. Du wirst nie wieder so sehen wie vorher. Das ist, als ob du plötzlich die Augen z.B. eines Insektes hättest, mit diesen tausenden von Facettenaugen oder wie das heisst.“ Horau zwirbelte mit beiden Händen vor seinen Augen herum um seinen Worten mehr Ausdruck zu verleihen. „Verstehst du?“
Das war eine erschreckende Nachricht. Nie wieder Jorets Gesicht sehen?! Oder das irgendeines anderen Menschen?! Die Augen sind der Blick in die Seele eines Menschen. Dort erkennt man Gefühle und Stimmungen! Es lief Boris kalt den Rücken hinunter. Entsetzt blickte er in den Himmel. Musste er weinen?
„Das kann unmöglich sein! Dann bin ich letztendlich doch blind?! Oh nein! Wie soll ich...“ und erneut schnippte ihm Horau gegen die Stirn „He! Aua!“ Boris setzte sich auf und wischte Horaus Hand weg „Mir ist nicht zum Spassen zumute!“
„Ich spasse keineswegs.“ ernst sah ihn Horau an, er fing an mit seinen Fingern zu zählen
„Erstens: Selbst ein Blinder erkennt oder besser spürt die Gemütsverfassung seines Gegenübers. Man kann es sogar an der Stimme erkennen. Am Geruch, an seiner Körpertemperatur! Und an was weiss ich noch alles. Dafür brauchst du kein Gesicht!
Zweitens: Du bist der Stadtmeister. Keiner erkennt den Zustand eines Menschen, sogar eines jeden Dings besser als du. Konkret bist du überhaupt der Einzige, der das kann. Mit einem Blick, quasi!
Drittens: Bist du dumm? Hast du dir deine Umgebung eigentlich schon einmal genau angesehen, als Stadtmeister, meine ich? Du bist umgeben von wunderschönem Licht in unterschiedlichen Farben und Nuancen! Du kannst hineinsehen und es blendet dich nicht. Dass es dich blendet, meinst du nur. Was ist wertvoller zu sehen: Die Kleidung einer Person oder deren Inneres: Wie es ihr geht? Ob sie lügt? Verletzungen hat? Hein?
Viertens: Kuck dir mal den Boden unter deinen Füssen an! Du kannst sehen wo der Weg entlangführt, wo jemand durchlief, wo es sicher ist und wo der Boden unter dir einsinken oder abbrechen wird. Also wenn du das ‚blind’ nennst, mein lieber Mann, dann weiss ich auch nicht.“
„Was sollte dann das mit den Füssen?“ „Na weil den Boden so zu sehen etwas ‚Neues’ war, wo du hättest von alleine erkennen sollen, was du eigentlich ‚Neues’ siehst ohne dich an dein ‚altes’ Sehen zu klammern.“ Horau hob die Schultern „Hat nicht funktioniert. Pech gehabt. Nächste Frage“
„Pah! Nächste Frage!“ wiederholte Boris ironisch. Blickte Horau in die Augen. Horau hob fragend beide Augenbrauen. Wartete geduldig.
‚Hoa, hoa.’
Boris sah sich um. Ein Flussviech huschte aus dem Wasser, erschreckte sich als es Boris sah, blieb stehen, streckte seine Nase in die Luft, schnüffelte und beschloss dann weiter zu huschen. Ganz dicht an Boris vorbei. Es schmiegte sich so fest es ging an den grossen Mann, so, als ob es etwas von Boris Energie tankte. Das kleine Tier war flinker als seine Grösse vermuten liess. Wegen des nassen Fells, schimmerte es in Boris Augen rosa, ein weiches rosa Licht ging von ihm aus. Und eigentlich konnte Boris seine Umrisse sehr deutlich erkennen. Vielleicht würde er sich mit seiner neuen Sichtweise der Dinge doch noch anfreunden. Boris schmunzelte ob des kleinen Tierchens.
