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Kapitel 7
ОглавлениеMama hat nichts bemerkt, dachte Rafael, wie auch? Der Junge aus dem Wald ist ja nun wieder Til. Mama hat einfach Frühstück gemacht wie jeden Morgen, hat sich mit Til über Fußball unterhalten wie jeden Morgen und ist dann in die Stadtbibliothek gefahren wie jeden Morgen.
Und nun ging Rafael mit Til zur Schule – wie jeden Morgen: Sie gingen nebeneinander die Straße in Richtung Stadtzentrum hinunter und Til erzählte Rafael, der aber in Gedanken war, viel über Fußball. Zur Schule gingen sie wie immer ihren eigenen Weg: Vor der hölzernen, ebenen Bachbrücke, über die man in die Stadt gelangte, bogen sie in einen kleinen Waldweg ein, der stromabwärts am Bach entlang führte. Der Weg führte schließlich weg vom Wald; es folgten Felder, Streuobstwiesen und Bauernhöfe, bis man über eine weitere Brücke des Bachs musste, die in die Stadt zurückführte und auch zur Schule. Obwohl dieser Weg viel länger war, als wenn sie durchs Stadtzentrum zur Schule getrabt wären, gingen Rafael und Til ihn immer sehr gern, denn so konnten sie noch länger miteinander reden, bis sie bei der Schule waren.
An der Holzbrücke, wo die Brüder immer den Waldweg betraten, war ihr Vater mit dem Auto von der Straße in den Bach gestürzt – daran musste Rafael immer denken. Rafael war erst vier Jahre alt gewesen und wusste nicht mehr genau, was damals alles geschehen war. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass er nicht zur Beerdigung seines Vaters gegangen war, sondern den ganzen Tag im Bett verbracht und sich gewünscht hatte, sein Vater würde bald nach Hause kommen wie sonst auch immer.
Nun trabten Rafael und Til nebeneinander auf dem erdigen Waldweg am Bach entlang, der hier breiter und tiefer war als an den anderen Stellen.
„Aber du bist gar nicht Til, richtig?“, fragte Rafael plötzlich, nachdem er eine Weile still gewesen war und Til einfach nur zugehört hatte. Obwohl dieser Junge sich genau so verhielt wie Til, hatte Rafael nun mit einem Mal nicht mehr das Gefühl, dass es sich wirklich um seinen Bruder handelte.
Der Junge sah Rafael an und fragte: „Willst du mich veräppeln, Rafael?“
Da sagte Rafael: „Til nennt mich doch immer Raffi! Warum nennst du mich heute ständig Rafael? Du tust nur so, als ob du Til wärst! Aber ich weiß, dass du es nicht bist! Du hast mich belogen! Du hast gesagt, du bringst mir meinen Bruder zurück, aber ich habe gesehen, wie du heute Nacht in seinem Bett geschlafen hast!“
Plötzlich bekam der Junge ganz dunkle Augen und auch sein Haar wurde immer dunkler. Wütend zog er die Augenbrauen zusammen, die nun finstere Schatten auf seine Augen warfen.
Rafael wurde nun erst recht wütend und brüllte den sonderbaren Jungen an: „Ich will sofort wissen, wo mein Bruder ist!“
In diesem Moment packte der Junge Rafael und drückte ihn ganz fest gegen den Stamm einer Eiche. Rafael konnte sich nicht befreien. Er fühlte sich schwach und dem Jungen hilflos ausgeliefert, er konnte seine Glieder gar nicht mehr bewegen – da bemerkte er mit einem Mal, dass der Junge ihm eine sonderbare Herzmuschel an sein Ohr hielt, die so schwarz war wie das schwarze Haar und die schwarzen Augen des Jungen aus dem Wald. Rafael konnte sich nicht mehr von der Stelle rühren und er konnte auch an nichts mehr denken!
Der Junge verkleinerte seine dunklen Augen zu Schlitzen, kam ganz nahe an Rafael heran und flüsterte mit tiefer und wütender Stimme: „Du hast es dir so gewünscht! Du wolltest so sein wie dein Bruder! Jetzt gibt es nichts mehr, das du tun kannst, um den Zauber rückgängig zu machen – versuch es besser gar nicht!“
Rafael biss die Zähne zusammen, denn der Griff des Jungen um seine Schultern wurde immer stärker. Das tat Rafael weh und er musste sich zusammenreißen, um nicht zu schreien.
