Читать книгу Die Königin von Verlorenherz - Marcel Zischg - Страница 17
Kapitel 13
ОглавлениеEigentlich ist diese Geschichte gar nicht so traurig. Sie ist sogar ein wenig lustig. Der kleine Bruder der Königin von Verlorenherz, der König von Brot, war überall für seine Esslust bekannt. Er aß von früh bis spät: Am frühen Morgen aß er stundenlang Marmeladebrötchen, mittags zehn Schweinebraten mit zwanzig Speckknödeln und abends, wenn er Schweinebraten und Speckknödel endlich fertig verzehrt hatte, ging er zum größten McDonald’s der Stadt Verlorenherz und aß sich dort bis Mitternacht durch das ganze Menü. Da er seine ganze Zeit dem Essen widmete, vernachlässigte er natürlich seine Frau, sodass sie ihm schon bald davonlief.
Sie war zuvor eine Köchin gewesen und hatte ihn eigentlich nur geheiratet, um in die Königsfamilie aufgenommen zu werden. Deshalb hatte sie ihn so lange die schönsten Speisen serviert, bis er sie wegen ihrer Kochkünste geheiratet hatte. Hätte sie nach der Hochzeit weiter für ihn gekocht, dann wäre es mit den beiden vielleicht gut gegangen – das konnte sie aber unmöglich damit in Verbindung bringen, dass sie nun doch tatsächlich die Schwägerin der Königin von Verlorenherz war und es bei einer solchen Dienerschaft nun wirklich nicht mehr nötig hatte, selbst für das Essen zu sorgen. Ihr Mann sagte dazu gar nichts, sondern bestellte sich einfach immer weiter Schweinebraten und Speckknödel aus der Küche oder ging zu McDonalds. Daraufhin liefen die dicken, fleischigen Wangen der ehemaligen Köchin zornrot an und sie selbst auf und davon.
Ihr Gatte bemerkte das nicht einmal, denn er liebte ja eigentlich nur sein Essen und brauchte daher keinen Menschen in seinem Leben, solange er nur genug zu essen hatte. Er aß nun immer mehr; sein Hunger hätte für ein ganzes Regiment gereicht und bald aß er der Königin alle Speisekammern leer. Nun merkte die Königin von Verlorenherz bald, dass mit ihrem Bruder nicht viel anzufangen war. Seine ständige Esserei ging ihr immer mehr auf den Geist und sie wollte ihn endlich nur noch loswerden. Nachdem sie vom König von Weichlieb verlassen worden war, überlegte sie, ob der Bruder ihr vielleicht in ihrem Reich Verlustig dienen könnte, das sie soeben neu gegründet hatte, damit die Menschen aus ihrem Volk denselben Schmerz erlitten wie sie, indem sie sich voneinander trennen mussten. So verwandelte die Königin ihren Bruder in ein weißes Eckenbrot, nannte ihn König von Brot und stellte das Reich Verlustig unter seine Herrschaft.
Verlustig war zu dieser Zeit eine weite Wüste – die wohl langweiligste Landschaft, die man sich vorstellen kann, weil in der Verlustigwüste gar kein Lebewesen lebte; nicht einmal ein Pflänzchen. Aber bald schickte die Königin von Verlorenherz Menschen nach Verlustig. Diese Menschen wurden von ihren Liebsten getrennt und waren deswegen sehr traurig. Sie saßen in der Wüste herum und erzählten sich immerfort traurige Geschichten. Das ärgerte den König von Brot, der in der Wüste stets an einem fein gedeckten Tisch mit den besten Speisen saß, der nie leer wurde. Denn die traurigen Geschichten der Menschen und ihr Weinen und Klagen verdarben ihm dabei den Appetit.
Glücklicherweise schickte die Königin ihm schon am zweiten Tag einen Gehilfen in die Wüste: einen Jungen, der so traurig war, dass er gar nicht über sein Leid sprechen wollte. Als der Junge sah, dass die anderen Menschen immerfort über ihr Leid sprachen und sich dabei besser fühlten, wurde er zornig und stampfte lauter Löcher in die Erde – das waren die Buchstabenlöcher von Verlustig, durch welche die Bewohner von Verlustig allmählich ihrer Sprache verlustig gingen.
Der Junge gefiel dem König. Er nahm ihn mit offenen Armen auf und nannte ihn „Diener Sprachlos“. Dann zauberte der König von Brot einen dichten grauen Nebel herbei, durch den man in Verlustig nichts mehr sehen konnte – schon gar nicht den Boden, auf dem man ging! Und so traten die Menschen bald in jedes der Buchstabenlöcher, bis sie gar nicht mehr sprechen konnten und deswegen in eine tiefe Trauer versanken.
Als nächstes zauberte der König von Brot einen riesigen Berg voller Kastenbrote herbei, von dem die Bewohner essen sollten. Und da die Menschen nun nicht mehr über ihr Leid sprechen konnten, stopften sie sich zum Trost massenweise mit diesem Brot voll. Das Brot war aber ein Zauberbrot: Es verwandelte die Menschen, welche davon aßen, selbst in Kastenbrote, sodass sie dem König auch durch ihren traurigen Anblick nicht mehr lästig werden konnten.
Der Junge, der die Buchstabenlöcher in die Erde gestampft hatte, wurde zum Lohn für seinen Dienst auf den Brotberg gesetzt und erhielt ein eigenes Tischlein namens Donald deck dich!, das sich immer wieder von selbst füllte. An diesem Tischlein saß er Tag und Nacht und stopfte sich mit Hamburgern, Cheeseburgern und Pommes voll, bis er irgendwann genauso aussah wie das Essen, das er aß.
Die Köchin mit den dicken, fleischigen Wangen, die den König von Brot verlassen hatte, wurde eines Tages ebenfalls nach Verlustig geschickt. Sie hatte sich in Verlorenherz in einen anderen Koch verliebt, den sie nun verlassen musste. Darüber war sie so traurig, dass sie in Verlustig genauso endete wie alle anderen Menschen: Als weißes, sprachloses Kastenbrot auf dem Brotberg inmitten der nebligen Buchstabenlöcherwüste von Verlustig.