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KAPITEL 1

BETON IN DER BRUST

An diesem Punkt sollte sich mein Leben also auf den Kopf stellen. Aus der Bahn geworfen, gecrasht. Ein Leben, das die letzten Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte, von ganz anderen Merkmalen geprägt war. Wobei rückblickend brodelte es schon lange. Viel zu lange. Seit meiner Kindheit. Aber dazu später.

KINDHEIT

Ich bin am 21. Januar 1981 in Laufenburg in der Schweiz geboren. Schön gelegen am Rhein mit einer hübschen Bogenbrücke ins badische Laufenburg, die sogenannte Laufenbrücke. Das kleine Altstadtzentrum ist alt, sehr alt. Touristen, falls welche kämen, würden diese malerische Altstadt sicher auf Fotos festhalten, aber wir an der Grenze zum Badischen sind schon eins geworden mit dieser urtümlichen Atmosphäre.

»Das Lied von Laufenburg« bringt diese Kleinstadtromantik und Urgewalt, die ich in meinem Geburtsort erleben durfte auf den Punkt:

Singend rauscht vom Hochland her der grüne Rhein,

Gischt und Wogen schäumen um das Felsgestein.

Jubelnd in die Ferne zieht mit ihm mein Lied,

wenn er durch die Enge in die Lande flieht.

Der Urheber dieses Liedes bot auch gleich den Straßennamen, an der ich groß geworden bin: Hermann-Suter-Straße 15. Da, wo Gischt und Wogen um mein Felsgestein schäumten, getrieben von diesem einen Traum:

Jubelnd in die Ferne zu ziehen, mit mir mein Lied,

wenn ich durch die Enge in die Lande fliehe.

Aufgewachsen bin ich in einem schönen Einfamilienhaus, mit noch schönerem Garten, einer zwei Jahre älteren Schwester und immer schon mit Katzen. Ein Haus ohne Katzen ist wie ein Aquarium ohne Fische.

Für Freunde, Familie und Bekannte war ich als Jugendlicher der lustige, aufgedrehte Robin. Der immer gut gelaunt war. Der immer crazy Ideen hatte. Mit dem es nie langweilig wurde. Aber hinter der Fassade war es keine einfache Zeit für mich. So ähnlich wie bei einem Kranken, dem man nichts ansieht, der aber innerlich mit seinem Leben ringt.

Mein Laufenburg, die malerische Altstadt, der Rehmann-Brunnen, der Weiher, der Wald, der Schlossberg, das Schulhaus, die dreifache Turnhalle. Orte, verknüpft mit starken Erinnerungen. Schönen Erinnerungen. Ich war integriert. Spielte im Volleyballverein und fühlte mich wohl in der Rolle des Pausenclowns. Das gab mir Halt.

Laufenburg ist als Stadt im Grundbuchamt eingetragen, trotzdem ist es kein großer Ort. Sogar ziemlich eng, wenn man mich fragt. Wie üblich in der Schweiz sind die Menschen mehr für sich, und wenn die heimische Tür zu ist, dann ist sie wirklich zu, fest dreimal verschlossen und das Vorhängeschloss eingerastet. Ich dagegen wollte immer schon die Welt sehen, präsent sein, etwas in die Ferne ziehen. Fliehen. Ich habe mir ein Stück weit meine Welt selbst gestrickt. Schon früh ulkige Geschichten geschrieben, die ich stolz meiner Schwester zum Lesen gab. Es tat gut zu sehen, dass sie diese auch tatsächlich lustig fand. Ich fühlte mich darin bestätigt. Ich sehnte mich nach Anerkennung, wollte wahrgenommen werden.

