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Kapitel 4

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Als Til aufwachte, fand er sich neben einem Fluss wieder – auf einer Sitzbank vor einem großen Bahnhofsgelände in einer Stadt. Die Stadt hieß Verlorenherz – jedenfalls stand das so auf einem großen Ortsschild. Und in der Luft über dem Fluss, der Erzählfluss hieß, hing ein großes Bild. Auf dem Bild saß ein Mann auf einem Stuhl und hielt beide Hände vor sein weinendes Gesicht. Er trug blaue Hosen und einen blauen Pullover. Er saß an einem Kamin, in dem Feuer brannte.

Wo bin ich hier?, fragte sich Til. Es war ein bewölkter Morgen. Er konnte sich nur erinnern, dass er sich abends ins Bett gelegt hatte. Und jetzt war er in einer Stadt namens Verlorenherz? Das konnte nicht wahr sein! War das ein Traum?

Jetzt verschwand das seltsame Bild von dem alten Mann in der Luft.

Der Junge aus dem Wald hatte Til hierher gebracht. Er hatte Rafaels Wunsch erfüllt und Til in diese große Stadt gezaubert. Rafael und Til hatten sich oft gefragt, wohin der Bach ihrer Stadt floss, weil er in einem Tunnel endete und sie keine Stelle kannten, wo der Bach den Tunnel wieder verließ: Der Bach floss nach Verlorenherz, und hier hieß der Bach Erzählfluss – er floss ganz ruhig, aber sein Wasser war dunkel und der Fluss war sehr, sehr breit.

Zuerst einmal stand Til auf, blickte sich um und ging ins Bahnhofsgebäude hinein. Eigentlich sah alles aus wie auf einem gewöhnlichen Großstadtbahnhof: Es gab Gleise, Züge, Verkaufsstände, Fahrkartenschalter, Menschen – aber Augenblick mal!, dachte Til. Da waren Anzeigetafeln, die Zielorte wie Verlustig, Schwarzhausen, Konjunktivchen, Wortschatzlosen, Wüste Dehnung, Schloss Verlorenherz oder Ewige Dunkelheit anzeigten.

Und was machen die Menschen hier am Bahnhof nur?, fragte sich Til, denn während sie hektisch durch das Bahnhofsgebäude liefen, verloren sie allerlei Dinge: Wertvolle Uhren lösten sich von ihren Handgelenken, Mobiltelefone sprangen ihnen wie Kaninchen aus den Hosentaschen, Geldbörsen fielen auf die Straße – und das alles wurde vom Boden einfach aufgesaugt, wie wenn etwas ins Wasser fällt und darin versinkt! Die Menschen schienen gar nicht zu bemerken, dass sie etwas verloren; sie gingen einfach weiter eilig durch das Bahnhofsgebäude und sahen dabei sehr traurig und müde aus.

Plötzlich aber tanzte ein lustiger Mann durch die Menge auf Til zu: Er trug eine bunte Narrenmaske, ein gelbes Wams und grüne Strümpfe. Der Mann lief drei Meter, drehte sich dreimal im Kreis zwischen den traurigen Menschen, die Dinge verloren, lief wieder drei Meter, drehte sich wieder dreimal im Kreis zwischen den traurigen Menschen, lief wieder drei Meter und stand endlich vor Til.

Er setzte sich neben Til auf eine Sitzbank und blickte ihn mit großen blauen Augen aus seiner Narrenmaske an. „Ha!“, rief er erfreut, aber Til hatte keine Lust, zum Narren gehalten zu werden und sagte: „Was für ein blöder Traum! Du siehst aus wie Till Eulenspiegel – es fehlt nur noch ein blöder Spiegel!“

„Hahaha, du bist lustig!“, rief der merkwürdige Mann. „Du bist hier – in Verlorenherz! Ich bin zwar kein Till Eulenspiegel, aber ich besitze tatsächlich einen kleinen Zauberspiegel!“

Til schüttelte den Kopf. „Für wie dumm hältst du mich eigentlich?“, fragte er. „Ich bin dreizehn und kein Kleinkind mehr, das an Märchen glaubt!“

