Читать книгу Steintränen - Manja Gautschi - Страница 6
4 - Glauben & Vertrauen - Boris & Joret
ОглавлениеAls Stadtmeister von Rupes war es eine von Boris Aufgaben, die Dörfer und Städte Rupiens zu besuchen. Sich den Bürgermeistern, Stadträten, Gemeinderäten und so weiter vorzustellen. Wo es hatte, die alten verzierten Gebäude zu aktivieren und das weitere Vorgehen zu besprechen und erläutern.
Alle nach Rupes einzuladen um es allen gleichzeitig und nur einmal erklären zu müssen, wäre möglich gewesen, sicher, doch es hätte einerseits das Risiko in sich geborgen, gleich alle ‚Führer’ auf einmal ausschalten zu können und andererseits wären die vorhandenen Gebäude nicht aktiviert worden. Boris hätte die Ortschaften trotzdem besuchen müssen. Es standen also einige Reisen vor Boris. Sora und Esmar stellten dafür die entsprechenden Eskortwachen zusammen.
Während seiner Abwesenheit würde ihn Macto, einer der Schlüsselträger, in Rupes vertreten. Macto vom Gross war der bekannteste Metzger von Rupes. Er führte seine Metzgerei in der 5. Generation. So ziemlich alle kannten und respektierten ihn oder hatten vor seiner Wucht und Grösse schlicht Angst. Er würde Boris gut vertreten können. Tat es aber nur während Boris Abwesenheit, denn ansonsten arbeitete er weiter in seiner Metzgerei, da sei sein Platz. Er sei kein Politiker, hatte er gemeint, aber um für Ruhe und Ordnung in diesem ‚Sauladen’ zu sorgen, würde er sich zur Verfügung stellen. Hatte er lachend ergänzt, als er Boris seine Zusage für die Vertretung gegeben hatte.
Jürg Hüldrim, Zunftrat der Steintränensammler und ein weiterer Schlüsselträger war davon nicht begeistert. Er hätte es vorgezogen, jemanden mit mehr diplomatischem Feingefühl dafür einzusetzen. Jürg war an und für sich ein erfahrener Mann. Leitete er doch schon seit Jahren die Zunft der Steintränensammler. War allerdings oft nicht gleicher Meinung wie Boris. Hegte stets eine gewisse Ablehnung gegen ihn, denn Jürg war einer der wirklich eingefleischten Rupianer, die sich nur sehr schwer mit ‚Fremden’ einliessen.
Boris erinnerte sich noch an die heftige Ausseinandersetzung, als es um Maras Zulassung als Steintränensammlerin ging. Eine Fremde! Dazu eine Waise! Und dann noch eine Frau! Auf keinen Fall! Hiess es erst. Jürg willigte schlussendlich nur widerwillig ein, als Boris gemeint hatte, dass es Jürg eigentlich nur Recht sein könne, wenn Mara tatsächlich so ungeschickt sei. So würde ‚mir nichts, dir nichts’ eine ‚Fremde’ schnell den Tod finden. Sei Maras Problem.
Und, das musste Boris zugeben, die meisten Tränensammler hatten Mara und ihn zu dem Zeitpunkt bereits gekannt, gemocht und sich überzeugend für Mara ausgesprochen.
Trotzdem: Jürg war ein alter rupianischer Sturkopf!
Da sich Jürgs Büro ohnehin im Verwaltungsgebäude befand, war es naheliegend, dass ihn Boris nun gerne schnell und unkompliziert zu Rate zog. Schliesslich war Jürg ein sehr angesehener Zunftrat und Boris schätzte andere Meinungen immer, gab ihm andere Sichtweisen, an die er selbst vielleicht nicht gedacht hätte.
Jürg selbst hatte die Vertretung abgelehnt, er habe genug um die Ohren mit der Organisation der Sammler. Er organisierte und überwachte das Sammeln der Tränen vom Grossen Tränenstein, vermittelte Arbeitsstellen, kümmerte sich um die Tränenverteilung und Abgeltungen.
Seine erste Besuchsreise trat Boris in drei Tagen an. Die Reiseroute verlief entlang des grünen Flusses bis nach Colonia, der Meerstadt, wo der Fluss ins Meer mündet. Obwohl es flussabwärts mit dem Schiff schneller gehen würde, hatte man beschlossen, zu Pferde zu reisen. Man könne so schneller auf Unerwartetes reagieren, z.B. falls es nötig wäre, einen anderen Weg einschlagen. Und man wich so einem möglichen Angriff vom rotsander Ufer aus, denn dort funktionierte die Elektrizität noch.
