Читать книгу Steine im Bauch - Marc Vogel - Страница 15

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KAPITEL 6

RIEN NE VA PLUS – NICHTS GEHT MEHR

San Francisco ist eigentlich gar nicht so warm, wie viele es sich womöglich vorstellen. Obwohl es in Kalifornien liegt. Der Pazifik kühlt wohl nicht nur die Wassertemperatur etwas herunter.

Wir hatten ein AirBnB mitten im touristischen Zentrum, angemietet im Hafenviertel Fisherman’s Wharf. Dort sind die alte Konservenfabrik The Cannery oder Ghirardelli Square, eine ehemalige Schokoladenfabrik, lokalisiert. Chinatown ist ganz in der Nähe. Eine schöne Gegend mit vielen kleinen Restaurants, die bekannt sind für ihre Fisch- und Meeresfrüchte. Nicht gerade das, was man sich mit progressiven Magenbeschwerden wünscht.

Als wir nach dem langen Flug ankamen, ging es mir noch ganz okay. Auch in der Nacht hatte ich keine sonderlichen Beschwerden. Denn sonst hätte ich mir nicht am nächsten Morgen als erstes gleich vorgenommen, gegen den Jetlag joggen zu gehen.

Als alle noch schliefen, stand ich auf, zog meine Sportsachen an und verließ unser heimeliges Appartement. Ein erwachendes San Francisco, darauf freute ich mich – und wurde belohnt. Die morgendlich rote Sonne erhob sich verschlafen und träge über Alcatraz, der Gefängnisinsel, und ich lief in Richtung Golden-Gate-Bridge. Das war wirklich sehr eindrücklich, ja magisch. »Fuck, mir gehört die Welt.« Das fühlte ich so. Eben war ich noch auf einer Punktour, und nun war ich in fuckin’ San Francisco, Kalifornien.

Es wurde warm, ich war glücklich. »Wow, das ist aber gut hier.«

Das war das letzte Mal, dass ich das auf dieser Reise dachte. Und für eine längere Zeit denken sollte …

ES IST BESSER, IN DER FIRST CLASS ZU KRAMPFEN ALS IN DER ECONOMY

Unmittelbar danach wurde das Kapitel »Colitis ulcerosa« weitergeschrieben. Stolperte ich vom leichten Versreim zur griechischen Tragödie. Mit erhöhtem Stuhldruck und blutigen Stuhlgängen.

Nun in neuer Gesellschaft behielt ich meine Sorgen weiter für mich. Dafür fing ich an, mehr Cortison zu nehmen. Mir dämmerte allmählich: »Verdammt, das geht jetzt richtig schief.« So gut es ging, versuchte ich es jedoch zu verdrängen.

Das ging vier Tage gut. Dann checkten natürlich alle, dass etwas nicht stimmte. Ich musste ständig auf die Toilette rennen, konnte nicht mehr alles mitmachen, musste viel Ruhepausen einlegen, rumliegen, in den Hotels bleiben – ich litt wie ein Tier. Ich verbrachte wirklich sehr, sehr viel Zeit auf den Toiletten. Wenigstens war die Wahrheit nun raus, aber helfen konnte mir keiner.

Mit dem Cortison kam ich nicht sehr weit. Vor allem war mein Vorrat viel zu knapp. Ich schrieb meinem Arzt, und er beruhigte mich, dass nach meiner Rückkehr eine Infliximab-Infusion auf mich warten würde. Aber im Moment konnte man nichts machen, ich musste auf den Rückflug warten.

Es wurde immer schlimmer und schlimmer. Während die anderen ihre Ausflüge machten, lag ich am schattigen Pool. Oder einfach irgendwo, wo es ein WC in der Nähe gab. Die USA war für mich nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern bloß das der unbegrenzten Toilettengänge.

»Jetzt ist das wohl so«, wurde mir die Tragweite meiner Situation bewusst. Die dunklen Wolken am Himmel über Kalifornien waren nicht mehr zu leugnen. Nach dieser niederschlagenden Erkenntnis meldete sich irgendwann die Psyche. Bauch, Dickdarm und Psyche hängen bei mir scheinbar eng zusammen, wie unlängst auch ein Bestseller veranschaulichte.

Begriff man die Situation, verbessert sich der Zustand nicht, dann beginnen sich vielmehr die ersten Fragen einzunisten. Wie geht es weiter? Wird die Infusion wirklich helfen? Was, wenn ich jetzt hier in den USA einen Darmdurchbruch erleide? Wie konnte es nur so weit kommen?

Man beginnt, alles zu hinterfragen, zu durchdenken. Was will man auch tun in diesem Kreislauf aus Toilette, Ruhepause, Toilette? Mir ging es elend. Zuerst rein körperlich, nun auch psychisch. Hölle.