Da zeigte der lustige Mann Til einen kleinen, runden, silbrig funkelnden Taschenspiegel und sagte: „Dieser Spiegel zeigt dir, wohin du hier in Verlorenherz reisen musst. Dieser Roman wird eine lange Reise und ich kann dich gern auf dieser Reise begleiten – du bist dazu bestimmt, uns zu helfen!“

„Ich befinde mich in einem Roman?“

„Nun ja“, sagte der lustige Mann, „irgendetwas muss ich dir ja erzählen, wenn du mir schon nicht glauben willst, dass das hier mehr ist als nur ein Traum!“

Til sagte nichts mehr, weil er bemerkte, dass sich plötzlich ganz viele Menschen um ihn herum auf dem Bahnsteig versammelten, während eine lange schwarze Dampflokomotive sich auf den Schienen näherte und eine Ansage durch die Bahnhofshalle klang: „Achtung! Der Zug nach Verlustig fährt auf Gleis 2 ein. Vorsicht auf dem Bahnsteig!“

Verblüfft blickte Til die schwarze Dampflok an, auf der mit weißen Großbuchstaben geschrieben stand: VERLUSTIG-EXPRESS.

Der Lokführer, der den Zug anhielt und aus dem Fenster schaute, war ein seltsamer Mann mit bunten Haaren und einer weinerlichen Frauenstimme, die ungeduldig rief: „Abschied, Abschied, Abschied!“ Und die Menschen vor dem Zug umarmten einander und weinten sehr.

„Narr Silberspiegel“, sagte Til nun zu dem lustigen Mann, denn so nannte er ihn jetzt wegen seines silbern funkelnden Spiegels. „Wohin fährt denn dieser seltsame Zug und warum weinen die Menschen so sehr? Und weshalb verlieren die Menschen hier am Bahnhof ständig irgendwelche Dinge?“

Narr Silberspiegel machte hinter seiner Narrenmaske große blaue Augen und erzählte: „Du bist in einer Stadt, in der alle Menschen Dinge verlieren und es nicht einmal merken! Wenn sie es bemerken, dann ist es zu spät und sie weinen bitterlich, denn sie können ihre Sachen niemals zurückbekommen: Was man einmal verloren hat, gewinnt man hier in Verlorenherz nicht mehr zurück. Es gibt nämlich ein Gesetz im ganzen Land Verlorenherz: Niemand darf etwas Verlorenes zurückbekommen! Dieses Gesetz stammt von der Königin von Verlorenherz. Die Königin von Verlorenherz ist wirklich sehr hart. Sie verlangt, dass die Menschen, die etwas verloren haben, zu ihr kommen. Wenn jemand beispielsweise ein Haus verliert, weil die Königin es einstürzen lässt, dann erhält er von der Königin von Verlorenherz dafür ein neues. Und wenn er dieses neue Haus bald darauf wieder verliert, weil es die Königin in Luft auflöst, dann bekommt er von der Königin wieder ein neues und immer so weiter, aber lange behält hier in Verlorenherz leider keiner irgendetwas. Viele Menschen sind deshalb unglücklich und sie werden immer trauriger.“

„Wie bin ich denn hierhergekommen, Narr Silberspiegel?“, fragte Til. „Ist es wirklich kein Traum?“

Narr Silberspiegel schwieg. Er deutete auf die Menschen, die sich auf dem Bahnsteig verabschiedeten. Immer mehr Menschen wurden es. Viele von ihnen würden bald in den Zug VERLUSTIG-EXPRESS steigen.

Der Lokführer mit den bunten Haaren wurde immer nervöser: Die ganze Zeit rief er ungeduldig „Abschied, Abschied, Abschied!“, denn er wollte endlich losfahren, aber die Menschen umarmten sich weiter; sie begannen nun zu klagen und zu weinen und wollten ihre geliebten Freunde und Angehörigen gar nicht mehr loslassen.

Til flüsterte Narr Silberspiegel zu: „Die Menschen tun ja gerade so, als würden sie sich niemals wiedersehen!“

„Im Land Verlorenherz verliert man nicht nur Gegenstände“, erklärte Narr Silberspiegel ernst, „man verliert auch Menschen.“

„Menschen?“, fragte Til erstaunt.

Narr Silberspiegel nickte.