„Mir ist nicht wohl dabei“ murrte Joret. Barra, Joret, Esmar, Sora, Macto, Jürg und Boris sassen im grossen Sitzungssaal im 1. Stock des Verwaltungsgebäudes bei einer Tasse Tee. Danach würden Barra und Joret zurück nach Rotsand reisen. „Kannst mir glauben, mir auch nicht“ meinte Boris und nahm einen Schluck. „Du solltest hierbleiben. Zumindest vorerst, bis wir wissen, was das Terra Sonnensystem vor hat.“ Boris sah Joret an „Du meinst die Reise?“ „Natürlich, was dachtest du denn.“ „Diese Ungewissheit. Nicht zu wissen was gehen wird. Die Reise ist da nicht das Problem.“ „Wir werden genügend Wachen mitschicken, Joret. Boris wird nichts geschehen.“ ergänzte Sora, die ihre Tasse in beiden Händen hielt.
„Wenn du schon nicht hierbleibst, wäre mir wohler, ich könnte euch wenigstens ein paar Leute von uns mitgeben. Du vergisst deine Entführung. Ein Anschlag auf den Stadtmeister wäre das Letzte, was wir jetzt gebrauchen könnten. Da stimmst du mir bestimmt zu, Barra, oder?“ er sah seine Kollegin an. „Ich stimme dir absolut zu, Joret. Aber wir benötigen unsere Leute in Rotsand selbst, falls ein Angriff auf Rotsand erfolgen sollte. Es ist ein Problem, dass wir keine Möglichkeit haben, miteinander zu kommunizieren, weil ganz Rupien ohne Elektrizität auskommen muss. Das stationäre Funkgerät ist einfach zu wenig. Könntet ihr nicht auf der rotsander Seite des Flusses reisen?“ fragte Barra. Boris schüttelte den Kopf „Nein, Barra. Wie sähe das denn aus? Und wie gesagt, die Reise ist kein Problem. Ihr vergesst, mir als Stadtmeister kann nicht viel zustossen. Geplante Entführungen oder Anschläge sind nicht möglich, weil ich die Soldaten schon Tage vorher bemerken werde. Ausser es sind eigene Leute, natürlich. Halte ich aber für unwahrscheinlich.“
Barra und Joret nickten. „Nebenbei, das mit deiner Entführung: Schon einmal daran gedacht, dass es wegen deines Amtes als Stadtmeisters gewesen sein könnte?“ warf Joret ein. „Einer der Schlüsselträger kümmert sich bereits darum. Ihr versteht, wenn wir euch nicht sagen können, wer. Oder besser, noch nicht.“ erklärte Sora. Joret gab sich zufrieden, positiv überrascht darüber, dass das Thema bereits angegangen wurde.
„Eine Frage“ fing Barra an und sah dabei Esmar an „Wenn du tödlich verletzt wirst, Boris. Was geschieht dann? Ich habe das nicht ganz begriffen.“ Esmar antwortete anstelle von Boris, den die Frage sichtlich betroffen machte „Dann stirbt dafür einer von uns Schlüsselträgern an seiner statt. Und zwar immer derjenige, mit der aktuell schwächsten Verbindung zum Stadtmeister. Angefangen mit demjenigen, der distanzmässig am weitesten weg ist von ihm und danach derjenige, der am wenigsten Zeit mit ihm verbracht hat. So wird gewährleistet, dass die Schlüsselträger um ihn herum so lange als möglich zu seinem Schutz beitragen können. Physisch, meine ich.“ Barra nickte „Oh, ich verstehe. Ich kann mir vorstellen, dass das eine schwere Last für dich ist, Boris. Dieses Wissen. Ist ja fürchterlich.“
Boris sagte nichts. Zu sich selbst allerdings meinte er ‚Wenn du wüsstest, wie recht du hast, Barra.’ er trank einen weiteren Schluck Tee.
