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August 1914

»Wir haben uns heute Abend hier in dem sehr eleganten und kostspieligen Brevoort-Café aus einem ganz besonderen Anlass versammelt«, begann Jim McCready, sein Glas hebend. »Ich verkünde mit Stolz, dass die Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters unsere liebe... Leah Vogel angeklagt hat!«

Falls er angenommen hatte, der ganze Tisch würde in Beifall ausbrechen, dann musste er jetzt eine Enttäuschung hinnehmen. Niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit – nicht einmal Leah. Alle lauschten den lärmenden jungen Männern am Nebentisch, die sich lauthals darüber stritten, ob Amerika in den Krieg ziehen sollte oder nicht. Krieg war das Tagesthema, seit am achtundzwanzigsten Juni die Kämpfe in Frankreich begonnen hatten.

»Gegen die Hunnen kämpfen? Wieso? Mein Großvater ist Deutscher, vielleicht würde ich das Gewehr auf meinen Cousin richten!«

»Sei doch kein Volltrottel, Edwin! Wenn wir sie jetzt nicht bekämpfen, in Frankreich, endet es damit, dass wir sie auf den Straßen von New York bekämpfen müssen!«

»Die Franzosen sind gute Soldaten. Und überhaupt ist es ihr Krieg.«

»Ich sage, kämpfen wir für die Demokratie, wo immer das Schlachtfeld ist!«

Die letzte Äußerung wurde von einem gemischten Chor aus Hurras und Buhs begrüßt. Leah drehte sich empört auf ihrem Stuhl um und rief: »Finden Sie nicht, dass wir genug Probleme hier bei uns haben? Probleme, um die sich keiner kümmert? Wissen Sie denn nicht, was hier in Ihrer Heimatstadt los ist? Dass es Menschen gibt, die auf der Straße leben, sich von Abfall ernähren, sich nur mit Mühe sauber halten? Demokratie!« Sie schnaubte. »Fragen Sie mal die Frauen in diesem Land, wie ihnen die Demokratie gefällt! Dürfen sie überhaupt wählen

Die lärmenden jungen Männer hörten wie auf Kommando zu reden auf und starrten sie alle mit dem gleichen Ausdruck der Bestürzung an. Es war offenkundig, dass man sie für ziemlich verrückt hielt. Männer und ihre Kriege! Seit der Krieg angefangen hatte, war das alles, was man vom männlichen Geschlecht hörte: Armee, Kämpfen, Waffen und Munition, Generäle, Schlachten, Kriegsschiffe und Flugzeuge. Nun, soweit es sie betraf, fand sie alle meschugge!

Jim McCready drehte sie mit seiner großen Hand zu sich. Er lachte. »Wir entschuldigen uns, meine Herren«, sagte er. »Aber die kleine Lady ist Journalistin, müssen Sie wissen. Sie hat zu allem eine Meinung!«

»Und was ist falsch daran?« Leah war sich der Farbe und der Glut ihrer Wangen bewusst, doch sie hatte mehrere Gläser Wein getrunken, sodass es ihr nichts ausmachte. »Warum sollte ich keine Meinung haben? Weil ich eine Frau bin? Ich bin jedem Mann ebenbürtig!«

Der letzte Satz wurde von allen am Tisch – das heißt, von allen bis auf Joe – Wort für Wort mitgesprochen. Einen Moment lang war Leah wütend darüber, dass man sie in der Öffentlichkeit lächerlich machte, aber dann wurde ihr die Komik der Situation bewusst. Sie musste denselben Spruch wohl ständig von sich gegeben haben. Ach, sie war genauso schlimm wie die Männer, die nicht aufhören konnten, sich mit dem Krieg abzugeben! Sie fing an zu lachen.

»Oh, Gott, ich bin die totale Langweilerin geworden? Ich bringe mich um!«

»Nicht nötig«, beschwichtigte Jim. »Aber du könntest uns mal ein bisschen Ruhe gönnen, weißt du. Wir haben alle an den Kundgebungen für den Feminismus teilgenommen. Wir haben es alle gehört...« Er veränderte seine Stimme zum Falsett und zirpte: »Wie müssen die moderne Frau von ihren Fesseln befreien...«

»Nun, mir ist an dem Abend klar geworden, dass die Frauen, über die ich schreibe, nicht die Einzigen sind, die von der Gesellschaft unterdrückt werden. Sogar ich...«

Jim und Joe und die anderen – vier Autoren, zwei Karikaturisten und eine Schreibkraft, alle von The Future – johlten und lachten und knallten ihre Gläser auf den Tisch.