Erst in diesen Momenten wurde mir bewusst: »Das ist also Colitis ulcerosa.« Bei der Diagnose hatte es sich noch angefühlt wie eine etwas kompliziertere Magen-Darm-Grippe. Die Frage, ob so ein Leben nun lebenswert sei, schien mir ab nun berechtigt.

Meine Hoffnung hieß Infliximab. Ich dachte, besser gesagt hoffte, dass mit Infliximab alles wieder gut werden würde. Wie es vorher war. Davon war ich überzeugt.

»Gleich bin ich wieder zu Hause, dann bekomme ich Infliximab, und dann bin ich wieder gesund.«

Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

»WAR ES SCHÖN IN KALIFORNIEN?«

Endlich stand der Rückflug an. Milde ausgedrückt, war es eine einzige Katastrophe. Eine Tortur, ein Martyrium. Zumindest die Teile, an die ich mich erinnere. Ich bin von Toilette zu Toilette gestürzt, war nicht mehr ansprechbar. Schon die Fahrt in unserem Van zum Flughafen war ein Abenteuer, das wir uns alle am liebsten erspart hätten.

Ich saß auf der Rückbank und schrie alle zehn Minuten nach einem Highway-Exit, um eine Toilette aufzusuchen. Ich hätte nicht gedacht, dass die Toilette im Gängeviertel in Hamburg vergleichsweise akzeptabel war, im Vergleich zu den Autobahntoiletten in den USA. Eine Toilette zum Beispiel bot ein Kontrastprogramm zum schönen Strand, an dem sie gelegen war. Da konnte ich vom Scheißhaus aufs Meer blicken. All die vielen Leute sehen. Wie sie Strandball spielten und sich vergnügten. So viele Menschen. Alle gesund. Warum ich nicht? Ohnmacht und Verzweiflung hämmerten an meine Tür. »Besetzt!«, schrie ich zurück!

Durch lustige Umstände hatten wir tatsächlich einen Erste-Klasse-Flug gebucht. Nur aufgrund dieser Tatsache konnte ich den Rückflug überhaupt überstehen. Das wäre in der normalen Klasse schlicht unmöglich gewesen. Wirklich nicht. In der First-class-Lounge konnte ich vor dem Flug etwas bequemer rumliegen, so ging es einigermaßen. Es war ein luxuriöses Weinen. Es ist besser im Taxi zu weinen als im Bus, sagt man. Oder in meinem Fall: Es ist besser, in der first class Colitis ulcerosa zu haben als in der economy. Definitiv.

Als wir endlich in Zürich landeten, war meine Leidensgrenze bereits überschritten. Finito. Tschüss. Ciao.

Um zur Kofferausgabe zu gelangen, mussten wir vom Gate mit der Bahn fahren. Ich saß da drin, leidend, es ruckelte stark, und ich dachte noch: »Ich scheiße mir jetzt hier vor allen in die Hosen. Es geht einfach nicht mehr.« Ich hatte Bauchkrämpfe, bin da gekauert und wiederholte in meinem Kopf beinahe laut aussprechend: »Scheiße, wie soll ich das überleben?« Eine Grenzerfahrung.

Die Leute starrten mich an, wer kann es ihnen verübeln? Und ich saß einfach auf dem Boden und war fertig mit der Welt.

An der Passkontrolle begrüßte die Flughafenangestellte mich strahlend: »Schön, sind Sie wieder zurück. War es schön in Kalifornien?« Sie deutete auf mein Jäckchen mit der Aufschrift »California«.

Ich schaute sie einfach nur an und drückte die Worte irgendwie aus mir heraus: »Bitte lassen Sie mich in Ruhe, ich habe unglaubliche Schmerzen.«

Empört musterte sie mich von oben bis unten, »man dürfe doch wohl noch fragen.« Ja, wie die lieben Mitmenschen mit einem Kranken umgehen, das musste ich in allen Formen und Farben erst noch lernen.

Dann ging ich aufs Klo. Eine Stunde saß ich etwa da. Zeit ist auch so ein Maß, das sich plötzlich zu verändern beginnt. Aus Minuten werden Stunden. 91 Stunden soll laut Studien ein Mann durchschnittlich jährlich auf der Toilette verbringen beziehungsweise im Badezimmer. Angesichts dieser Zahlen begann ich, mich für die Weltmeisterschaften zu qualifizieren.

Dann wollte ich mein Gepäck abholen. Ich erinnere mich nur noch stückweise. »Ich kann nicht mehr«, waren meine Worte, und ich setzte mich auf ein stillstehendes Förderband.

Irgendjemand brachte mir ein Wasser …

Das war das Ende meines großen Sommers und der eigentliche Anfang meiner Colitis ulcerosa, die ich vorher nur flüchtig kannte. Eine Beziehung, die bis heute andauert und mich nie mehr ganz loslassen wird.

Steine im Bauch

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