Читать книгу Die Königin von Verlorenherz - Marcel Zischg - Страница 20
Kapitel 16
ОглавлениеIn seinem unbändigen Zorn hatte sich der kastenförmige König von Brot zu einer fußballgroßen Brotkugel zusammengerollt, die nun auf Til zuschoss, weil Til die rettende Idee gehabt hatte, wie die Menschen aus Verlustig wieder herausfinden könnten.
Dieser verdammte Schlaumeier!, brüllte der König von Brot vor Zorn, aber gerade seine Verwandlung in eine fußballgroße Brotkugel wurde dem einstigen Kastenbrot zum Verhängnis: Nicht umsonst war Til Fußballer – so schoss er die Kugel mit Leichtigkeit wie einen Fußball in den grauen Nebelhimmel, als sie auf ihn zuflog.
„Du verdammter, verdammter, verdammter Schlaumeier!“, brüllte die fliegende Brotkugel noch, bevor sie für immer irgendwo im Himmel verschwand.
Die Menschen jubelten und die kleine Reggie rief begeistert: „Großartig, Til! Du bist der beste große Bruder!“
„Kleines rothaariges Mädchen“, sagte Til ernst, „ich bin leider nicht dein großer Bruder.“
„Für mich bist du es“, sagte Reggie einfach – und so war es beschlossen. Auch für Til war das in Ordnung, denn er mochte das kleine rothaarige Mädchen sehr. Er spürte, dass sie irgendwie miteinander verbunden waren, auch wenn sie nicht wirklich Bruder und Schwester sein konnten. Aber wenn Til sich eine kleine Schwester hätte wünschen sollen, dann wäre sie genau so gewesen wie Reggie.
Als sie vom Berg stiegen, erlebten sie eine schöne Überraschung: Sie standen in einer weiten Wüste, die sich bis zum Horizont erstreckte – Buchstabenlöcher und Nebel waren fort! Wie jubelte die Menschenmenge – es waren wirklich tausende von Menschen, die sich das Ende der Herrschaft des Königs von Brot herbeigesehnt hatten und nun endlich erlöst waren. Auch der Brotberg hinter ihnen löste sich nun langsam auf und nachdem sie eine kurze Zeit durch die Wüste gewandert waren, die sich ganz kalt anfühlte, fanden die Menschen auch das Bahngleis wieder, welches sie nach Verlorenherz zurückführen sollte. Es war glücklicherweise auch nicht schwierig, die Richtung auszumachen, in der sie dem Gleis folgen mussten: Auf der einen Seite endete das Gleis nämlich im Sand, während es in der anderen Richtung weiter durch die Wüste führte. Sie benötigten auch gar keinen Zug, um zurückzugelangen.
„Nur lustig müssen wir aus Verlustig am Gleis entlangtanzen“, sagte Til.
Narr Silberspiegel klopfte Til stolz auf die Schulter und meinte: „Du bist wirklich ein außerordentlicher Junge!“
Das hatte Til schon so oft von seiner Mutter gehört, dass es ihn fast ärgerte, schon wieder gelobt zu werden. So sagte er einfach: „Ich weiß es nun mal – es muss der richtige Weg sein.“
Nun suchte sich jeder einen Tanzpartner, wobei die kleine Reggie sofort rief: „Til tanzt mit mir, nur mit mir, und wir tanzen so lange am Gleis entlang, bis wir wieder in Verlorenherz sind!“
Nur lustig mussten die Menschen tanzen und das fiel ihnen nicht schwer – jetzt, wo sie wieder erlöst waren! Tausende von Menschen begannen also, am Gleis von Verlustig in Richtung Verlorenherz entlangzutanzen – einige zu zweit, andere allein – und jeder tanzte so lustig, wie er sich gerade fühlte.
Durch ihren schwarzen Zauberspiegel, der jeden in eine ewige Dunkelheit schickte, der hineinblickte, hatte die Königin von Verlorenherz bereits einiges herausgefunden: vom Untergang ihres Bruders, des Königs von Brot, hatte sie ebenso erfahren wie davon, dass die Menschen aus Verlustig befreit worden waren. Allerdings erfuhr sie nicht, wer hinter dieser Tat steckte, weil ihr Zauberspiegel, ein schwarzer Standspiegel mit Rabenflügeln, Narr Silberspiegel und Til nicht sehen konnte. Dies lag daran, dass die beiden selbst im Besitz eines magischen Spiegels waren: des guten Silberspiegels, der sie vor den bösen Mächten der Königin schützte und ihnen weise Ratschläge erteilte.