„Also gut, dann findet diese Reiserei halt statt. Unsere Wachen bleiben in den Städten postiert um für einen etwaigen Angriff bereit zu sein. Ich gebe dir dafür Aron mit. Er ist zwar keine Rotsandwache mehr, leider. Trotzdem ist er einer meiner fähigsten Leute und kann schnell reagieren, egal was passiert. Dann wäre mir wohler, ein wenig zumindest.“ Joret sah Barra an „Sofern du damit einverstanden bist.“ Barra nickte „In Ordnung. Eine gute Idee.“
„Was ist mit Mara? Soviel ich sie kenne, mit ihrer Kampfausbildung und ihrem Scharfsinn, wäre sie bestimmt ein wertvolles Mitglied deiner Schutzwachen?“ brachte Joret seine Gedanken ein. Boris schüttelte heftig den Kopf „Nein, auf keinen Fall. Ich will sie aus dieser Sache raushalten. Sie soll sich um die Apotheke kümmern.“ „Das kann ich verstehen, aber das wirst du nicht können. Zumal es ihre eigene Entscheidung sein wird, früher oder später.“ redete Barra mit „Und dumm ist es auch“ ärgerte sich Joret „Sie ist klug und stark. Ich weiss das doch noch von ihrer Ausbildungszeit in Rotsand. Koron hat“ er sah Esmar an „hat ganze Arbeit geleistet. Sie kann nicht nur kämpfen, nein, sie hat Kampfgeschick und Cleverness. Ich hatte sie damals für die Rotsandwachen rekrutieren wollen. So jemanden nicht einzusetzen ist dumm und fahrlässig.“ „Dieses Thema steht nicht zur Diskussion. Und basta!“ beendete Boris barsch das Gespräch.
Für einen Moment schwiegen alle. Sora schenkte Tee nach. Boris schloss für einen Moment seine Augen um zu entspannen. Wenn die nur wüssten, wie laut sich alles anhörte. Und die Umgebungsgeräusche erst. Das rege Treiben auf dem Marktplatz, in den Gängen, er bekam alles mit. Jede verdammte Fliege!
„Habt ihr überhaupt genügend Leute um Rupes und seine Vororte zu beschützen falls das Terra Sonnensystem von Seiten Steinbergen angreifen sollte? Ich meine, sie können zwar ihre gebräuchlichen Waffen nicht einsetzen. Aber herkömmliche Schiesspulver-Schusswaffen und dergleichen funktionieren immer noch sehr wohl. Und zahlenmässig dürften sie bald überlegen sein.“ sorgte sich Barra. „Natürlich fehlen Koron und unsere Leute. Aber wir konnten viele neue Wachen rekrutieren. Überraschend viele mit Kampferfahrungen. Von anderen Wachcorps und so.“ Esmar hob die Schultern „Ein Heer ist es freilich nicht und grosse Schlachten werden wir nicht schlagen können. Um einen Erstschlag abzuwehren wird es reichen.“ „Ich denke nicht, dass sie einen solchen Aufwand betreiben werden.“ schüttelte Joret den Kopf. „Ich war einer von ihnen, vergesst das nicht. Und ich weiss, dass sie mit so wenig Aufwand als möglich zum Ziel gelangen wollen. Ein offener Kampf mit vielen Verletzten und Verlusten ist kostspielig.“ alle sahen Joret gespannt an. „Ich schätze, sie werden es erst mit Hinterlist versuchen. Sie tun so, als ob sie sich auf einen Angriff von den Bergen vorbereiten, um uns abzulenken, während sie weiter entfernte Ortschaften für sich zu gewinnen versuchen. Von dort womöglich Soldaten rekrutieren. Sich so nach Rupes vorarbeiten um schlussendlich von mehreren Seiten gleichzeitig mit nur einem Schlag angreifen zu können. Sie werden Meuchelteams einsetzen, sollte sich eine“ er winkte ab „Ach wem erzähl ich das. Keiner weiss besser, was für Spielchen sie treiben als du Boris.“
„Du denkst, sie gehen gleich vor wie auf Aquawald?“ Boris schüttelte den Kopf „So einfallslos werden sie nicht sein.“ „Die Armee ist ein grosses schwerfälliges Gebilde. So schnell ändert sich da nichts. Nein, nein. Sie werden ihre Taktiken verfeinern und noch skrupelloser Vorgehen.“ „Noch skrupelloser? Das glaub ich nicht.“ „Oh doch, Boris. Glaub mir. Sie können und sie werden. Zumal sie diesmal dazu gezwungen sind, weil ihre Waffen nicht funktionieren.“
„Ich verstehe nicht ganz, was du meinst, Joret. Bitte erklär dich.“ unterbrach Barra. Joret hob die Hände „Sie können Rupes nicht einnehmen. Vorerst. Aber sie können kleinere, wehrlose Ortschaften einnehmen. Entweder sie überzeugen die Ortsregierungen zur Kooperation mit irgendwelchen Versprechen oder marschieren einfach ein. Ein kleines Dorf wie Kreuzland zum Beispiel kann nichts ausrichten gegen ein 100er Trupp Terra Sonnensystem Soldaten. Um die Kontrolle zu wahren, werden sie sogenannte Schattenteams einsetzen, die schlicht Aufständische ausschalten, bevor die etwas unternehmen können. Das Team von Commander Zylin Sa war so eines. Ich habe dir von ihm erzählt.“ Barra nickte und Joret fuhr fort „Jeder Widerstand wird im Keim erstickt, getötet. Sa wüsste noch Genaueres dazu, wie sie z.B. an Informationen gelangen. Damit hatte ich nie etwas zu tun. Aber ich schätze, dass irgendjemand hier in Rupes bereits mit denen zusammenarbeitet. Ich kann mir Boris Entführung einfach nicht anders erklären. Und so sind wir verdammt abzuwarten, was sie als nächstes unternehmen und erfahren es dann vielleicht zu spät. Sie werden uns langsam aber sicher einkreisen und aushungern. Plötzlich stehen wir nicht nur dem Terra Sonnensystem gegenüber, sondern unseren eigenen Leuten der Orte, die sich dem Terra Sonnensystem bereits angeschlossen haben.“
Sehr nachdenklich blickten alle Joret an. Schwiegen. Was konnte man dagegen tun? Man konnte nicht überall gleichzeitig sein.