„Das mit der Kraft funktioniert?“ hörte Boris Horaus Stimme. Den Blick zurück zu Horau antwortete Boris „Ja, ja. Geht schon. Manchmal vergesse ich es und dann geht halt was zu Bruch. Aber das geht schon. Hättest mich auch warnen können anstatt einfach ‚Pass auf beim Aufstehen’ zu sagen. So ein Blödsinn. Ich bin voll in die Leute hineingefallen. War echt peinlich.“ Horau grinste, sagte aber nichts, sein Grinsen war Antwort genug.
Dann fiel Boris seine nächste Frage ein „Ich habe Mühe mit der Schlaflosigkeit.“ er atmete, machte eine Pause „Am ersten Tag fiel es mir gar nicht wirklich auf, es wurde die Nacht durchgefeiert. Und am nächsten Tag, fand ich es eine gute Sache, ich kann Vieles erledigen. Ich gehe nachts ins Krankenhaus um mit den Ärzten zusammen nach den Patienten zu sehen, kann einen Rundgang zu den Wachen machen und so. Dann kam die dritte, die vierte und obwohl ich weiss, dass ich nicht schlafen werde, fühle ich mich immer müder. Erschöpft. Ich weiss nicht, was ich tun soll.“
Nachdenklich verschränkte Horau seine Arme, blickte zum Flussufer, zum Himmel und meinte dann „Hmm...um deinen Körper brauchst du dir deswegen keine Sorgen zu machen. Die Steintränen füllen ihn konstant mit Kraft und Energie aus. Er braucht keine Erholung. Auch“ Horau sah Boris Kopf an, lächelte „auch dein Hirn nicht.“ sein Lächeln verschwand „Aber dein Geist, wenn man es so nennen will.“ Horau rieb seine beiden Handflächen aneinander, so als ob er kalt hätte, dann legte er sie locker auf seine Knie, sah wieder zum Fluss „Meditation“ meinte er dann. Boris runzelte die Stirn „Meditation?“ Horau nickte „Ja. Wieviel kann ich dir nicht sagen“ er zuckte mit den Achseln „Vielleicht ein oder zwei Stunden am Tag? Musst du selbst herausfinden.“ „Meditation?“ „Sag ich doch!“ „Wie soll das gehen? Ich sitze und grüble so schon stundenlang im Zeug herum?!“ Horau fing an zu lachen, schüttelte seinen Kopf, war versucht Boris erneut gegen die Stirn zu schnippen.
„Was ist so lustig?“ wollte Boris wissen. Und Horau wurde wieder ernst, schnippte auch nicht gegen Boris Stirn, er merkte, dass es Boris wirklich ernst war „Menschen“ meinte Horau dann „Wie?“ fragte Boris „Ach Boris.“ Horaus Augen waren zwar stets verschmitzt, aber auch führsorglich, irgendwie, er blickte in Boris Augen „Der Sinn am Meditieren ist es eben NICHT zu grübeln. Lernt ihr das nicht als Kinder?“ „Was soll das denn heissen?“ „Egal.“ Horaus winkte ab „Du musst dich darin üben, die Gedanken des Tages loszulassen. Dich wirklich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Dich spüren, die Luft, die Geräusche. Nicht an was war oder was sein wird zu denken. Du musst dich sammeln. Es gibt ja auch nur das Jetzt. Alles andere ist nur in Gedanken vorhanden.“
Kopfschüttelnd entgegnete Boris „Du hast leicht reden. Du trägst nicht diese Verantwortung einen Krieg zu verhindern oder zu führen. Dass kann ich nicht einfach WEGdenken. Wie stellst du dir das vor?“ „Du darfst das Ganze nicht so schwer nehmen. Mein Freund.“ „Nicht SO SCHWER nehmen?! Bist du verrückt?! Hast du gehört was ich eben sagte?!“ Horau runzelte seine Stirn „Also weißt du, Boris.“ „Nein, ich weiss nicht!“ antwortete Boris in sehr gereiztem Tonfall.