Til musste einen Augenblick an seinen Vater denken. „Verlustig … sie fahren also nach Verlustig …“, flüsterte er, und dann fragte er noch: „Was weißt du über dieses Land?“

„Das ist das Land, wohin die Menschen gleich fahren. Sie werden niemals wieder aus diesem Land zurückkehren. Verlorenherz ist eigentlich ein Land, in dem sich Menschen nach ihrem Tod wieder begegnen, Til – aber wegen der Königin ist es ein Land geworden, in dem sich alle Familien, die nach ihrem Tod zusammen gefunden haben, wieder trennen müssen. Die Menschen, die ihre Wertsachen verlieren, hatten in ihrem Leben keinen geliebten Menschen, weil ihnen materielle Dinge wichtiger waren, und so verlieren sie ständig Sachen. Alle Menschen, die nach Verlorenherz kommen, müssen eine schwarze herzförmige Muschel an ihr Ohr halten, die Vergissmeinmuschel. Dadurch vergessen sie allmählich die Trauer über ihr verlorenes Leben auf der Welt und haben Mut, hier in Verlorenherz ein neues Leben anzufangen. Aber wegen der Königin von Verlorenherz ist das hier ein sehr trauriges Land für die Menschen geworden, Til.“

„Weißt du denn auch, ob mein verstorbener Vater hier irgendwo in Verlorenherz ist?“, fragte Til, als er hörte, dass in diesem Reich die Menschen nach ihrem Tod lebten.

Aber Narr Silberspiegel seufzte nur, schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, Til. Das weiß ich leider nicht …“

Til beobachtete eine Familie: Zwei Jungen sollten sich gerade von ihrem Vater verabschieden, der in den Verlustig-Zug steigen musste. Die Familie war bei einem schlimmen Autounfall gemeinsam gestorben und hatte sich danach in Verlorenherz wiedergefunden, aber jetzt sollten sich die Söhne mit der Mutter von ihrem Papa trennen. Der ältere Junge war etwa zehn Jahre alt und musste weinen – es war ein heftiges Weinen, seine Brust bewegte sich auf und ab. Der Vater senkte den Blick und hatte einen Arm um die Schulter des weinenden Jungen gelegt. Der kleinere Junge war erst zwei Jahre alt. Er blickte nur ganz verwundert auf seinen großen weinenden Bruder. Die Mutter fasste den kleineren Jungen fest an der Hand und musste sich zusammennehmen, um nicht auch noch anzufangen zu weinen, denn um sie herum weinten fast alle Menschen, die ihre Liebsten nach Verlustig schicken mussten. Auch ein Mädchen, das etwa gleich alt war wie Til, mit grünem Sommerkleid und blondem Haar, musste in den Zug steigen und sich von seinem weinenden Papa verabschieden. Til tat das Mädchen leid. Es verhielt sich zwar tapfer und hielt sein Weinen zurück, aber die Wut, die in den dunklen Augen des Mädchens stand, konnte Til erkennen: Nur allzu gern hätte das Mädchen die Gesetze dieses Landes verändert …

„Warum ist die Königin von Verlorenherz denn so hart?“, fragte Til seinen Freund, den Narren Silberspiegel, aber der Narr gab ihm keine Antwort, sondern blickte nur weiter auf die traurigen Menschen.

Einige Menschen stiegen jetzt endlich in den Zug nach Verlustig ein, aber andere wurden von ihren Angehörigen immer wieder festgehalten und umarmt. Es gab viele Menschen, die die Hände ihrer Eltern, Kinder oder Freunde gar nicht loslassen wollten. Wieder rief der Lokführer mit den bunten Haaren „Abschied, Abschied, Abschied!“ – Da stiegen schließlich auch die letzten Menschen in den Zug und mussten ihre Angehörigen zurücklassen. Die Türen schlossen sich.

Viele Menschen liefen dem wegfahrenden Zug noch ein Stück hinterher. Sie winkten, schrien, weinten und verfluchten die Königin von Verlorenherz. Der Zug fuhr aus dem Bahnhofsgebäude heraus und verschwand dann weiter draußen in einem merkwürdigen weißen Nebel – es schien, als hätte dieser Nebel den Zug VERLUSTIG-EXPRESS einfach verschluckt.

Und Til dachte plötzlich: Vielleicht ist auch mein Vater dort? – In Verlustig!

Die Königin von Verlorenherz

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