Der Fernseher und das Radio erhielten bei uns zu Hause besondere Aufmerksamkeit. Aufgewachsen zwischen »Schwarzwaldklinik«, »Rivalen der Rennbahn«, »Verstehen Sie Spaß?«, »Wetten, dass..?« und der »Rudi-Carrell-Show«. Doktor Brinkmann, Sascha Hehn und Frank Elstner waren fixer Bestandteil meiner Kindheit. Vor allem brachte die Flimmerkiste meinen Vater zum Lachen. Ich habe ihn selten so lachen sehen, wie nach einem guten Gag von Feuerstein bei »Schmidteinander« oder bei der absurden Quizshow von Hape Kerkeling. Beim Mittagessen hörten wir dann SWF 3, und es war gut möglich, dass wir Kinder zurechtgewiesen wurden, damit der Radiomoderator besser zu verstehen war.

Klar hat mich diese Welt fasziniert. Ich wollte ins Radio. Dass man mich hört. Ins Fernsehen. Dass man mich sieht.

ERSTE RADIOSENDUNG

Als ich mit 16 in der Zeitung eine Anzeige sah, die junge Moderatoren aufrief, um ein neues Schweizer Jugendradio aufzubauen, wusste ich, dass ich da hinmusste. Dieses Schweizer Jugendradio ist heute SRF Virus. Mein Arbeitsplatz. Das sollte meinen Ehrgeiz doch schön illustrieren? Damals, beim ersten Casting meiner Karriere, habe ich es natürlich vergeigt.

Ich war nervös. Wurde dann aber zu einem Lokalradiosender vermittelt, Radio X in Basel. Dort durfte ich die ersten Monate nur den Veranstaltungskalender vorlesen. Mehr war mir zu Beginn auch nicht zuzutrauen. Aber ich war angefixt, war stolz, wollte mehr, konnte tatsächlich getrieben von Enthusiasmus die Verantwortlichen überzeugen, mir eine Chance zu geben.

»Binggeli« hieß die erste Radiosendung, die ich erfunden habe. Irgendwo im grellen Nirwana zwischen Punk-Rock-Geschrei und »Jackass« fürs Radio. Im Zentrum stand ein selbst geschriebenes Hörspiel, das ich mit Freunden aufgenommen hatte. Ich versuchte stets, die Dinge neu und frisch anzugehen. Ein bisschen verrückt, wie mich wahrscheinlich viele sehen und sahen. Nie mit angezogener Handbremse.

JAHR IN DEN USA

Dann mit Anfang 20 ging ich für ein Jahr in die USA, nach Wisconsin ins Community College, um »Communication Arts« zu studieren. Insgeheim aber auch, um die Vergangenheit vollends hinter mir zu lassen. Dort lernte ich neben »Public Speaking« auch das Radio- und TV-Handwerk kennen. Für das UW Fox College Radio durfte ich eine Sendung produzieren. Sie hieß »The Hate Show« und wurde am College im Aufenthaltsraum ausgestrahlt.

Darüber habe ich mich definiert. Meine kreative Arbeit. Du bist, was du machst. Als Austauschschüler war ich Außenseiter, aber die Amis fanden mich lustig, weil ich einen so starken Akzent hatte. Es machte mir riesigen Spaß, ich liebte die Unabhängigkeit, und es wurde eine unvergessliche Zeit.

LEIDENSCHAFT – DAS RADIO

Zurück im alten Europa gründeten wir eine unkaputtbare Punkband mit dem prophetischen Namen »Krank«. Daneben fing ich bei VIVA Schweiz an, zuerst als Praktikant. Auch wenn mein Aufstieg zum Redakteur und später Moderator von außen betrachtet zufällig schien, war es das nicht. Schon als Praktikant wusste ich, ich gehe hier erst weg, wenn ich der beste männliche Schweizer VIVA-Moderator bin. Zum Schluss war ich vielleicht nicht der Beste, aber neben Fabienne Heyne und Linda Gwerder der Einzige.