So langsam wurde Boris wütend. Er war tatsächlich reizbarer als sonst. Horaus Angewohnheit von Ernsthaftigkeit zu seiner merkwürdigen saloppen Art zu wechseln nervte ihn. Und er mochte es gar nicht, wenn man so schwerwiegende Themen wie Krieg und Gewalt verharmloste. Schon gar nicht jetzt.
„Holla! Gleich so zickig.“ wiederholte Horau, strich sich erneut übers Haar. „Ja, das hast du schon gesagt!“ trotzte Boris zurück. „Ja, ja. Ist mir bewusst. Ich wollte dich nicht kränken, weißt du.“ „Was du nicht sagst.“ Boris blieb gereizt, Horau ignorierte es und fuhr einfach fort „Ich will damit lediglich darauf hinweisen, dass das schlicht die Art der Menschen ist. Menschen wollen immer MEHR von irgendetwas.“ Horau zuckte wieder mit den Schultern, Boris sah ihn weiterhin grimmig an. „Das ist nun mal so. Ich meine... ohne diesen Drang würde heute kein Mensch auf Steinwelten leben. Wir würden uns jetzt nicht hier unterhalten. Stattdessen würdest du dich auf der Erde in irgendeiner Höhle zusammenkuscheln unter einem dicken Fell, oder so.“ Horau musste grinsen bei dem Gedanken und Boris musste ihm irgendwie Recht geben.
„Das trifft aber nicht auf alle Menschen zu. Ich zum Beispiel strebe nicht nach MEHR.“ Horau grinste immer noch, hob seinen rechten Zeigefinger „Du darfst nicht nur an Reichtum und Macht denken. Das ist es weshalb das Terra Sonnensystem dieses Theater veranstaltet, richtig. Und du strebst nach MEHR Zeit in Frieden. Oder nicht?“
‚Verdammt!’ dachte Boris, Horau hatte Recht! ‚Hoa, Hoa’
„Missverstehe mich nicht. Krieg und Gewalt sind keine schönen Dinge. Jedenfalls für die meisten.“ fuhr Horau fort „Aber sieh dich um“ Horau breitete seine Arme aus um auf die Umgebung zu deuten „Was kümmert es den Fluss? Was schert sich der Backenmarder darum?“ er sah Boris tief in die Augen „Ich sag es dir“ er kniff die Augen zusammen „Nämlich gar nicht. Also wieso du?“ Horau atmete, wendete den Blick zum Himmel und schwieg, während Boris nachdachte. Horaus Worte ergaben auf schräge Art und Weise einen Sinn. Was sollte er darauf nur antworten?
„Du...“ fing er an „also...“ er schüttelte den Kopf „Nein, du...“ ein schwerer Ausschnaufer „Das ist...“ „Was?“ unterbrach Horau Boris Gestottere. „Menschen kannst du nicht mit Wasser oder Backenmarder vergleichen. Das macht keinen Sinn.“ „Ach nein?“ „Nein! Und überhaupt...wenn es so unwichtig ist, warum dann das Theater mit dem Stadtmeister? Dann hätte man einfach alles seinen Gang gehen lassen können, oder etwa nicht?“ „Aahhhh....“ machte Horau, rieb sich wieder die Hände, fuhr sich übers Haar und konterte zuversichtlich „Jetzt kommen wir der Sache näher.“ „Hein? Was für einer Sache?!“ Genervt hackte Boris nach „Horau, hör auf in Rätseln zu sprechen. Ich bin kein kleiner dummer Schuljunge.“
Erneut erwartete Boris Horaus Gelächter oder zumindest ein Gegrinse. Aber es fuhr ihm kalt den Rücken hinunter als in Horau plötzlich todernst ansah. Diesen Blick hatte er noch nicht oft von Horau gesehen.
