Читать книгу Steine im Bauch - Marc Vogel - Страница 7
ОглавлениеVORWORT
Ich habe den Rauch stets ignoriert, und jetzt kann ich die Flamme nicht mehr kontrollieren. Die Entzündung im Dickdarm lässt mein Haus in Flammen stehen. Im Kampf gegen mich selbst! Autoimmunkrankheit. Oder wenn dein Körper sich selbst attackiert. Denn das einzige, das genügend Kraft hat, mir in den Arsch zu treten, bin ich selbst!
Das ist es wohl, das spirituelle Erwachen, von dem man in Midlife-Crisis-Büchern lesen kann. Während sich die einen auf den Jakobsweg zur Selbstfindung begeben, suche ich mir eine schwere Darmkrankheit aus. Colitis ulcerosa. Klingt wie der lateinische Begriff für eine hübsch blühende Rose, aber außer den Dornen haben die beiden wenig gemein.
Mein Leben ist jetzt ein anderes, als es vor der Diagnose war. Neue Türen wurden eingetreten, alte Fenster neu verglast, um die Sicht auf das Wesentliche nicht zu verlieren. Vom Verlorengehen, Sich-wieder-Finden und nach dem rechten Weg fragen – davon handelt dieses Buch. Keine Memoiren, um zwischen den Zeilen meine Trauer zu bekunden. Die Idee dafür entstand im Krankenhaus. Hier wurde auch die Angst geboren, den Anschluss zu verlieren. Ich dachte, es würde sich fast lohnen, alles aufzuschreiben, um vielleicht selbst zu verstehen, was mit mir passiert.
Ich bin nicht allein. Etwa 160 bis 250 von 100.000 Einwohnern in der westlichen Welt leiden an einer Colitis ulcerosa. Weder Ursache noch Heilung sind bisher geklärt, Lösungsansätze teilweise sogar diametral. Schulmedizin, Naturheilkunde, der Aspekt der Psychosomatik, in diesem Spannungsfeld bewege ich mich als Patient. Immer in der Hoffnung, meinen Dickdarm behalten zu können, um nicht ein Leben im Durchfall zu bestreiten.
Zerrissenheit. Beim Versuch, diese Zerrissenheit auf Papier zu bringen, bin ich kurios gescheitert. »Backspace« und »Delete«, als Antwort auf den nächsten Einfall. »Am Ende ergibt das alles einen Sinn.« Was als motivierender Stoßstangenaufkleber funktioniert, ist auch Benzin für meinen Schicksalsglauben. Mein Unvermögen öffnet Tür und Tor, einen neuen Menschen in mein Leben zu lassen. Denn eins hat mich meine Krankheit gelehrt: »Das schafft keiner allein!« Ohne all die lieben Menschen, die mich auf meinem steinigen Weg begleiten, hätte ich meinen optimistischen Ausblick schon längst verloren.
»Du suchst eine helfende Hand? Schau mal am Ende deines Arms nach!« Dieses Motto, das man mit sattem Bauch in Glückskeksen findet, kann man getrost in die Tonne schmeißen. Nein, du sollst dein Glück nicht von anderen abhängig machen, aber jede helfende Hand annehmen, die sich dir in der Not entgegenstreckt. Vor allem scheue dich nicht davor, danach zu greifen und nach Hilfe zu fragen.
Zu Beginn meiner Krankheit habe ich versucht, diese herunterzuspielen. Dabei habe ich insgeheim gehofft, dass meine Ärzte und mein Umfeld schon irgendwie merken, wie schlecht es mir wirklich geht. Diese Maske setze ich noch heute regelmäßig auf, welche ich dann erst hinter der verschlossenen Badezimmertür, geschüttelt von starken Bauchkrämpfen, ablegen kann.
Ich wollte nie »der Kranke« sein. Mit diesem Bild habe ich mich bis heute nie anfreunden können. Aber die Rolle des »Starken« sollte man spätestens jetzt ablegen und vertrauen. Vertrauen an das Gute und die Menschen um dich herum. Ich bin diesen Menschen unglaublich dankbar, die mich in dieser schwierigen Zeit unterstützt und sich um mich gekümmert haben. Ob mit Zuhören, Gesprächen, Medizin, Fitness- und Entspannungsübungen oder mich einfach in den Arm nehmen und Mut machen. Ihr wisst, wer ihr seid!
