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Kapitel 3

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Als Rafael in seinen nassen Kleidern zu Hause ankam, saß seine Mutter noch immer in der Küche – sie hatte gar kein Mittagessen gekocht und starrte nur aus dem Fenster. Rafael vermutete, dass sie am Vormittag auch nicht zur Arbeit gegangen war, weil sie immer noch im Schlafrock dasaß. Er setzte sich zu ihr und seine Mutter lächelte, als er sie ansah – aber es war ein gezwungenes Lächeln. Sie wischte sich Tränen aus ihrem verweinten Gesicht und sagte: „Ich habe viel telefoniert – mit Freunden, mit der Polizei. Aber keiner weiß, wo Rafael ist …“ Plötzlich blickte sie Rafael genauer an und sagte: „Du bist ja ganz nass, Til!“

Sie wollte sein T-Shirt berühren, aber da hob er die Hand mit dem Ring und wich ihr aus: „Das ist doch nicht schlimm, Mama!“

Mit einem Mal erstarrten ihre Augen und blickten auf den Ring an seinem Finger. „Woher hast du den Ring?“, fragte sie und zog ihn Rafael nun vom Finger. Sie betrachtete den Ring genauer, dann verzog sie ihr Gesicht, als müsse sie jeden Augenblick zu weinen beginnen. Endlich raffte sie sich auf und schaute Rafael fest in die Augen. „Das ist der Ring deines Papas, Til!“, sagte sie. „Rafael hat ihn verloren, als er noch ganz klein war. Woher hast du ihn?“

Rafael log: „Ich habe ihn wiedergefunden, am Bach.“ Seine Mutter sah ihn an, dann blickte sie wieder auf den Ring und nun begann sie plötzlich doch, zu weinen. Es war ein ruckartiges Weinen, als würde etwas in ihrer Brust festsitzen, das unbedingt heraus wollte. Im nächsten Moment sah sie Rafael mit verweinten Augen an, dann stand sie auf und nahm ihn ganz fest in ihre Arme. Dabei sagte sie: „Ach, hätte ich mich doch mehr um Rafael gekümmert, dann wäre er nie davongelaufen!“

Wie sie Rafael jetzt aber wieder losließ, da stand er plötzlich gar nicht mehr als Til vor ihr, sondern er spürte deutlich, dass er jetzt wieder Rafael war – der Zauber war gewichen! Im ersten Moment erschrak seine Mutter und machte große Augen: „Das ist doch nicht möglich!“, sagte sie, aber dann sah sie, dass hinter Rafael plötzlich Til stand. Und obwohl sie nicht wusste, wie alles vor sich gegangen war, war sie sehr glücklich über Rafaels Heimkehr, sie umarmte ihn wieder und sagte: „Es tut mir so leid!“

Dann wollte sie von Rafael wissen, wo er die ganze Zeit über gewesen war. Er antwortete nur: „Ich war im Wald und habe mich am Bach herumgetrieben. Es tut mir leid, Mama.“ Alles andere würde Mama mir sowieso nicht glauben, dachte er.

„Seltsam“, sagte sie, „ich dachte, ich hätte soeben mit Til gesprochen und ihn umarmt und plötzlich halte ich dich im Arm, Rafael!“

„Ich habe Rafael gefunden, Mama“, sagte Til.

„Aber warum hast du mir das nicht gleich gesagt?“, wollte sie wissen, doch als Til darauf nicht antwortete, sagte sie: „Ich bin nur froh, dass Rafael wieder hier ist!“

Zwei Nächte und eineinhalb Tage war Rafael nun scheinbar verschwunden gewesen, aber Julia war so froh über seine Rückkehr, dass sie gar nicht mit ihm schimpfte.

Til musste an diesem Nachmittag noch zum Fußballtraining, während Julia mit Rafael zu Hause blieb und ihm, weil er scheinbar weggelaufen war, einige Fragen stellte, die ihm unangenehm waren, aber Rafael war kein schlechter Lügner. Dann sprach sie zum ersten Mal eingehend mit ihm über seine Bilder und lobte sein Talent – das hatte sie früher nie gemacht. Außerdem wollte sie wissen, was Rafael in Zukunft zeichnen wolle und sie sprach mit ihm über einige bekannte Künstler.

Rafael zeigte ihr den Jungen aus dem Wald, den er in der ersten Nacht gemalt hatte, nachdem Til verschwunden gewesen war: Der Junge war sehr dünn und hatte feine Gesichtszüge, in denen ganz schwarze Augen saßen, dazu dichtes schwarzes Haar. Gekleidet war er aber nicht schwarz wie der Junge aus dem Wald, sondern wie ein ganz gewöhnlicher Junge mit weißem T-Shirt ohne Aufschrift und kurzen roten Hosen – rot und weiß, das waren auch die Farben der Fußballmannschaft der Füchse, in der Rafael und Til spielten. Im Hintergrund des Jungen war ein undurchdringlicher Wald mit Bäumen mit übermächtigen Stämmen, deren Höhe nicht auszumachen war, weil die Größe des Blatts nicht mehr ausgereicht hatte, um ihre Kronen zu zeichnen.

Dieses Bild gefiel Rafaels Mutter besonders gut und sie lobte es sehr. Außerdem erzählte sie Rafael über neue Abenteuerbücher in ihrer Bibliothek, die ihn interessieren könnten, denn sie war Bibliothekarin. Seltsamerweise hatte sie bisher aber fast nie über Abenteuerbücher gesprochen, wenn sie zu Hause war. Sie ließ Til viel zu viel über Fußball erzählen oder redete mit ihm und Rafael über die Schule – das fand Rafael alles langweilig.

Rafael und Til teilten sich dasselbe Zimmer und schliefen in einem Etagenbett – Rafael unten, Til oben. Rafael fragte sich, was Til wohl über den Zauber wusste. Als er endlich alleine mit ihm im Zimmer war und sie beide im Bett lagen, fragte er ihn: „Til, wo warst du denn die ganze Zeit? Weißt du eigentlich, was passiert ist?“ Til gab keine Antwort. „Ich wusste gar nicht, dass du in Mathe eine Fünf geschrieben hast“, sagte Rafael. Wieder gab es keine Antwort. Da stieß Rafael mit dem Fuß gegen die Matratze, die über ihm lag: „Hey, Til, sag schon etwas!“ Als wieder keine Antwort kam, warf Rafael seine Bettdecke beiseite und sprang aus dem Bett. Schlief Til etwa schon? Rafael stieg die Leiter etwas hinauf, bis er in Tils Bett sehen konnte, und erschrak. Denn dort im Bett lag gar nicht sein Bruder und schlief, sondern der Junge aus dem Wald.

Die Königin von Verlorenherz

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