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EIN PARADIGMENWECHSEL Überdenken unserer Annahmen und Revidieren unserer Klischeevorstellungen

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Fragen zu den Gefühlen von Tieren und warum sie von Bedeutung sind können einen ganz schönen Wirbel verursachen. Unsere Beziehung zu Tieren ist komplex und wie wir Tiere behandeln, verändert sich je nach Zusammenhang oft dramatisch. Viele Menschen können ihren Haustieren eine enorme Liebe und Hingabe entgegenbringen, doch gleichzeitig, mit wenig Achtsamkeit, Sorge oder Reue, andere Tiere in verschiedenen Situationen auf unglaubliche Weise missbrauchen. Dies gilt besonders für Wissenschaftler und die Tiere, die sie zu Hause und im Labor halten. Wenn Wissenschaftler (und andere) sagen, sie lieben Tiere und sie dann, direkt oder indirekt, vorsätzlich Schmerz und Leid aussetzen, lautet meine Antwort: Ich bin froh, dass sie nicht mich lieben! Zum Leidwesen der Tiere war und ist ihre Beziehung zu Menschen äußerst asymmetrisch. Menschliche Interessen stehen fast immer über denen der Tiere.

Vor einigen Jahren las ich die prestigeträchtige Zeitschrift Science und stieß auf diesen Satz: „Mehr als jede andere Spezies sind wir die Begünstigten und Opfer einer Fülle emotionaler Erfahrungen [26].“ Der Wissenschaftler, der dies schrieb, Professor R. J. Dolan, kann unmöglich wissen, ob dies der Wahrheit entspricht. Tatsächlich mögen andere Tiere noch lebhaftere Emotionen empfinden als wir, sowohl positive als auch negative. Diese Form der menschlichen Egozentrik ist es, die das Studium der Tieremotionen behindert, und sie ist zudem einer der wichtigsten Gründe dafür, dass Tiere auf so unterschiedliche Weise behandelt werden. Was macht uns so besonders? Warum glauben wir, dass wir solch tief empfindende Tiere sind und alle anderen Tiere nicht (oder weniger) zu Emotionen fähig sind? Beim Blick auf den heutigen Zustand der Welt finde ich es schwer zu akzeptieren, dass wir den Standard darstellen sollen, an dem andere Tiere gemessen werden.

Es ist meine Hoffnung, dass das Studium der Mensch-Tier-Interaktionen den nutzlosen Dualismen von „wir“ versus „denen“, von „Labor“ (wo Tiere oftmals verfügbare Objekte darstellen) versus „Zuhause“ (wo Tiere hoch geschätzte Freunde sind) und von „höheren“ versus „niederen“ Tieren ein Ende bereiten wird. Diese Dualismen sind nicht präzise und sie fördern ganz sicher nicht die Entwicklung und Erhaltung tiefer, respektvoller und symmetrischer Beziehungen zwischen Menschen und anderen Tieren.

Ich hoffe, einen Paradigmenwechsel in Bezug darauf zu fördern, wie wir über Tiere denken, wie wir tierische Emotionen und tierische Empfindungsfähigkeit untersuchen und was wir mit den Informationen, den „wissenschaftlichen“ und anderen, die uns bereits vorliegen, anfangen. Dieser Paradigmenwechsel beinhaltet das Revidieren unserer Klischeevorstellungen davon, wie das Gefühlsleben von Tieren verschiedener Arten „unserer Meinung nach“ zu sein hat. Statt anzunehmen, dass Fische weniger fühlen als Mäuse und Mäuse weniger fühlen als Schimpansen oder dass Ratten nicht so emotional sind wie Hunde oder Wölfe oder, ganz allgemein, dass Tiere weniger fühlen (und weniger wissen und weniger leiden) als Menschen, lassen Sie uns annehmen, dass zahlreiche Tiere vielfältige Emotionen haben und alle Formen von Leid empfinden, möglicherweise sogar in einem größeren Ausmaß als der Mensch.

Die vorliegenden Beweise belegen solch eine Hypothese. Bei der bereits früher erwähnten Konferenz in Rio erklärte der weltbekannte Wissenschaftler Ian Duncan, dass die von ihm, seinen Studenten und weiteren Wissenschaftlern initiierten Forschungen ergaben, dass Fische Schmerz und Angst fühlen. Sie sind außerdem listig, betrügerisch und pflegen kulturelle Traditionen. Außerdem, so Donald Broom, Professor an der Universität Cambridge in England, bestehe die Möglichkeit, dass Tiere mit komplexeren Gehirnen mit Schmerz effektiver umgehen können als Tiere mit weniger komplexen Gehirnen, da Erstere über vielfältigere Reaktionen und flexiblere Verhaltensweisen verfügen, um mit unangenehmen Situationen besser fertig zu werden. Brooms interessante Hypothese lautet, dass Fische möglicherweise nicht so effektiv mit Schmerz umgehen können wie Tiere mit komplexeren Gehirnen und aus diesem Grund mehr leiden. Bei der Bestimmung, was und wie viel ein Tier fühlt, ist es am besten, für alles aufgeschlossen zu bleiben.

Wie ich schon sagte: Wenn es um die manchmal unbewusste Doppelmoral geht, die Menschen in ihrer Behandlung von Tieren häufig aufweisen, dann ist für mich die Frage „Würden Sie das mit Ihrem Hund machen?“ eine großartige Möglichkeit zur Relativierung. Wenn man etwas nicht mit seinem Hund machen würde, weshalb sollte man es dann mit einem anderen Wesen tun?

Der Paradigmenwechsel würde außerdem die Art und Weise verändern, wie wir wissenschaftliche Arbeit betreiben – er würde zu einer Verbesserung der Methoden und einem Sinneswandel führen. Die Beweislast würde künftig den Skeptikern zufallen, die ihre Behauptungen „beweisen“ müssten, dass Tiere keine Emotionen empfinden und nicht wirklich Schmerz fühlen. Es wäre nicht mehr länger akzeptabel zu sagen, „da wir nicht wirklich wissen, was Tiere fühlen, lasst uns davon ausgehen, dass, was immer sie (wenn überhaupt) fühlen, nicht von Bedeutung ist.“ Es würde die Art und Weise verändern, wie Wissenschaftler Experimente und Tests durchführen und ein humaneres Umfeld für uns alle schaffen. Tiere zu respektieren, zu schützen und zu lieben würde der Wissenschaft nicht schaden, noch würde es bedeuten, wir Menschen würden weniger respektiert, geschützt und geliebt. Wenn Sie Ihren Hund füttern, heißt das, Ihr Kind muss hungern? Nein, natürlich nicht. Mit ein wenig Überlegung und Vorausschau kann für alle gesorgt werden.

Und am Wichtigsten: Davon auszugehen, dass Tiere über ein reiches Gefühlsleben verfügen, schadet niemandem. Ein schönes Zitat aus unbekannter Quelle trifft den Kern:

„Wenn ich davon ausgehe, dass Tiere subjektive Gefühle von Schmerz, Angst, Hunger usw. verspüren und ich damit falsch liege, dann habe ich niemandem geschadet; doch wenn ich vom Gegenteil ausgehe, Tiere jedoch tatsächlich solche Gefühle haben, dann öffne ich grenzenlosen Grausamkeiten damit Tür und Tor … Es muss heißen: Im Zweifel für die Tiere – wenn denn überhaupt noch irgendwelche Zweifel bestehen.“

Das Gefühlsleben der Tiere

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