„Boris“ meinte er in gedämpftem Tonfall „Ich scherze wirklich nicht. Aber es ist immens wichtig, dass du nicht nur verstehst, was ich dir sage, sondern es auch wirklich verinnerlichst. Weißt du was ich meine?“ Boris schüttelte den Kopf „Ja... äh... nein? Was meinst du?“ eine Pause entstand. ‚Hoa, hoa’ ein feiner Wind, rauschendes Wasser, Nachtvögel. Der Wind spielte mit Horaus Haar. Es war wunderbar still, eigentlich. Wenn nur seine Gedanken nicht so rasen würden. Boris Herz klopfte. Er war aufgeregt, verwirrt.
„Na gut.“ Horaus Tonfall blieb ernst „Wenn du deine Sichtweise als Stadtmeister endlich einmal akzeptiert hast, wirst du schnell SEHEN“ Horaus deutete auf seine Augen „dass sich das Licht der Menschen nicht von allem anderen unterscheidet. Die Lebensenergie ist immer dieselbe. Menschen sind nicht wertvoller als alles andere. Sie sind aber auch nicht schlechter. Sie sind halt einfach wie sie sind. Ein Teil des Ganzen. Einverstanden?“
Unsicher antwortete Boris „Naja, schon irgendwie. Ich bin halt auch einer. Darum sind mir die Menschen vermutlich etwas wichtiger als ein Backenmarder oder so.“ „Da gebe ich dir Recht: Für jede Art ist seine Eigene wichtiger als andere. Ist normal, jede Art will ihr eigenes Fortbestehen sichern. Nur bist du kein Mensch mehr, Boris.“ „Bitte?“ Horau schüttelte den Kopf „Nein, Boris. Du bist Stadtmeister. Du bist ein Hüter der Steintränen. Der Mensch ‚Boris’ ist beim Ausruf gestorben. Hatte sterben müssen um dem Stadtmeister Platz zu geben. Vergessen? Stich ins Herz und so?“
Nachdenklich strich sich Boris mit der rechten Hand über die Stelle auf seiner Brust, wo ihn der Dolch getroffen hatte. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, sein Blut war regelrecht ausgelaufen. So gesehen, konnte man es tatsächlich so sehen. Er nickte zögerlich. „O.K.“ meinte er leise. Der Gedanke machte ihn traurig und schwermütig. Plötzlich fühlte er sich alleine.
„Das bist du nicht.“ tröstete ihn Horau fürsorglich, er hatte Boris Gedanken gelesen. Sofort glühte ihn Boris verärgert an „Lass das! Sofort!“ ein Lächeln huschte über Horaus Gesicht, es war seine Absicht gewesen, Boris Schwermut so schnell als möglich zu verdrängen und er hatte offensichtlich Erfolg. Gedanken zu lesen war etwas, das Boris zutiefst hasste.
Wieder ernst fuhr Horau fort „Das gesamte Universum befindet sich in einer Art ‚Gleichgewicht’. Keiner weiss bisher alles darüber. Schon gar nicht wie gross es ist, ob es Grenzen hat und wenn ‚ja’, was ist hinter der Grenze?“ Horau schüttelte den Kopf „Viele ungeklärte Fragen.“ er hielt den linken Zeigefinger hoch „Aber es ist die Lebensenergie, die die Grundlage von allem bildet. Ohne diese Energie gäbe es nichts. Nichts würde zusammenhalten, sich verbinden oder leben.“ „Irgendwie kommt mir das Bekannt vor“ Boris erinnerte sich an Zylins Worte in Maras Zimmer.