„Ich würde das nicht so schwarz sehen“ unterbrach Boris das Schweigen „denn sie können nicht einfach irgendwo einmarschieren, ohne dass wir es wissen.“ „Wie sollen wir es erfahren? Du vergisst, dass wir keine Elektrizität für Kommunikation besitzen, auf rupianischem Boden.“ gab Barra zu bedenken. Und geduldig erklärte Boris noch einmal „Ich weiss, es ist schwer zu verstehen. Und ich gebe zu, ich habe es noch nicht wirklich unter Kontrolle. Überhaupt nicht. Aber ihr könnt mir glauben. Ich spüre alle im rupianischen Tal. Ich kann in jedem Moment sagen, wer wo ist. Ich muss mich natürlich darauf konzentrieren, aber ich kann es.“ er sah zu Esmar, die ihn mehr als überrascht und erstaunt ansah. Boris nickte „Ja, alles diesseits des Flusses, muss ich ergänzen. Ich vermute, überall dort, wo es keine Elektrizität gibt. Von Rotsand zum Beispiel spüre ich nichts. Und diese Seite der Berge“ er schloss die Augen „leider reicht es nicht bis zu Korons Höhlen, da verliert es sich irgendwo. Dann wieder bis zum Meer und flussaufwärts bis in die trotarischen Ebenen.“ Er sah Joret und Barra an „das Straflager gehört nicht mehr dazu. Es ist verflixt. Das Terra Sonnensystem platziert sich immer gerade an den Grenzen meiner Macht, wenn ihr so wollt. Als ob sie’s wüssten.“
Etwas ungläubig kniff Joret die Augen zusammen. Märchen oder nicht? fragte er sich. Barra trank Tee und dachte nach. Esmar musste sich zurückhalten um Boris nicht sofort mit Fragen zu löchern und Sora grinste stolz.
„Du hast vorhin schon sowas erwähnt. Gut, dass du es nochmals ansprichst. Selbst wenn das wahr ist, was nützt es dir, wenn du schläfst? Was ist, wenn sie dann einfallen? Ist doch Unsinn.“ hackte Joret nach. Boris seufzte, atmete einmal schwermütig ein und aus „Ach weißt du Joret.“ fing er an „So etwas glaubt man immer erst, wenn es geschieht. Seit ich Stadtmeister bin“ Boris schüttelte seinen Kopf „schlafe ich nicht mehr. Nie mehr. Ich kann nicht mehr schlafen.“ Joret blinzelte ungläubig. Sagte nichts. Sah zu Sora, die eifrig nickte. Dann zu Esmar, die ebenfalls nickte, dann zu Barra, die die Augenbrauen hob und meinte „Was siehst du mich an? Ich höre davon zum ersten Mal.“
„Wie soll das gehen? Das ist doch eine Räuberpistole sondergleichen. Seit du Stadtmeister bist hast du Mühe mit Sehen und Gehen. Denk nicht, mir wäre das nicht aufgefallen. Das sieht ein Blinder. Ich mache mir Sorgen um dich Boris. Ich denke eher, dass mit deinem Kopf nicht mehr alles in Ordnung ist. Vielleicht solltest du uns erst nach Rotsand begleiten und dich in der Stadtklinik untersuchen lassen.“ Boris verschluckte sich beim Trinken, musste husten und lachen miteinander.