Nach einigen Umwegen zwischen WGs und Ausziehcouchs siedelte ich um nach Zürich, wo mein Leben erst richtig Fahrt aufnahm. Es ergab sich einfach so. Ich lernte viele Leute kennen, begann für das Schweizer Radio SRF Virus zu arbeiten, konnte mich so auch in Fernsehformaten einbringen, und parallel berichtete ich viral im Internet über mein Leben in einem Vlog. Live aus meinem Wohnzimmer, mit allen Höhen und Tiefen. Meine junge Karriere begann, und ich wollte immer mehr, drückte weiter aufs Gas.

Körperlich ging es mir in dieser Zeit immer recht gut. Aber ich führte schon ein wildes Leben – ein krasser Kontrast zu dem Schicksal, das mich bald ereilen sollte.

LEBEN IM RAUSCH

Ich war viel unterwegs, ließ keine Party aus, hatte den ein oder anderen Blackout, spielte mit meiner Punkband »Krank« Konzerte, zelebrierte das Bier. Donnerstag, Freitag, Samstag war ich unterwegs. In einem Klub oder mit Kollegen etwas trinken, machte Musik oder setzte irgendeine Idee um oder filmte ein Youtube-Video oder machte für SRF Reportagen oder Interviews. Radio, Fernsehen, Internet, ich war sehr aktiv und lief dabei halt auch genauso hochtourig. »Die Musik muss so laut sein, dass wir nicht hören, wie die Welt untergeht!« Dieses Tattoo hätte ich mir damals direkt unters Herz stechen lassen sollen.

Ein Leben im Rausch. Zwischen Bier und Fertigpizza mit Käseersatz. Meine Ernährung bestand aus Emulgatoren, Aromastoffen und Geschmacksverstärkern, zubereitet von der Fünf-Sterne-Köchin namens Mikrowelle. Essen war für mich mehr ein Übel als ein freudiges Ereignis. Gekocht habe ich nie. Ich war Stammgast beim Pizzalieferanten ums Eck und beim Schnellimbiss am Bahnhof. Für das Thema »Gesundheit« hatte ich nicht einmal ein müdes Lächeln übrig. Wenn mir jemand zum Geburtstag oder zu Weihnachten explizit »Gute Gesundheit« wünschte, konterte ich immer mit: »Gesundheit? Was will ich denn damit? Ich wünsche mir lieber eine Playstation.«

Bis vier Uhr in der Früh auf einem Punkkonzert und dann nach ein paar Stunden Schlaf noch halb verkatert wieder zur Arbeit. Das war mein Rhythmus. Ich hatte oft rote Augen, die brannten. Doch ich hatte ja auch Augentropfen. »Jung kaputt, spart Altersheim!«, schreit kaum noch einer Mitte Dreißig.

Das mag alles so unbeschwert, zumindest glücklich und sorgenfrei klingen. Aber das scheint mir ein verzerrtes Bild. Nicht, dass es kein lebenswertes Leben war, aber unbeschwert war ich nur dann, wenn die Musik laut, das Bier kalt oder das Youtube-Projekt intensiv genug war. Das war mein Mechanismus, meinen Gedanken zu entkommen. Gedanken, die mich mit Schuldgefühlen torpedierten. Wenn ich mich mit diesen Selbstvorwürfen nüchtern und rational befasste, war mir sofort klar, wie irrational diese waren. Trotzdem quälten sie mich. Umso mehr ich mich damit befasste, umso mehr konnte ich mich selbst in den Wahnsinn treiben und mich mit dem Gedanken zurücklassen, dass ich ein böser, schlechter Mensch bin, der kein gutes Leben verdient hat. Ein solcher Mensch lässt es seinem Körper auch nicht sonderlich gut gehen, sondern schindet diesen eher mit langen Jogging-Runden in zu hohem Tempo. Körperpflege war ebenfalls eher sekundär.