„Gut!“ Horau war erfreut über Boris Vorkenntnisse „Ohne dieses ‚Gleichgewicht’ oder eine gewisse ‚Ausgewogenheit’ der Lebensenergie entstünde Chaos.“ „Chaos? Wie muss ich mir das vorstellen?“ Horau suchte nach Beispielen, fuhr sich übers Haar, wickelte sich seinen Pferdeschwanz um den Finger „Die Entstehung eines neuen Universums kannst du als grösstes mögliches Chaos nehmen. Sterne explodieren oder Unwetter oder Erdbeben. Solche Dinge.“ Boris nickte, versuchte zu ‚glauben’, zu verstehen, was das mit ihm zu tun hatte.
„Weißt du“ sagte Horau „alles ist Teil dieses Gleichgewichtes. Als Stadtmeister “ Horau ballte die Faust „hast du einfach die grössere Macht dafür zu sorgen, dass es so bleibt. Bleibt es hier im rupianischen Tal nicht ausgeglichen, wird es für alle unbewohnbar.“ wieder hob Horau die Schultern „vielleicht breiten sich die Eiswinde so weit aus, dass man nicht mehr hier leben kann. Egal was du tust, du wurdest als Stadtmeister akzeptiert. Sinn und Zweck des Stadtmeisters ist es, den bestehenden Lebensraum zu erhalten, ganz gleich, was das bedeutet. Es muss nicht zwingend heissen, dass das Terra Sonnensystem verliert. Vielleicht entsteht ein gemeinsamer Weg?“
„Warum wurden dann nur die Menschen gefragt, ob ich Stadtmeister werde oder nicht?“ „Wer sagt, dass nur die Menschen gefragt wurden?“ erstaunt bemerkte Boris seinen Gedankenfehler. „Stimmt. Das weiss ich nicht. Ich bin einfach davon ausgegangen.“
So langsam begriff Boris. Hier ging es tatsächlich um mehr als nur um das Terra Sonnensystem. Um mehr als um die Steintränen. Wenn das, was Horau sagte, wahr war. Oder? „Was ist mit den Steintränen? Welche Rolle spielen sie? Und wenn das die Aufgabe des Stadtmeisters ist, weshalb ist er nicht ständig im Amt?“ Horau zog den linken Mundwinkel hoch zu einem halben Grinsen. „Wer sagt, dass der Stadtmeister nicht ständig im Amt sein kann? Ihr hättet ihn schon lange ausrufen können. Bis zur Krise zu warten machte es lediglich für die Menschen einfacher, sich zu entscheiden. Mehr nicht. Nenn es praktischer?“ erneutes Schulterzucken von Horau „dann hättet ihr die Steintränen schon lange vom grossen Stein ernten können. Die Steinberge sind nur so eine Art ‚Zwischenlager’ der Energie, solange sie nicht im Stadtmeister gebündelt ist.“ „Bitte?“ „Du hast schon verstanden. Tu nicht so überrascht.“
Überrumpelt von Horaus ungewohnt barschen Tonfall schwieg Boris erstmal.