Joret blieb ernst, während ihn die anderen am Tisch erstaunt ansahen. „Es ist mein voller Ernst. Ich wüsste nicht, was es zu lachen gibt. Schliesslich haben dich diese Sturrköpfe hier zu ihrem Stadtmeister und Regierungsoberhaupt gewählt. Da solltest du gesundheitlich schon auf dich achten.“ Nun musste sich Sora das Grinsen verkneifen. Hielt sich die Hand vor den Mund, während Boris sich wieder beruhigen konnte.
„Joret, ich danke dir für deine Sorge um mich. Ich muss zugeben, so habe ich das noch nicht gesehen. War zu sehr auf mich konzentriert und habe nicht daran gedacht, dass ich im Moment wohl tatsächlich einen angeschlagenen Eindruck auf Aussenstehende mache. Aber du kannst mir glauben“ Boris musste dazwischenkichern „Tschuldige“ er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, strich sich durch den Bart, er war amüsiert über den Gedanken, der ihm ganz neu war.
„Nein, ernsthaft. Es ist alles in Ordnung. Wirklich. Ich werde mich bemühen, so schnell als möglich, nicht mehr so ungeschickt zu wirken.“ Joret sah ihn mit Stirnrunzeln an „Bitte Joret, hier und jetzt ist nicht der richtige Moment es zu erklären.“ Boris deutet auf seine Augen „das mit den Augen, zum Beispiel, ist kompliziert. War auch für mich völlig ungewohnt. Oder besser: Ist es noch. Wie soll ich sagen? Äh“ Boris stutzte „Naja. Ihr werdet es nicht glauben, aber ihr alle leuchtet wie verdammte Sonnen und das blendet unglaublich. Ich kann kaum hinsehen. Wenn ich die Augen schliesse oder nur auf die Füsse schaue, geht es. Und so langsam gewöhne ich mich daran und erkenne wieder Strukturen. Aber eben, nur langsam. Versteht ihr?"
Nachdenklich schüttelte Joret den Kopf "Sonnen?" "Stell dir vor, wie es ist, wenn du Schnee siehst. Anfangs siehst du gar nichts, alles nur weiss und grell. Bis sich die Augen daran gewöhnen und du die Strukturen darin wiedererkennen kannst." Joret begriff schon, was Boris meinte "Aber wozu soll das gut sein? Selbst wenn es so ist? Ein blinder Stadtmeister. So ein Blödsinn! Typisch Rupes!"
Schon seit Joret nach Steinwelten gekommen war, hatte ihn die rupianische Art und Weise gestört. Er war immer dafür, dass man neue Technologien ausprobiert. Nach besseren Lösungen in allen Belangen sucht. Sich Neuem nicht einfach verschliesst.
Als Hauptmann der Rotsandwachen und später auch als einer der Stadtherren Rotsands musste er unweigerlich mit der Nachbarstadt Rupes zusammenarbeiten. Und Rupes änderte sich nicht. Kein bisschen. Nie. Es wurden keine neuen Häuser gebaut, nur mager neue Technologien verwendet und die Regierung.... aus seiner Sicht in völlig desaströsem Zustand, eigentlich gar nicht vorhanden. Von Geheimnissen und Legenden umringt präsentierte sich ganz Rupien. Verschloss sich gegen aussen. ‚Unmöglich!’ fand er das. Ein Wunder, dass das funktionierte.
Aber ‚Bitte’.
Seiner Meinung nach würde diese Einstellung Rupiens eines Tages im Chaos enden oder bei einer Übernahme durch das Terra Sonnensystem.
Als er vom Ausrufen des Stadtmeisters erfahren hatte, war er erleichtert gewesen. ‚Endlich vernünftig geworden!’ hatte er gedacht. Mal abgesehen von der spektakulären Art und Weise, wie der Stadtmeister ernannt wurde. Und all die Geschichten, die sich um diese Person erzählt wurden.
Aber ‚Bitte’.
Dass es Boris war, kam dann mehr als überraschend. Er hätte erwartet, dass ihm Boris so etwas anvertraut hätte. Und dass sich die Rupianer einen Einheimischen aussuchen würden. Nichts gegen Boris, aber er war ein Zugezogener.
Aber ‚Bitte’.
Und nun sass er da, an diesem wunderschönen grossen uralten Holztisch, trank Tee mit Freunden. Eigentlich ein gemütlicher Moment. Aber diese unglaublichen Erzählungen! Er konnte und wollte es nicht glauben. Er hatte es gerne handfest, konkret und glaubhaft.
Er seufzte. Wie sollten sie sich so gegen das Terra Sonnensystem wehren?! Mit Märchen und Fantastereien!
Eine Hand legte sich auf seine Schultern. Fühlte sich warm an. Spendete auf der Stelle eine gewisse Geborgenheit und tat gut. Seine Zweifel blieben zwar, aber seine momentane Verzweiflung legte sich. Sein Inneres beruhigte sich.