Wenn viel läuft, dann muss man sich auch nicht mit seinem Innenleben beschäftigen. Wohl deshalb war ich eigentlich immer ein gehetzter Mensch. Die Gegenseite, den Kater, die Phase, wo es mir schlecht ging, die Schuldgefühle, konnte ich immer wieder verdrängen. Mit der nächsten Party, mit dem nächsten Projekt, mit dem nächsten Event, das noch größer werden sollte.

Auch als DJ war ich oft und lange in Klubs unterwegs. Es war eigentlich immer etwas los bei mir. Und es war auch nicht geplant, dass das irgendwann stoppen sollte. Sondern eher im Gegenteil, es hat immer noch hochtouriger sein müssen, noch schneller und noch mehr. Krasser und wilder. Immer exzessiv. Party war wichtig. Es wurde erst dann spannend, wenn es über Grenzen hinausging.

Am Wochenende war immer Abriss angesagt, irgendwo zwischen Wahnsinn und Selbstzerstörung. »Richtig glücklich bin ich nur im Rausch.« Das war nicht nur so dahergesagt, sondern war auch genau so gemeint. Von 21 bis 33 Jahren war nur Durchzug! Nüchtern fühlte ich mich oft ängstlich, ausgestoßen, von Schuldgefühlen zerfressen. Es gab immer viel zu überspielen. Dafür brauchte ich nicht zwingend Bier, aber es hat auf jeden Fall geholfen.

Ich möchte diese Zeit definitiv nicht glorifizieren. Ich erlebte da zwar tatsächlich die wildesten Geschichten, die ein eigenes Buch füllen würden. Eigentlich zwei Bücher. Ein sehr lustiges, mit wilden Partynächten und abartigen Erlebnissen, die kaum zu toppen sind und …

KOSTPROBE GEFÄLLIG?

Hat da jemand »Kostprobe« gesagt? Na gut! Es war auf einer Punkparty im »Kessel« in Offenburg. Ein klassischer Punkkeller. »1, 2, 3, Oberkörper frei«, wurde von mir lautstark skandiert, als ich mit meiner Punkband »Krank« gut angesoffen auf der Bühne stand. »1, 2, 3, Oberkörper frei« war mehr als eine stumpfe Parole, es war vielmehr eine Aufforderung, sich frei zu machen von Konventionen und Zwängen. Dies wurde mit unserem Lied »Fashion Town« eingestimmt:

Schickimicki-Schickimicki – Bullshit!

Ein Kleid bei Prada – Uh la la.

Ein Stelldichein mit Calvin Klein.

Kein Wechselgeld für Lagerfeld.

Wer hat diesen Scheiß bestellt?!

Du kannst niemandem traun

in Fashion Town!

Haute Couture,

nur wofür?

Designer Hemd,

wird verbrennt!

Ne Make-up-Schicht

fürs Gesicht.

Will ich nicht,

will ich nicht!

Du kannst niemandem traun

in Fashion Town!

Die Klamotten ablegen und so sein, wie wir sind! Nackt! Das war nicht nur eine Aufforderung für unser Publikum, sondern auch für unseren Bassisten, der den Rest des Auftritts nur noch mit seiner Bassgitarre »bekleidet« bestritt. Ganz nach dem Motto »Schwänze in die Luft!« hatten wir zu dieser Zeit keinerlei Berührungsängste.

Für den späteren Abend war dann ein »Miss Wet T-Shirt Contest geplant«. Dass dies nicht in einen wirklichen Contest münden würde, war von Anfang an klar, da unsere Konzerte meist praktisch ausschließlich vor Männern stattfanden. Also wurden die Regeln kurzerhand zum »Mister Wet T-Shirt Contest« abgewandelt. Zu gewinnen gab es ein selbst bemaltes T-Shirt und ganz viel Ruhm und Ehre.