Der Junge aus dem Wald grinste und sein Gesicht war halb bedeckt von einem tiefen Schatten, der sich über Stirn und Augen legte. „Du hast mich in dein Leben eingelassen, Rafael – in dem Augenblick, als du mir erlaubt hast, in deine Welt einzugreifen – in diesem Augenblick hast du mir die Tür zu deiner Welt geöffnet! Sei froh, dass ich Til bin, dass ich noch Til bin, denn bald werde ich es nicht mehr sein und dann wird deine Mutter Til vergessen haben – ja, sogar du wirst Til vergessen haben! Und dann werde ich dein Bruder sein!“
Rafael schrie, denn der starke Griff des Jungen tat ihm jetzt sehr weh. Im nächsten Moment nahm der Schmerz sogar noch ruckartig zu. Er schrie noch lauter und durch die Muschel an seinem Ohr hörte er ein lautes, unerträgliches Rauschen, das ihn endlich ohnmächtig werden ließ …
Als Rafael wieder zu sich kam, lag er unter der Eiche am Bach. Er spürte keinen Schmerz mehr an seinen Schultern, als er aufwachte. Vor ihm kniete sein Bruder Til im Gras. Seine blaugrünen Augen blickten freundlich.
„Wir müssen nach Hause!“, sagte Til.
Rafael erinnerte sich an den schwarzhaarigen Jungen, der ihn gegen den Baum gedrückt hatte, bevor er ohnmächtig geworden war. „Wo ist der böse Junge?“, fragte er.
„Welcher Junge?“
„Bin ich ohnmächtig geworden? Du bist der Junge, richtig? Du bringst mir sofort meinen Bruder wieder!“
Til stand auf und begann, herzhaft zu lachen: „Du hast geträumt, Rafael!“
„Wie sollte ich geträumt haben? Hältst du mich für doof? Glaubst du, ich liege aus Spaß hier im Gras und bin nicht zur Schule gegangen? Es ist ja schon Mittagszeit!“ Rafael richtete sich auf und stand nun vor seinem Bruder Til am Bach.
Der schüttelte den Kopf und erzählte: „Du Dummerchen! Wir sind am Bach entlanggegangen und waren auf dem Schulweg. Da kam mir die Idee, die Schule zu schwänzen, weil heute eine schwierige Mathearbeit ansteht. Du wolltest auch nicht zur Schule. Also haben wir mit meinem Fußball gespielt, dann haben wir uns ins Gras gesetzt und du hast angefangen, in einem deiner dicken Abenteuerbücher zu lesen. Dann bist du eingeschlafen. Den Rest musst du wohl geträumt haben, Raffi!“
„Ich habe alles nur geträumt?“, fragte Rafael und konnte es selbst kaum glauben. Warum erinnerte er sich plötzlich nicht mehr daran, wie sie gemeinsam beschlossen hatten, die Schule zu schwänzen? Außerdem passte Schuleschwänzen gar nicht zu Til. Seit heute Morgen hatte Rafael nur noch an den Jungen aus dem Wald gedacht. Hatten ihn dieser Junge und dieser Albtraum, wenn es überhaupt einer gewesen war, so sehr mitgenommen, dass er darüber vergessen hatte, mit seinem Bruder die Schule geschwänzt zu haben?
„Ich gehe jetzt nach Hause“, sagte Til, packte seine Schultasche, die im Gras lag und lief los. „Du kannst ja nachkommen!“, rief er noch, während er hinter einigen Bäumen verschwand.
Aber Rafael lief ihm nicht nach. Er dachte: Selbst wenn ich geträumt habe, dann hat mein Traum doch erst am Morgen unter der Eiche begonnen, aber vorher ist etwas passiert, das mich glauben ließ, dass der Junge, der mit mir zur Schule ging, gar nicht Til ist. Was ist geschehen?
Rafael stellte fest, dass er plötzlich ganz vergessen hatte, was vor dem heutigen Morgen geschehen war. Er hatte vergessen, wie der Junge aus dem Wald ihm erschienen war und er hatte mit einem Male den Rollentausch mit seinem Bruder vergessen, Tils Verschwinden – einfach alles! Er erinnerte sich jetzt nur noch an den Kampf gegen den unheimlichen Jungen an der Eiche und daran, dass er aus irgendeinem Grund glaubte, dass sein Bruder nicht sein Bruder war …