Читать книгу Die Königin von Verlorenherz - Marcel Zischg - Страница 5

TEIL 1 Kapitel 1

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„Mama, es war super! Kenzo hat gleich in den ersten Spielminuten ein Tor für uns geschossen, 1:0. Aber dann haben die Löwen richtig Gas gegeben und ihre Abwehr war beinhart. Flori hat ziemlich ungenau zu Raffi geflankt und Raffi hat den Ball nach vorn gebracht, aber dann hat er ihn an einen gegnerischen Spieler verloren. Zu dumm – und Tor für die Löwen! Raffi ist wieder nach vorne gestürmt, hat aber weit am Tor vorbeigeschossen. Kenzo hat zwar geschickt übernommen, aber wir haben es einfach nicht nach vorn durch die Abwehr geschafft. So ist es eine Weile hin und her gegangen, bis zur allerletzten Spielminute – und immer noch stand es unentschieden. Da hat Raffi eine Chance gesehen: Er war nach vorne gestürmt, hat den Ball dann aber in allerletzter Sekunde zu mir gespielt – und ich hab getroffen, 2:1 für uns! Wir Füchse haben gewonnen! Du hättest dabei sein müssen, Mama!“

Begeistert erzählte Til beim Abendessen von seinem Fußballspiel. Er war dreizehn und sein Bruder Rafael zwölf. Sie spielten in derselben Schulmannschaft, bei den Füchsen. Allerdings hatte Rafael nicht ganz so viel Lust auf Fußball und machte eigentlich nur mit, weil Til hinging. Ihre Mutter Julia hatte an diesem Nachmittag arbeiten müssen und war deswegen nicht zum Spiel gekommen, aber ihr fehlten vor Bewunderung über Tils Erzählung die Worte. Sie stand vom Tisch auf und drückte ihn an sich, wobei er sich gleich losmachte und kicherte: „Ist ja schon gut, Mama!“ Sie setzte sich wieder hin und hörte ihm weiter zu.

„Es ist mein zwanzigstes Tor in dieser Saison!“, redete Til weiter. „Wenn ich so weitermache, werde ich Torschützenkönig!“

Die Mutter lächelte Til an – genauso, wie sie ihren Mann Felix angelächelt hatte, wenn sie stolz auf ihn gewesen war. Auch Felix war ein guter Fußballer gewesen, der als Stürmer für die erste Mannschaft der Stadt viele Tore geschossen hatte, und das hatte ihr immer gefallen. Leider war er vor vielen Jahren bei einem Autounfall gestorben – Rafael und Til waren damals noch sehr klein gewesen.

Rafael spielte nicht wie sein Bruder Til im Sturm, sondern nur im Mittelfeld, und er hatte noch nie ein Tor geschossen. Deswegen lächelte ihn seine Mutter auch nie so stolz an, wie sie Til anlächelte – da leuchteten ihre Augen vor Freude und Stolz. Und wenn sie zu Rafael sagte: „Das hast du gut gemacht“, dann klang das nicht ganz so freudig, wie es bei Til klang: Es klang eher so, als müsste sie es sagen, weil Rafael nun mal ebenfalls da war. Jetzt sah sie Rafael an und sagte zu ihm: „Wir können wirklich stolz sein auf Til!“

Da wurde es Rafael zu viel, er konnte seine Wut nicht mehr länger zurückhalten. Er sprang vom Stuhl auf und schluchzte: „Immer nur Til! Für mich interessierst du dich gar nicht! Ich bin dir doch ganz egal!“

„Ach, Raffi“, seufzte Til. Julia wollte etwas sagen – sie stand auf und wollte auf Rafael zukommen, aber Rafael wich ihr aus. Er lief aus dem Haus, schwang sich auf sein Fahrrad und sauste davon.

Es war Mai, die Sonne war soeben untergegangen. Rafael fuhr ein Stück die Straße hinunter bis zu einer Holzbrücke, die über einen kleinen Bach führte. Die Straße führte geradeaus weiter ins Zentrum der Stadt, aber Rafael bog in den Waldweg ein, der am Bach entlang verlief, und folgte dem Bach auf dem Weg immer weiter stromaufwärts.