Da an der Bar tatsächlich zwei junge Damen für das Bierzapfen verantwortlich waren, erkor ich die beiden zu den Schiedsrichterinnen mit besonderem Auftrag. Sie mussten entscheiden, welcher Punker den besten Oberkörper hatte. Wie sie dies eruieren sollten? Durch Ablecken der Oberkörper, die ich mit zwei Flaschen Bier begoss. Fünf Asseln standen mit nacktem Oberkörper auf der Bühne, die beiden Jurorinnen leckten und gaben Noten von 1 bis 5, während ich die Meute als besoffener Moderator anheizte.

Als letzter Kandidat war unser Bassist an der Reihe. Er, der schon vorher splitterfasernackt auf der Bühne stand, wusste, dass er mit nacktem Oberkörper nicht durchkommen würde. Da musste mehr her! »Gruppenzwang! Gruppenzwang!«, skandierte ich. Free Willy sprang in die Freiheit, und ich übergoss ihn mit Bier. Nun forderte ich die beiden Mädels prollig auf: »Ablecken und bewerten!« Die Menge tobte. Unser Bassist »Massen Mord« erhob triumphierend die Hände und konnte kaum glauben, wie ihm geschieht, als eine wohlige Wärme sein bestes Stück umschloss. Die beiden Spielleiterinnen standen kichernd daneben, als Massen seinen Blick nach unten senkte. Da saugte ein stark behaarter Punk mit lustigen Dreadlocks an seinem Pillermann.

Das war das erste Mal, dass Massen ein Mister-Wet-T-Shirt gewonnen hatte. Am selben Abend stürmte dann auch noch die Feuerwehr den Keller, und ein Punk wurde aus Versehen bis am nächsten Nachmittag in den Getränkekeller gesperrt. Aber das ist eine andere Geschichte.

IMMER AUF DER ÜBERHOLSPUR

Meine Wochenenden waren geprägt von Bierduschen und Erinnerungslücken. Diese Momente, dieser Rausch, fühlte sich nach Freiheit an und sollte das übertünchen, was das erwähnte zweite Buch füllen würde. Die Kehrseite der Medaille, die vor der Außenwelt krampfhaft versteckt werden musste. Geplagt von Unsicherheit, Ängsten und beladen mit einem permanent schlechten Gewissen. Schuldgefühle, deren Ursachen diffus waren. Dieser Schmerz war aber auch zugleich mein Antrieb weiterzumachen.

Ich hätte mir nicht vorstellen können, ein Wochenende einfach zu Hause zu bleiben. Und falls es sich doch ergeben hatte, wegen irgendwelcher blöden Umstände, dass jemand im letzten Moment abgesagt hatte oder so, dann fühlte ich mich unwohl. Es war seltsam, zu Hause zu bleiben. Das kam aber zum Glück sehr selten vor.

Meine Freunde sagten oft: »Robin, kannst du dich nicht einmal hinsetzen und ein Buch lesen oder es mal locker nehmen?«

Nein, konnte ich nicht. Ich habe es geliebt, dieses Lustige, das Extreme. Ich hatte Geschichten zu erzählen, was am letzten Wochenende wieder passiert war, oder gestern oder vorgestern.

So hatte ich einen großen Bekanntenkreis und einen sehr guten Freundeskreis. Ich sah mich immer in der Rolle des Unterhalters. Es war auch meine Aufgabe, dass etwas läuft, also organisierte ich viel. Sei das ein Auftritt als DJ, ein Konzert der Band, ein Geburtstag von einem Freund, wo wir eine Riesenüberraschung planten, oder eine Sendung mit einem wichtigen Gast, der ein großer Aufreger war, wo es plötzlich um alles ging. Ich hatte zwar auch den Ruf, »wenn der etwas organisiert, dann herrscht Chaos«, aber das war auch, weil ich eben so viel organisiert hatte und dann natürlich auch viel schiefgehen kann. Der spätere Frust darüber, dass ich das alles nach meiner Erkrankung nicht mehr leisten konnte, war unumgänglich.