Es war Boris Hand. „Ach Joret.“ sagte sein alter Freund ganz ruhig und führsorglich „Wie lange kennen wir uns schon? Vertraust du mir?“ Boris versuchte in Jorets Augen zu sehen. Da er sie aber nicht eindeutig in Jorets Gesicht ausmachen konnte, zielte er einfach so gut es ging, sah das Licht der Lebensenergie seines Freundes an. Joret dachte nach. Die Hand fühlte sich schon anders an, als eine gewöhnliche Berührung. Merkwürdig. Vielleicht war doch etwas daran, an Boris Geschichte?
„Ahh... Ich weiss nicht, Boris. So einfach ist es nicht. Ich meine, wir kennen uns wirklich schon lange. Ich studierte und anlaysierte dich als Feind und lernte dich schätzen als Freund. Und ich vertraue dir. Du spielst nie Spielchen. Es ist nur so unglaublich. Vor uns liegen ungewisse Zeiten und vor allem: Ein mächtiger Feind, dem wir nicht wirklich gewachsen sind. Nun kommst du mit solchen Fantastereien. Ich glaube nur, was ich sehe, dass weißt du.“
Boris nickte. „Das verstehe ich. Sehr gut sogar. Und wirklich geglaubt habe ich es bis vor zwei Tagen selbst nicht. Aber wer hat im Mittelalter auf der Erde schon geglaubt, dass die Menschen eines Tages auf fremden Planeten wohnen? Dass es noch andere gibt ausser uns? Die Wakaner, ein bisher ungelöstes Rätsel? Du fragst wozu das gut ist, ausser mir die Sicht zu nehmen. Ich kann es dir noch nicht sagen, weil ich es tatsächlich erst richtig zu benutzen und verstehen lernen muss. Und wie es funktioniert? Frag mich nicht. Die orangenen Augen vielleicht?“ Boris hob die Schultern „Jedenfalls sehe ich, dass dich deine rechte Schulter schmerzt und du vor Verspannungen im Nacken heftige Kopfschmerzen hast. Und Barra, bitte entschuldige, aber Barra hat Probleme mit den Nieren. Du solltest mehr Trinken, Barra. Wenn du schon nur noch eine hast.“
Joret blickte erstaunt zur noch erstaunteren Barra, die ebenso ihn und Boris ansah, dann aber nickte um die Richtigkeit zu bestätigen. „Das weiss nur meine Familie und mein Arzt, woher weißt du das?! Mit wem hast du gesprochen?“ wollte Barra wissen.
„Nein, Barra, ich sprach mit niemandem, ich sehe es einfach. Und ihr dürft es keinem verraten“ unvermittelt packte Boris mit beiden Händen Jorets Kopf, der reaktionsartig versuchte Boris Hände wegzunehmen, was nicht ging, denn Boris Kraft war enorm, Joret verstand nicht. Das war unmöglich!
Eine Hitze durchströmte Jorets Körper, konzentrierte sich wie ein Funke in seiner Schulter, dem Nacken und seinem Kopf. Er konnte absolut nichts dagegen tun. Es brannte einen Moment und viel dann samt den Schmerzen plötzlich von ihm ab wie eine eingetrocknete Kruste Dreck. Boris liess seinen Kopf wieder los, war alles ganz schnell gegangen. Ganz leicht fühlte sich Joret. Keine Schmerzen mehr, einfach weg. „Wie ist das möglich?! Meine Schmerzen sind alle weg. Ja! Weg! Plötzlich. Hein?!“ Joret bewegte erstaunt seine plötzlich schmerzfreie Schulter, die ihn seit Tagen geplagt hatte.
Zufrieden lächelte Boris, trank einen Schluck Tee, schloss die Augen. „Nicht der richtige Moment für Erklärungen, hatte ich gesagt. Später einmal. Und dass ihr mir das bloss niemandem erzählt. Wenn das die Leute wüssten, würden sie von überall her kommen und mich um Heilung bitten. Lasst euch gewarnt sein. Zuviel Wissen kann auch gefährlich werden.“ bestimmte Boris und fuhr fort:
„Also, erstens: Ich kann nicht den ganzen Tag lang ‚nur’ Leute heilen. Ich habe jede Menge anderer Aufgaben.