Es war der einzige Bach der kleinen Stadt. Als Rafaels Vater gestorben war, war er durch einen heftigen Regen mit dem Auto von der Straße abgekommen, kurz vor der Holzbrücke über die Böschung in den Bach hinabgestürzt und unglücklich mit dem Kopf auf das Steuer geprallt. Er war auf der Stelle tot gewesen. Von seiner Mutter wusste Rafael nur, dass sein Vater zu Lebzeiten neben seinem leidenschaftlichen Hobby als Fußballer mehreren Gelegenheitsarbeiten nachgegangen war. So hatte Rafaels Vater beispielsweise gekellnert oder in einem Supermarkt gearbeitet. Aber das konnte sich Rafael nicht so gut vorstellen – er konnte sich seinen Vater bloß als ebenso starken Fußballer vorstellen, wie es Til war.

Weg und Bach führten durch ein kleines Wäldchen. Rafael weinte und als ihm Leute begegneten, sah er sie nicht an. Er überquerte den Bach über eine kleinere Holzbrücke und folgte auf dem anderen Ufer weiter dem Weg. Nach der Brücke ging es durch ein weiteres Wäldchen auf einen kleinen Hügel hinauf, immer am Bach entlang. Dieses Wäldchen war so dicht, dass die Wipfel der Bäume über Rafael ein Dach bildeten. Der Weg wurde sehr steil und Rafael musste einmal stehen bleiben, um zu verschnaufen, bevor er endlich auf einer Lichtung angekommen war.

Zu dieser Lichtung fuhr Rafael öfter, wenn er allein sein wollte. Dort war eine Wiese, die mit hohem Gras und wilden Sträuchern bewachsen war. Der Bach schlängelte sich durch die Wiese und hier endete der Weg im Nichts. Mitten auf der Wiese lag ein hohler Baumstamm am Bach. Rafael stieg vom Fahrrad, lehnte es an einen Strauch und setzte sich auf den Baumstamm. So saß er nun am Bach und blickte ins Wasser, das den Hügel hinabfloss und vor ihm stieg der Hügel noch weiter an, bedeckt von Nadelbäumen, die dunkel und dicht beieinanderstanden. Aus diesem dunklen Wald kam der kleine Bach geflossen. Rafael war nie weiter gegangen als bis zu der Lichtung und er hatte auch nie im Sinn gehabt, weiterzugehen, weil es ihm auf der Lichtung gefiel und er sich nicht vorstellen konnte, dass der Wald dahinter je enden würde.

Rafael blickte zum dämmrigen Himmel empor und weinte immer noch vor Wut. Er wollte eigentlich nur alleine sein, aber plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Da drehte er sich um und erkannte einen Jungen hinter sich, der war ganz schwarz gekleidet und hatte auch ganz schwarzes glattes Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte. Dieser Junge blickte ihn mitleidig an. Er war sehr dünn und hatte feine Gesichtszüge, in denen ganz dunkle Augen saßen, die Rafael an seinen verstorbenen Vater erinnerten. Natürlich konnte Rafael sich nicht mehr genau an seinen Vater erinnern, aber auf den Fotos, die er von ihm kannte, hatte sein Vater blaue Augen, in denen eine seltsame Tiefe lag, als hüteten sie ein Geheimnis – ganz genau so ein Geheimnis lag auch in den seltsamen Augen dieses Jungen im Wald!

„Was hast du denn?“, wollte der Junge nun wissen und setzte sich neben Rafael. Der Junge strahlte etwas so Vertrauenswürdiges aus, dass Rafael ihm plötzlich unbedingt alles erzählen wollte. Und so erzählte er, wie beliebt Til war, dass er viel mehr Freunde hatte und vor allem besser Fußball spielen konnte und dass er auch die besseren Schulnoten schrieb, sodass Rafael sogar glaubte, dass Mama Til mehr liebte als ihn. „Am liebsten möchte ich so sein wie Til!“, sagte er schließlich. Und dann erzählte Rafael noch etwas, das ihm sehr zu Herzen ging. Seine Mutter hatte es ihm erzählt, ansonsten hätte er es wohl vergessen gehabt: Als er ganz klein gewesen war, hatte er einmal mit Papas Ehering am Ufer des Baches gespielt und der Ring war ihm dabei in den Bach gefallen – man hatte den Ring nicht mehr gefunden. Das war kurz vor Papas Tod passiert. Da lächelte der Junge.

