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EINLEITUNG

Robin war immer schon ein Bauchmensch. Spontan, energievoll, enthusiastisch, lustig. Das alles aber in besonders aufgedrehter, wilder Art. Immer hatte er frische Ideen und spannende Einfälle. Ein Traum für einen kleinen achtjährigen Knirps wie mich damals, als wir als Kinder und dann als Jugendliche viel Zeit miteinander verbrachten. Seine Welt war voller Möglichkeiten. Er vermochte den trübsten Novembertag noch unvergesslich zu machen. Egal, ob wir Hörspiele aufnahmen oder Lieder einsangen.

Einmal übernachteten wir bei ihm. Wir schliefen unten im kleinen Zimmer im Erdgeschoss, in dem sein Vater oft Klavier spielte. Wir machten durch, das erste Mal für mich. Und mitten in der Nacht kletterten wir dann einfach aus dem Fenster und liefen in Laufenburg herum. Drei kleine Jungs auf Abenteuertour. Als Proviant hatten wir diese Gummibären-Frösche dabei. »Ein Frosch uf d’Nacht« sagten wir dann. Es gab uns wohl den nötigen Mut.

Robin ist vier Jahre älter als ich, genau wie mein Bruder Patrick. Und eigentlich war er immer wie ein zweiter Bruder für mich. So oft war er bei uns zu Hause in Wallbach, aß bei uns, schlief bei uns. Die Ferien verbrachten wir gemeinsam. Einmal kamen er und seine Eltern sogar nach Rhodos mit, wo wir immer unsere Sommerferien verbrachten. Unvergesslich.

Doch dann kam irgendwann der Bruch. Abrupt oder schleichend, ich kann es nicht mehr genau sagen. Wir verloren uns aus den Augen. Seine Besuche mit dem »Töffli« wurden immer weniger, wir besuchten ihn gar nicht mehr. Seine Mutter und meine, schon seit Teenagertagen beste Freundinnen, mieden sich. So erscheint es mir retrospektiv. Aber was damals wirklich passierte, sollte ich erst viel, viel später erfahren. Es ging ihm offenbar damals schon nicht gut. Seine fröhliche Art, eine Maske für das Chaos, das in ihm tobte. In seinem Bauch. Damals nur als vages Gefühl. Irgendwann sahen Robin und ich uns schließlich gar nicht mehr. Er war ein Austauschjahr in den USA. Das hatte ich noch mitbekommen. Aber seine Reise war nicht der eigentliche Grund.

Ich lebte natürlich mein Leben weiter, war in die Bezirksschule gekommen, alles war aufregend, die Kindheit vorbei. Ich fing an auszugehen, lernte Mädchen kennen, versuchte, sorgenlos zu sein, wie ich es auch von meinem »Bruder« vorgelebt bekommen hatte.

Es sollte Jahre dauern, bis ich Robin wiedersah. Gerade hatte ich meinen Fachmaturitätsabschluss in der Tasche, da stand er mitten unter den Leuten am Marktplatz in Basel. Er hatte dieselbe Schule besucht und war als Redner geladen. Er stand neben meiner Familie und mir, unterhielt sich mit uns, und doch schien er unendlich weit entfernt.

Ein Kindheitsfreund ist ein Seelenverwandter. Er hat mit mir die Welt betreten und kennengelernt. Nie wird eine neue Bekanntschaft diese ursprünglichen, tiefen Erfahrungen mit einem teilen, die einen Menschen für sein ganzes Leben prägen. Robins abermaliges Auftauchen an diesem Tag war nicht mehr als ein Wetterflimmern. Ein kurzes Aufblitzen am Horizont, irgendwo in der Ferne. Eine Erinnerung. Aber der Donner, der sollte erst viel später hörbar sein.

Erst als ich mittlerweile Vater geworden war, seit Jahren schon in Deutschland wohnte, und seine Geschichte über die Medien indirekt erfahren hatte, saßen wir uns wieder gegenüber. Das war Anfang dieses Jahres, im März. Es hatte etwas geschneit, und kurz vor unserem Treffen war ich nervös wie vor einem ersten Date, wartete in meinem Elternhaus, das sich nie verändert hat. Was reden, was, wenn wir schweigen, werden wir uns noch immer verstehen?

Dann klingelte es, und Robin stand da.

Wenn man jemanden lange nicht sieht, dann hat SIE meistens ein bisschen kräftigere Hüften und ER einen dezenten Wohlstandsbauch. Bei Robin war das anders. Er war schmaler geworden, bleicher. Die Krankheit hatte ihn gezeichnet, und an schlechteren Tagen sieht man das. Robin wirkte zerbrechlich, schwach.

Doch schien dies nur ein oberflächlicher Eindruck zu sein. Denn er nahm mich in den Arm und drückte mich herzlich. Zwei Brüder umarmten sich nach langer Zeit. Ich spürte seine Rippen. Es war wie immer.