„Die Steintränen sind kondensierte Lebensenergie. Darum verbrennt es die menschliche Haut, wenn sie nicht verdünnt werden.“ Horau wirbelte mit den Händen „Um zurück zu deiner Frage zu kommen ‚Warum das Theater mit dem Stadtmeister’ und warum alles gleichwertig ist.“ Horau fing an mit den Fingern zu zählen „Erstens: Den Stadtmeister gibt es einfach. Warum gibt es gerade Bäume in der Form? Oder Pferde? Es ist einfach so. Es muss ihn nicht geben. Hätte ich keinen Nachfolger gewählt, gäbe es keinen. Jetzt gibt es einen. Eine Laune der uns allgegenwärtig umgebenden Lebensenergie.“ eine Pause, der zweite Finger „Zweitens: Ist alles etwas viel auf einmal, ich weiss. Wichtig ist: Du bist kein Mensch mehr. Du bist quasi das neue Überlaufbecken der Lebensenergie des rupianischen Tales. Du hast diese Macht erhalten, weil die Mehrheit von allem, und ich meine damit ALLEM, dir vertraut, dass du das Richtige damit tun wirst. Und weil es ALLE waren, sind alle gleichwertig. Das Terra Sonnensystem will hier aufmischen.“ Schulterzucken „Fein. Das betrifft in erster Linie die Menschen. Deinem Pferd Mix oder den Backenmarder, den Fischen, den Bäumen ist es egal, ob das Terra Sonnensystem über die Menschen regiert oder nicht. Sie interessiert nur, dass sie hier weiter so existieren können. Und dafür braucht es das Gleichgewicht. Und um DIESES solltest du bemüht sein. Verstanden?“
„Ganz ehrlich?“ stellte Boris die rhetorische Gegenfrage „Ich bin mir nicht sicher.“
„Das dachte ich mir.“ entgegnete Horau ein klein wenig entmutigt. Er legte Boris seine Hand auf die Schulter „Hab Vertrauen, mein Freund. Es kommt immer alles so, wie es kommen soll. Also gönn dir ein oder zwei Stunden am Tag eine Auszeit und vergiss einfach nicht, dass die Menschen nicht die einzigen sind, um die es hier geht. Und“ Horaus holte zum abschliessenden Finale aus, denn er hatte genug für heute „Und schliesslich ist es deine Entscheidung. Niemand kann dir was! Du kannst tun und lassen, was du willst. Es ist absolut egal. Es bleibt alles im Fluss, so oder so. Immer. Keine Angst, schlimmsten Falls wird NUR das rupianische Tal unbewohnbar. Um alles andere, kümmern sich andere. Ich sagte ja, du bist nicht alleine.“
„Na toll! Soll mich das etwa beruhigen?! Wer sind diese ANDEREN?! Och Horau!“ Horau zwinkerte mit dem linken Auge „Probier’s einfach aus. Du wirst noch Vieles erfahren und eines schönen Tages, wird dich ein guter Freund von mir besuchen kommen. Hab Vertrauen! Du machst das schon.“ damit verschwand Horau. Einfach weg.
Verzweifelt sass Boris alleine am Flussufer. Den Kopf voll mit Horaus Worten und Ausführungen. Was sollte er nur damit anfangen. Vieles war wirr, auf jeden Fall neu, machte Sinn, ergab keinen, fühlte sich richtig an, dann wieder nicht. Er hatte ihn noch fragen wollen.... Ach, war jetzt auch egal.
Das einzige Gute dieses Gespräches war, fand Boris, dass er in der letzten Stunde tatsächlich für einmal nicht nur an den bevorstehenden Krieg gedacht hatte.
‚Quiiiiick’ „Wow!“ rutsche Boris heraus, er hatte neben sich ins Gras gelangt und dass Flussviech zu fassen bekommen. Boris hatte nicht bemerkt, dass es sich unterdessen an seine Seite gekuschelt hatte und eingeschlafen war. Nun quickte es, rannte einmal im Kreis und kuschelte sich wieder an dieselbe Stelle! Verharrte und schlief wohl wieder ein. „Entschuldige“ flüsterte ihm Boris zu. Er lächelte. Das kleine Tier strahlte eine Geborgenheit sondergleichen aus. Fühlte sich offensichtlich sehr wohl und sicher an Boris Seite. Boris traute sich nun nicht mehr zu bewegen. Atmete ganz sachte, wollte das Viech nicht aufwecken.
Langsam liess er seinen Oberkörper wieder ins Gras sinken. Sehr darauf bedacht natürlich, dabei das Flussviech nicht zu stören. Es fühlte sich gut an. ‚So ein kleines Ding!’ dachte Boris ‚Eigentlich lächerlich.’ und dann fielen ihm Horaus Worte ein, von wegen, das alles gleich viel Wert habe. Dann also auch dieses Flussviechchen. Und damit war es überhaupt nicht mehr lächerlich! Fand Boris und der Gedanke fing ihm an zu gefallen.
‚Na dann auf ins neue Land!’