„Ich weiß, wie ich dir helfen kann“, sagte er und hielt plötzlich den verlorenen Ring in der Hand, von dem Rafael ihm erzählt hatte.

Rafael riss erstaunt die Augen auf. „Woher hast du den Ring?“, fragte er, aber der Junge sagte nur: „Rafael, hör zu: Du hast gesagt, du wärst am liebsten dein Bruder Til. Ich kann dir diesen Wunsch erfüllen. Du musst nur diesen Ring an deinen Finger stecken, dann verwandelst du dich in Til.“

„Nun gut“, zeigte Rafael sich einverstanden und überlegte gar nicht lange, denn er hatte es satt, immer der vernachlässigte Rafael zu sein. Der seltsame Junge reichte ihm nun den Ring und Rafael steckte ihn an seinen Finger. Im selben Augenblick drehte sich alles um Rafael herum wie ein großes Rad, sodass Rafael bald gar nichts mehr erkennen konnte als nur ein buntes Bild, in dem sich viele Farben und Formen mischten. Er hörte das geheimnisvolle Rauschen des Baches, in dem er damals den Ring seines Vaters verloren hatte und an dem er oft mit Til gespielt hatte – und im nächsten Moment fand er sich im Bett seines Bruders wieder. Til aber war verschwunden.

Es war heller Morgen, Rafael stand auf. Er fühlte sich größer und auch etwas kräftiger als sonst und als er in den Spiegel blickte, der am Schrank hing, erkannte er darin nicht sich selbst, sondern tatsächlich seinen Bruder Til. Und er hätte nun am liebsten laut gejubelt, als seine Mutter plötzlich ins Zimmer kam und ihn in die Arme nahm.

„Rafael ist nicht wiedergekommen“, schluchzte sie. Sie löste sich wieder aus der Umarmung und blickte Rafael an, den sie nun für Til hielt. In ihren Augen standen Tränen: „Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen! Ich bin ganz früh aufgestanden, um Rafael in der Stadt zu suchen, aber ich habe ihn nirgends gefunden! Ich habe solche Angst, Til!“

Rafael wollte etwas sagen, aber in diesem Moment läutete das Telefon im Flur und seine Mutter eilte sofort hin. Rafael bemerkte, dass es die Polizei war – seine Mama hatte sie also bereits verständigt. Da schauderte es ihn, aber er hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, denn als er im Badezimmer war, stand seine Mutter schon wieder vor ihm und sagte: „Til, du bist doch heute für den Leichtathletik-Wettkampf der Jungs von der Schule freigestellt.“ Sie hatte ihm die Sachen für den Wettkampf schon zusammengepackt und reichte ihm nun Tils Rucksack. Dabei senkte sie ihren Blick und fragte wieder: „Wo ist Rafael nur?“

Einerseits tat Rafael seine Mutter ja leid, aber andererseits freute er sich auch, dass sie nun endlich eingesehen hatte, dass nicht nur Til wichtig war. Nur eines ging Rafael nicht aus dem Kopf: Während sich seine Mutter fragte, wo Rafael war, fragte er sich, wo eigentlich der richtige Til geblieben war.

„Wo ist Rafael nur?“, fragte sich die Mutter jetzt wieder und verließ das Haus, ohne etwas Weiteres zu sagen. In diesem Moment dachte Rafael darüber nach, ob er nicht wieder zu dem Jungen in den Wald gehen sollte, um alles rückgängig zu machen, denn nun tat ihm seine Mutter doch leid.

Aber erst einmal musste Rafael auf seinem Fahrrad zum Sportplatz fahren. Er war sehr aufgeregt, weil er ja noch nie an so einem Sportwettkampf teilgenommen und immer nur von der Tribüne aus seinem Bruder zugesehen hatte.

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