Zornig wie sie war, atmete die böse Königin erst einmal tief durch, bis sie schließlich zum einzigen Fenster ihres schwarzen Thronsaals ging – einem klitzekleinen Fenster, so klein wie ein Mauseloch, aus dem sie von ihrem rabenschwarzen Palast herab auf ihr ganzes Reich blicken konnte. Bald würde dieses Reich sehr glücklich sein, wusste sie, wenn die verlorenen Menschen aus Verlustig zurückkämen. Wütend biss sie die Zähne zusammen und hätte am liebsten ihren eigenen rabenschwarzen Spiegel in Trümmer zerschlagen, so wütend war sie über die Freude der Menschen aus Verlustig, die ihr der Spiegel offenbart hatte.
Mit diesem schwarzen Spiegel konnte die Königin Menschen in die Ewige Dunkelheit verbannen – das war ein ganz schlimmes Reich, in dem man immerfort schlief und nicht wieder aufwachte, ja nicht einmal mehr träumte! Die Königin zwang denjenigen, der in die Ewige Dunkelheit geschickt werden sollte, in den Spiegel zu blicken – dann war er verloren. Aber die Königin wollte nicht alle Menschen in die Ewige Dunkelheit schicken. Sie wollte vielmehr, dass die Menschen hier in Verlorenherz ihr Leid ertragen mussten, wie sie selbst – und das hatte gut geklappt, solange es noch Verlustig gegeben hatte. Die Menschen waren den ganzen Tag nur mehr in ihren Häusern herumgesessen und hatten um den Verlust ihrer Liebsten geweint.
Seit ihr Gemahl, der König von Weichlieb, sie verlassen hatte, sah die Königin ganz furchterregend aus: Ein Kleid hatte sie an, das wie ein Vogelgefieder aussah. Normalerweise war es rabenschwarz, aber wenn sich die Königin ärgerte, dann glänzte es grün oder blauviolett. In diesem Gefieder konnte sie fliegen und sie besaß eine Flügelspannweite von hundert Metern – wie ein riesengroßer, bedrohlicher Vogel sah sie dann aus. Statt Augen hatte sie schwarze Löcher und eine schwarze Gesichtshaut spannte sich über ihr mageres Gesicht mit garstigen Tränensäcken vom vielen Weinen und Fluchen. An ihrer Kehle wuchsen Federn, die deutlich abstanden, wenn sie ihre Untertanen anschrie. Ihre Lippen waren ganz schwarz angemalt und ihr Haar war ebenso schwarz – es stand ihr zu Berge und war schrecklich verfilzt. Eigentlich sah ihr Kopf wie ein schwarzer Skelettschädel aus, nur dass dieser scheinbare Totenkopf noch die schwarzen Lippen, die garstigen Tränensäcke und das verfilzte Haar besaß – so furchtbar sah sie aus, die Königin von Verlorenherz.
Nun hockte sie auf dem Thron ihres Thronsaals, in dem alles finster und trostlos gewesen wäre, wären nicht die Bilder gewesen, die an den schwarzen Wänden hingen und die von einem Künstler namens Vincent stammten. Die Königin war so traurig. Deswegen besaß sie nur Bilder, die traurig aussahen und welche die Königin schön fand, weil sie traurig, düster und unheimlich wirkten. In ihrem Thronsaal befand sich ihr Thron, der bloß ein schwarzer Holzstuhl war, nicht einmal erhöht, und daneben stand ein weiterer leerer Holzstuhl für ihren Gatten, der nicht mehr da war. Und irgendwo standen noch ihr schwarzer Zauberspiegel und eine kleine Kerze, die schwach flackerte, auf dem Boden herum. Sonst war der große Saal leer.
Als die Königin nun wieder durch den rabenschwarzen Zauberspiegel blickte, da sah sie am Bahnhof von Verlorenherz die unzähligen Menschen aus Verlustig zurückkehren, die jetzt alle aufgeregt nach Hause liefen. Sofort rannte sie los und stürzte sich aus dem einzigen klitzekleinen Fenster ihres dunklen Thronsaals – keine Ahnung, wie sie aus dem Mauseloch-Fenster gekommen ist! Sie spannte ihre riesigen Flügel aus und flog voller Wut zum Bahnhof von Verlorenherz.