Diese durchzechten Nächte und wilden Partys mögen heute für manchen oberflächlich und nach typisch jungem Erwachsenen klingen. Ich empfand es als hochtourig. Es gab zusätzlich ein Alltagsleben im Job, das ich ebenso forcierte. Ein Ziel, das ich immer hatte, war, eine Radio-Persönlichkeit zu werden. Mit einem Radio-Format, das anders war als das, was man bisher in der Schweiz kannte. Ich wollte immer eine Sendung mit mehr Tiefgang, aber auch mit Humor und Spaß. Es ging mir nie ums bloße Provozieren, obwohl mich Kritiker als »schlimmer als Crack in der Pausenmilch« bezeichneten. Das verkörperte ich tatsächlich, in gleichem Maße privat wie beruflich.

Es ist schwierig zu sagen, ob ich in meinem vorherigen Leben glücklich und zufrieden war. Das hört sich irgendwie lustig an, »vorheriges Leben«, als wäre es ein anderes Leben nach der Diagnose. Aber es ist tatsächlich ein anderes Leben.

Davor war ich schon eher ein getriebener, gestresster Typ. Ich würde sagen, zufrieden war ich nie. Ich habe das auch immer so gesagt: »Ich bin nicht zufrieden.« Weil, wenn ich zufrieden bin, hört es auf. Und das war es auch, was mich angetrieben hat und mich wahrscheinlich zu dem gemacht hat, was ich bin. Moderator, DJ, Punksänger, Colitisulcerosa-Kranker.

SCHLÜSSELMOMENT

Die ersten Anzeichen waren für mich schwer zu deuten. Ein Moment, der aber nachträglich als Aufschrei zu verstehen ist, ereignete sich bei einem Fußballspiel des Grasshoppers-Klubs Zürich gegen den FC Basel. Beim Schlusspfiff sagte ich noch zu meinem Begleiter »Frustfoul«, dass es da ganz schön in meiner Magengegend rumore. Aber beim Gedanken an die Stadiontoilette kam nicht gerade Freude auf. In Anbetracht dessen, dass meine Wohnung nur zwanzig Minuten vom Stadion entfernt war, war es eine rationale Entscheidung, den Kobold erst zu Hause ins Klo zu boxen. Ich wusste nicht, dass die nächsten zwanzig Minuten einem Tanz auf heißer Kohle glichen. Kaum hatten wir das Letzigrund-Stadion verlassen, wusste ich, dass ich vielleicht besser in der Gastwirtschaft ums Eck einkehren sollte, um dort meine Rohrbombe krepieren zu lassen.

Doch in diesem Augenblick kam der Linienbus angefahren, und ich wurde mit »Frustfoul« und all den anderen leicht angeduselten Fans in den Bus gepfercht. Da war gar keine Zeit, groß darüber nachzudenken. Kalter Schweiß machte sich auf meiner Stirn breit. Ich war ausgeliefert. Der Gedanke, jetzt hier vor allen anderen im eng bepackten Bus einen braunen Pullover zu stricken, ließ die Panik in mir hochsteigen, und ich spürte meinen Herzschlag in der Stirn pulsieren. Keine Ahnung, was mein Kumpel »Frustfoul« in diesem Moment bei meinem Anblick gedacht hat. Erkennen konnte er nichts. Ich hatte mein obligatorisches Lächeln aufgesetzt. Am Ende ist es doch gut zu wissen, dass jeder Mensch so sehr mit sich selbst beschäftigt ist, dass ein still leidender Junge konsequent übersehen wird. Immer. Besser so, in diesem Moment. Hätte mich jemand angesprochen, wäre der ganze Bus in Nougatcreme versunken. Ich tanzte den Disco-Fox. Sekunden wurden zu Stunden. Zehn Minuten Busfahrt, Auge um Auge mit dem braunen Killerwal. Weiche Knie. Nur aufgeben – aufgeben kann ich jetzt nicht!

Steine im Bauch

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