»Du! Unterdrückt! Du bist die am wenigsten unterdrückte Frau, die ich kenne!«

»Lass dich nicht täuschen, nur weil ich den Mund aufmache. Ich leide unter denselben Demütigungen...«

»Weißt du was, Leah?«, sagte einer der Autoren. »Du könntest als Bürgermeisterin von New York kandidieren!«

»Als Bürgermeisterin kandidieren!«, wiederholte sie bitter. »Sie lassen mich den Bürgermeister ja nicht mal wählen. Frauen sind zu emotional. Unsere Gemüter sind zu weich.« Sie hielt inne. Sie hatte zu viel getrunken und ihre Zunge war schwer. »Aber dies ist eine Feier!«, erinnerte sie die anderen, erinnerte sie sich selbst. »Wenn die Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters mich persönlich, namentlich, anprangert, mache ich meine Sache wohl nicht so schlecht!«

»Bravo!«, rief Joe. »Darauf trinke ich!«

»Mal ganz was Neues!«, sagte McCready mit hartem Blick, aber in lockerem Tonfall.

Jeder wusste, dass Joe in letzter Zeit trank wie ein Verrückter. Er war wütend auf sie. Konnte sie etwas dafür, dass sie mehr verdiente als er? Was machte es schon, wer mehr Geld mit nach Hause brachte; teilten sie nicht alles? Doch er sah es nicht so. Seit einem halben Jahr war er übel gelaunt. Nun, vielleicht war das Geld der einzige Grund.

Als Joe nach der Flasche griff, packte Jim McCready sie mit seiner großen Faust, hielt sie fest und sagte lächelnd: »Meinst du nicht, du hast genug gehabt, Jungchen?« Sein Ton war leicht wie eine Feder, aber sein Rückfall in den irischen Akzent, der sich fast ganz aus seiner Sprache verflüchtigt hatte, war ein sicheres Zeichen dafür, dass er es ernst meinte. Wäre er nicht ein wenig beschwipst gewesen, hätte Joe es gemerkt. Doch solche Feinheiten fielen ihm in seinem Zustand nicht mehr auf. Ärgerlich zerrte er an der Flasche.

»Ich sage dir schon Bescheid, wenn ich genug habe, McCready!«

Immer noch breit lächelnd, löste Jim seinen Griff um die Flasche so unvermittelt, dass sie umkippte und Wein über die Tischdecke und über Joe floss. Joe sprang fluchend auf und tupfte mit einer Serviette seine Hose ab. Jim trat neben ihn, als wären sie die besten Freunde, und drängte ihn lächelnd, mit nach hinten ins Restaurant zu gehen, wo sie sich Wasser besorgen und den Wein auswaschen konnten, ehe es Flecken gab.

Jeder am Tisch wusste, dass es Absicht gewesen war, und keiner traute sich, Leah anzusehen. Sie fühlte sich gedemütigt, aber auch erleichtert. Die Weinflasche war sowieso fast leer gewesen und vielleicht würde Joe bei seiner Rückkehr besserer Laune sein.

Nun, er war ruhiger, als sie zurückkamen, obgleich seine Augen niedergeschlagen waren, sodass Leah nicht erkennen konnte, was er wohl dachte. Sie warf Jim einen fragenden Blick zu – was hast du zu ihm gesagt? –, doch der schüttelte leicht den Kopf und stellte sich hin, um erneut seinen Toast auszubringen.

»Nicht jede kleine Zeitschrift in New York kann von sich behaupten, von der Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters auf den Index gesetzt zu werden! Ein dreifaches Hurra für uns und noch ein dreifaches Hurra für die Autorin von ›Das Recht der Frau auf ihre eigene Reproduktion‹. Auf Miss Leah Vogel!«

»Leah!«, riefen alle einstimmig. Joe fiel mit ein. Lächelnd griff er nach ihrer Hand und bedachte sie mit einem Kuss.

»Ein dreifaches Hurra«, fuhr Jim fort, »für die kleine Lady, die sich den edlen Mitgliedern der Gesellschaft zufolge« – hier schloss er die Augen und intonierte aus dem Gedächtnis – ›»nur für ihre eigene lüsterne, frevelhafte Clique so genannter Freunde interessiert, die in dieser Höhle des Lasters und der Sünde, in Greenwich Village, leben. Ist ihr nicht klar, der armen Frau‹«, zitierte er mit vor Belustigung bebender Stimme, »›dass diese Menschen sie in der Gosse werden enden lassen...‹« Er musste so heftig lachen, dass er nicht weitersprechen konnte.

Jemand anderes sprang ein: »›... dem passenden Ort für alle lasterhaften promiskutiven weiblichen Wesen!‹«

Jetzt lachten alle. Leah freute sich, dass alle ihre Freunde die Verurteilung auswendig kannten, und dass sie sie alle lächerlich fanden. Der Artikel hatte jede Menge Kommentare hervorgerufen, pro und kontra, die meisten dagegen. Es erstaunte sie immer wieder, dass bloße Wörter derartig starke Gefühle auslösen konnten! Hunderte von Briefen waren im Büro der Zeitschrift eingegangen – von Männern, die anboten, sich bei Sonnenuntergang mit ihr zu duellieren, oder solchen, die ihr Sex für eine Nacht antrugen. Nur weil sie Wörter wie »Penis« und »Vagina« benutzte! Nur weil sie Methoden zur Empfängnisverhütung aufzählte und beschrieb!