Zweitens: Ja, ich kann alles heilen. Ich habe die Kontrolle über die Macht der Steintränen, die, wie ihr alle wisst, heilende Kräfte haben. Aber je nach Schwere der Krankheit oder Verletzung kommt es bei der Heilung zu einer Verbindung mit mir. Ähnlich wie mit den Schlüsselträgern. Das geht nicht. Stellt euch diese Katastrophe vor! Mit der Zeit wären alle mit mir verbunden und wenn ich dann sterbe, sterben alle mit mir! Man könnte zusammen mit mir das gesamte Volk ausrotten. Das Terra Sonnensystem würde sich freuen.
Und Drittens: Ab jetzt erwarte ich von euch allen hier, dass ihr mir verdammt noch mal so viel eigene Selbstverantwortung zugesteht, dass wenn ich sage ‚Es geht mir gut’, es mir auch glaubt. Ich habe schon genug mit mir selbst zu kämpfen, alle diese neuen Sinne zu verstehen und sie verwenden zu lernen. Dann alle diese neue Verantwortung hier! Glaubt mir, ich wäre lieber in meiner Apotheke am Ansetzten der Schilfgras-Essenz. In Ruhe, alleine im Arbeitsraum! Ich habe niemanden, den ich um Hilfe bitten kann. Es gibt niemanden! Was wünschte ich, Zylin wäre hier. Er kannte sich mit solchen Dingen noch am ehesten aus. Aber er musste sich ja umbringen lassen! Dieser grüne Mistkerl!“
Boris brauste unerwartet auf. Eben war er noch die Ruhe selbst gewesen und nun diese Wut. Er hatte seit dem Vorfall im Wald mit niemandem darüber gesprochen. War alles so drunter und drüber gegangen. Hatte sich um Mara und alle anderen gekümmert und sich selbst in den Hintergrund gestellt.
„Was denkt ihr, wie unmöglich es ist, nicht mehr schlafen zu können?! Wie soll ich mich erholen? Auch meine Geduld hat ihre Grenzen! Ich muss bei jeder Bewegung aufpassen, dass ich es sachte tue, sonst ist es gleich kaputt oder ich flieg auf die Nase!“ Boris hob seinen linken Arm, vergass dabei die Armlehne loszulassen und so riss er sie einfach aus. Ganz mühelos. Er hielt inne, betrachtete die Armlehne in seiner Hand und meinte „Da, seht ihr? Verflucht noch eins.“ dann zerdrückte er die massive Holzlehne wie Papier. Die Teile bröselten zu Boden. Die Anwesenden blickten erschrocken mit offenen Mündern zum Stadtmeister von Rupes.
‚Ich glaube nur, was ich sehe’ hatte Joret gesagt. Und nun hatte er GESEHEN und gespürt, definitiv. Alles was Boris gesagt hatte, entsprach der absoluten Wahrheit. Keine Übertreibungen, keine Erfindungen. Wie es sein konnte, konnte er sich nicht erklären, aber es war definitiv so. Und dass da neben ihm immer noch sein Freund sass, mit all seinen Gedanken und Emotionen, bemerkte er nun auch. Er bedauerte, ihm nicht geglaubt zu haben.
„Ist ja gut!“ konterte Joret heftig. Er wollte zur Beruhigung Boris seine Hand auf die Schulter legen, hielt dann aber an. ‚Durfte er das überhaupt?’ er zögerte. „Ich beruhige mich schon wieder.“ sagte Boris, griff Jorets Hand um sie zu Joret zurück zu stossen. „Tut mir leid. Aber das musste mal raus. Ist alles etwas viel im Moment.“
Joret rieb sich das Handgelenk, Boris hatte etwas zu kräftig gehalten. „Entschuldige.“ Joret winkte ab „Kein Problem, ich hab’s wohl verdient.“ „Blödsinn!“ meldete sich Sora dazwischen. Sie war aufgestanden um Tee nachzugiessen. „Wer möchte noch Tee?“
Alle liessen sich nochmals Tee einschenken. Sassen beinahe schon andächtig schweigend am Tisch. Boris ‚Ausbruch’ hallte irgendwie nach. Jedenfalls war nun geklärt, dass Boris gesundheitlich KEIN Problem hatte.
Seufzend stellte Boris seine Tasse hin und stand auf. Er ging zum Fenster und öffnete es. Atmete die Luft von draussen tief ein. Sein dunkelblauer Mantel bewegte sich fein im hereinkommenden Wind. Die kunstvollen Verzierungen glitzerten im Sonnenlicht.
Das Fenster öffnete sich zum grossen Platz hin. Stimmen und Geräusche vom Markttreiben waren zu hören.