Ich kann meine Dankbarkeit euch gegenüber kaum in Worte fassen. Mich aber dafür zu öffnen, das war ein Prozess. Ich will hier festhalten, dass jeder solche Menschen in sein Leben holen kann. Seien es Fachkräfte wie Psychologen und Ärzte, die dich nicht nur fachlich, sondern auch empathisch behandeln. Du bist nicht egal. Ihnen nicht, und du solltest es dir selbst gegenüber auch nicht sein. Deshalb öffne dich! Such Hilfe, sei diese psychologisch, alternativ oder schulmedizinisch. Greife nach den Händen, die dir angeboten werden. Allein hätte ich das nicht geschafft. So verhält es sich auch mit diesem Buch.
Ich machte mich via Facebook-Status auf die Suche nach jemandem, dem ich meine Geschichte erzählen kann. In der Hoffnung, dass diese akkurat wiedergegeben wird. Nur einem guten alten Freund kann man diese Geschichte emotional so weitergeben, dass sie tatsächlich nachempfunden werden kann. Der Moment, wenn das Schicksal einen Homerun schlägt und deine Hoffnung auf der sicheren Base Platz findet: Marc Vogel. Um mit Metaphern vom Vogel, der im Winter nach Süden zieht, um im Sommer wieder zurückzukehren, sparsam umzugehen, bringe ich es gleich auf den Punkt: Marc Vogel und ich kennen uns, seit wir das Licht dieser Welt erblickten. Unsere Mütter waren beste Freundinnen. So verbrachten wir zwangsweise schon als kleine Kinder unsere Zeit miteinander. Diese Freundschaft wurde abrupt beendet, als die Konflikte in meiner Familie eine Dimension erreichten, die mir weit über den Kopf gewachsen sind. Dämonen. Abgründe. Ich musste fliehen. Konnte mich nicht stellen. Ich habe als volljähriger Teenager alle Kontakte und Verbindungen gekappt, die mich an meine Traumata erinnern. Verdrängen, Brücken niederbrennen, konfrontiert mit der Unmöglichkeit, den eigenen Gedanken zu entfliehen.
Erst 15 Jahre später und nach der intensiven Auseinandersetzung mit meiner Krankheit suchte ich wieder den Kontakt. Zu Patrick Vogel, Marcs vier Jahre älterem Bruder. Patrick und ich sind gleich alt. Uns verband neben Nintendo Games auch eine kreative Ader. Da Patrick Onlineportale meidet und ich deutlich leichter zu finden bin, war er es, der die erste E-Mail nach 15 Jahren losschickte. Vielleicht war die Unterstützung, die er für eine Studienarbeit suchte nur ein Vorwand – vielleicht auch nicht. Das vertraute Gefühl, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen – Balsam für meine Seele. Es verwunderte mich nur bedingt, dass sein kleiner Bruder Marc gerade dabei war, seine Ausbildung als Drehbuchautor an der Filmakademie in Baden-Württemberg abzuschließen, hatten wir doch schon im heimeligen Kinderzimmer unsere eigenen Geschichten auf Kassetten aufgenommen.
Es galt, die Naht zu schließen, die uns zusammenhält. Diese Vertrautheit von früher, sie war noch da. Das Wiedersehen fühlte sich richtig an. Ganz und gar nicht, als hätte man sich ein halbes Leben lang nicht gesehen. Eher wie eine Reise, von der wir beide zurückkommen und nun davon berichten. Marcs Leben beeindruckt mich, und schnell war klar, dass es für ihn keine Mühe bedeutet, in meine Gefühlswelt einzutauchen. Er, der mit seinem Elektrokardiogramm selbst die Grenzen ausgelotet hat, sitzt mir jetzt fast genau 15 Jahre später gegenüber, hört zu und erklärt sich bereit, mit mir dieses Buch zu schreiben. Für mich ist es mehr als ein Buch. Danke Marc.
Robin Rehmann,
im Juni 2017