Wir ließen uns wieder los, und er lächelte, lachte wie früher. Das Lachen eines Menschen ändert sich nie. Das Lachen eines Menschen ist etwas so Schönes und Individuelles, es offenbart dir mehr noch als der Körper den ganzen Menschen, seine Seele. Ob verhalten, herzlich, laut und schallend, oder einfach nur ein tonloses Schmunzeln. Robins Lachen ist mehr ein Kichern, ein kindliches Grinsen, dazu die forsch glänzenden Augen. Man muss es einfach gernhaben. Robins Lachen war also noch dasselbe. Aber es hat an Kraft verloren. Er hat an Kraft verloren. Er war derselbe und doch ein anderer. Denn etwas hatte sich grundlegend geändert: Robin ist krank.

Länger schon, seit Jahren. Ich hatte es durch meinen Bruder mitbekommen, spätestens durch Robins Radiosendung »S.O.S. – Sick Of Silence«. Doch es ist etwas anderes, wenn man den Menschen dann sieht, die Geschichte aus seinem Mund hört.

Ich erfuhr die ganze Geschichte. Den Anfang, Robins Kindheit, kannte ich teilweise. Was alles danach passierte, als wir uns nicht mehr sahen, erfuhr ich dann allmählich. Die Geschichte über »Colitis ulcerosa«. Die Autoimmunkrankheit, an der Robin leidet. Die Behandlungen, die er exerziert. Die Leute, die ihm Hilfe anbieten. Die psychischen Belastungen. Die körperlichen Leiden. Das Kreuz, das Robin zu tragen hat. Die Steine, die er mit sich herumträgt. Die Steine im Bauch.

Aber Robin hat das Kämpfen nie aufgegeben. Wie in den amerikanischen Filmen, die wir als Kinder verschlangen. Indiana Jones, James Bond, Rocky. Die geben nie auf! Tschakka, du schaffst das! Aber sie haben auch keine schwere chronische Krankheit. Eine Krankheit, die dir menschliche Grundbedürfnisse schlechtmacht: Essen und Schlafen, um nur zwei zu nennen.

Dann, Wochen nach unserem Treffen, erhielt ich von Robin unerwartet eine Mail. »Hast du Interesse und vor allem Lust, das Buch über mich und meine Colitis ulcerosa zu schreiben?« Ich musste schlucken. Vor Überraschung, vor Dankbarkeit über das große Vertrauen.

Trotzdem musste ich kurz überlegen, ob ich der Richtige für dieses heikle und wichtige Thema bin. Denn persönlich wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt wenig über Colitis ulcerosa. Okay, eigentlich nichts. Wie viele Krankheiten ist diese auch mehr oder weniger tabuisiert und findet in der Öffentlichkeit kaum statt.

Ich hatte natürlich ebenfalls Erfahrungen mit Krankenhäusern und Ärzten – und die Liste meiner Krankheitsgeschichte ist auch schon etwas länger: Mumps, Windpocken, Gürtelrose, Augenentzündungen, Bronchitis, Ausfall Vestibularis links (Gleichgewichtssinn, bis heute auch nicht klar, warum) und die gute Sinusitis, mit der ich auch chronisch zu kämpfen habe. Dazu noch Knochenbrüche (Zeh, Schlüsselbein, Nase), das Loch im Kopf (Danke, Pascal), der Meniskusanriss und diverse Prellungen. Aber eine schwere chronische Krankheit ist schon etwas ganz anderes. Wenn sich dein Leben einfach mal so komplett auf den Kopf stellt.

Kann ich das überhaupt verstehen? Weiß ich, wie Robin und all die anderen Erkrankten sich fühlen? Nein. Das wissen nur die Menschen selbst, die Tag für Tag gegen die schlimmen Symptome und Schmerzen kämpfen.

Aber ich kann zuhören. Ich kann mich in einen Menschen einfühlen, ihn verstehen lernen, seine Sorgen und Gefühle aufnehmen, und diese dann in diesem Buch für andere ebenfalls erlebbar machen. Ich kann Robins Geschichte, die er mir erzählt hat, aufschreiben. Seine Interviews, die er zum Thema geführt hat, seine Vlogs (Video-Blogs), die er aus dem Krankenhaus gemacht hat, verarbeiten und in Form bringen. Dieses Buch geht jeden an.

»Ich kann das Buch nicht schreiben. Du musst es machen«, hat Robin zu mir gesagt. Und das tue ich jetzt. Nach kurzer Überlegungszeit habe ich zugesagt.

Denn in seiner Geschichte steckt etwas Universelles, etwas Allgemeingültiges. Es sind Tipps und Ratschläge zum Umgang mit Colitis ulcerosa, aber auch allgemeingültige Gedanken zum Leben und seinem Wert, die jeden zum Nachdenken bringen. Denn wir alle wissen, Gesundheit ist nicht selbstverständlich. Unser Leben auch nicht.

Und wenn wir mit diesem Buch, das wir gemeinsam immer wieder besprochen und weiterentwickelt haben, anderen Menschen helfen können, dann hat Robins elende Krankheit doch noch etwas Gutes hervorgebracht:

Niemand ist mit seinem Schicksal allein.

Marc Vogel,

im Juni 2017

Steine im Bauch

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