„Also“ fing Boris an „Unsere beiden Wachcorps bleiben wo sie sind, vorbereitet für einen Angriff. Ich werde auf meine geplante Stadtmeisterreise gehen. Zu Pferd und auf rupianischer Flussseite, nicht auf dem Wasser. Esmar und Sora stellen ein geeignetes Wachteam aus rupianischen Wachen zusammen. Als zusätzliche Begleitperson wird uns Aron De Grafenstein begleiten. Ich hätte Jürg auch gerne dabeigehabt, aber auch das hatte er nicht gewollt. Die anderen beiden Schlüsselträger Kantorx Ildric und Berte Di Gersson hingegen, werden mich begleiten. Hier wird mich Macto vom Gross vertreten, falls ihr etwas benötigt, wendet euch an ihn. Sora und Esmar werden auch hierbleiben und die Wachen koordinieren.“ Boris drehte sich um, sah wieder zum Raum hinein „Ehrlich gesagt, freue ich mich auf die Reise. Es wird mir etwas Zeit verschaffen, mich zu sammeln und zu beruhigen. Ich kann mir ein Bild von den Zuständen in den Ortschaften machen, mit den Leuten reden. Und da es Winter wird, denke ich nicht, dass das Terra Sonnensystem grosse Sprünge macht. Viele Leute im Winter, bedeutet ein Mehraufwand für Wärme und Lebensmittel. Und ohne Gleiter, müssen sie wohl oder übel alles auf dem Landweg transportieren. Also glaube ich nicht an einen Grossangriff in nächster Zeit. Zu kalt.“
Zustimmendes Nicken am Tisch.
„Die einzige Sorge, die ich mir mache ist: Wenn sie tatsächlich dieses Serum zur Verfügung haben, ist es möglich, dass sie mit sehr wenigen Leuten angreifen können. Mit so wenigen, dass ich die Gruppe wegen der kleinen Grösse für nicht gefährlich einschätze, sie es aber sind. Wir haben zu wenig Leute, um sie überall zu positionieren. Ich bin heilfroh, dass der Weg zwischen Rupes und Rotsand frei ist. Wenigstens das, so brauchen wir uns nicht darum kümmern.“ Boris sah in die Runde. „Einwände? Ergänzungen?“
Barra und Joret wechselten kurz die Blicke. „Von mir aus nichts. Wir werden uns nach deiner Rückkehr wieder sprechen. Bis dahin, werden wir die anderen Stadtherren informieren, sowie die Bevölkerung.“ sagte Barra und Joret ergänzte „Einverstanden. So machen wir’s. Eine Gruppe unserer Leute wird hierbleiben, um sich um Transfers zwischen den Städten zu kümmern und ich werde vor unserer Abreise in knapp 2 Stunden noch mit Aron sprechen. Und wegen des Serums, denke ich, brauchen wir uns keine Sorgen machen. Laut Ilrimi und Aron hätten sie dafür Sa lebend benötigt. Sie haben seinen Leichnam zwar mitgenommen, aber der war tot. Definitiv. Tom hat die Aufräumarbeiten im Wald beaufsichtig und dokumentiert. Ich habe die Bilder gesehen.“ Joret schüttelte den Kopf „Wenn er nicht an den Verletzungen selbst gestorben ist, dann am Blutverlust, so eine Schweinerei habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Boris, seit Aquawald nicht mehr. Tot. Ergo, kein Serum.“
Boris nickte „Ja, ich weiss schon, wir waren dabei.“ Joret hob die Arme „Ich geb auf. Dieser Tag will nicht mit unglaublichen Überraschungen aufhören. Ich frage gar nicht erst. Du warst dabei?! In Ordnung.“ und dann klang seine Stimme beleidigt und enttäuscht „Ich hatte eigentlich geglaubt, wir seien so etwas wie ‚Freunde’, Boris. Warum erzählst du mir solche Dinge nicht mehr? Vertraust DU MIR überhaupt noch?!“
„Natürlich vertraue ich dir! Ich vertraue euch allen hier, sonst hätte ich euch nicht all diese Dinge erzählt! Wie dir offensichtlich entgangen ist, hatten wir in den letzten Tagen keinen einzigen Moment Zeit um uns alleine miteinander zu unterhalten! Wann also hätte ich es dir erzählen sollen?!“ erwiderte Boris energisch, er war zwar wieder ruhig, aber immer noch sehr geladen. Joret stutzte. „Du hast Recht. Stimmt. Die letzten Tage waren sehr lebendig gewesen. Bitte entschuldige noch einmal. Scheint heute nicht mein Tag zu sein.“ „Ja, scheint so. Aber ich kann es dir nicht wirklich verübeln. Warst schon immer ein Sturrkopf!“