Sogar die New York Times hatte einen Leitartikel veröffentlicht, der ihren Text verurteilte, und in dem stand, man könne nicht daraus zitieren, weil die von ihr verwendeten Wörter sich »nicht für eine Leserschaft von Familien wie die der Times eignet«. Als Jim ihr das Blatt gab, ließen die harten Worte sie erröten, aber Jim meinte: »Lass sie das Schlimmste sagen. Hauptsache, sie schreiben deinen Namen richtig. Und den der Zeitschrift natürlich auch. Nicht jede Frau kriegt ihren Namen in die New York Times.«

»Als eine von Leahs sündigen so genannten Freundinnen«, rief Lenore, ihr Glas hebend, »verdamme ich ihre gottverdammte Verdammung!« Ihre Aussprache begann ebenfalls undeutlich zu werden. Sie schluckten den Wein alle ziemlich schnell, fiel Leah auf.

»Darauf trinke ich!«, rief Joe und kippte seinen Wein herunter. »Und auf promiskutive Frauen, lang mögen sie... was auch immer!«

Leah seufzte, als sie ihr Glas erhob. »Ladys und Gentlemen, auf die Sünde!«

»Auf die Sünde«, wiederholten alle und alle tranken.

»Auf das Laster!«

»Auf die Gottlosigkeit!«

»Auf die Lüsternheit und die Obszönität!«

Nach jedem Trinkspruch ein Sturm von Gelächter und ein Schluck Wein, bis sich in ihrem Kopf alles drehte. Doch sie behielt ihr strahlendes Lächeln bei und vermied es, in Joe Lazarus’ Richtung zu sehen.

Der Spaß ging weiter, indem jeder am Tisch versuchte, die Toasts der anderen zu übertrumpfen. Als Walter hinter ihr auftauchte, sie aufs Ohr küsste und um sie herumlangte, um ihr Glas zu nehmen und zu trinken, war sie beschwipst. Aber nicht zu betrunken, um nicht zu wissen, dass Walter seine Zuneigung so deutlich zur Schau stellte, um Joe wahnsinnig zu machen. Und er hatte Erfolg: Joes Gesicht färbte sich zu einem hässlichen Pflaumenblau.

Walter quetschte sich neben sie, legte ihr die Hand auf den Schenkel, sehr weit oben, und steckte seine Finger anzüglich zwischen ihre Beine. Manchmal, wenn er richtig blau war, griff er ihr unter den Rock und liebkoste sie tatsächlich dort, wobei er sie nie anschaute, sondern nur vor sich hin grinste wie der Teufel, der er war.

»Was ist, wenn es jemand sieht?«, protestierte sie dann später.

»Dann weiß er, dass du mir gehörst.« Lächelnd brachte er sein Gesicht ganz nah an das ihre. »Alle Frauen haben Mösen. Deshalb wollen die Männer sie... zum Ficken.«

»Aber ich mag es nicht, wenn du das in der Öffentlichkeit tust.«

»Oh, doch, du magst es. Ich spüre doch, wie nass deine Muschi wird.«

Er benutzte im Umgang mit ihr stets die derbsten Wörter und sie versuchte stets so zu tun, als machte ihr das nichts aus, denn sie wusste, dass er sie gern verlegen sah. Manchmal verabscheute sie ihn wegen seiner groben Art; dann fragte sie sich, was sie eigentlich von ihm wollte.

Aber wenn sie allein waren und er sie berührte, geschah etwas mit ihr. Sie verwandelte sich in ein heulendes, reißendes Tier, grub die Finger in seinen Rücken und sein Gesäß, zog ihn enger an sich, umklammerte seine Erektion, schob sie in sich, versuchte, sie noch tiefer hineinzustoßen, flehte schluchzend um mehr, mehr, mehr, wobei sie all die Wörter verwendete, die er ihr beigebracht hatte. Beim Gedanken daran liefen ihr Zickzackschauer über den Rücken. Es war wie eine schreckliche Droge. Jedes Mal, wenn sie sein schmutziges Bett verließ, war sie voller Selbsthass. Jedes Mal, wenn sie die Treppe hinunterrannte, gelobte sie sich: nie wieder.

Doch sie log sich etwas vor. Sogar jetzt, am Restauranttisch, umringt von ihren Kollegen und Joe, spürte sie, wie ihr die perverse Erregung in die Lenden stieg. Aber heute mischte sich etwas anderes hinein... Besorgnis vielleicht. Seit gestern Nachmittag...

Als sie zu ihm kam, war ein zweiter Mann da gewesen, der sich, an einem Whiskey nippend, auf dem Bett rekelte. Leon Cavalier. Nach einem kurzen Moment war ihr sein Name wieder eingefallen. Sie hatte ihn ab und zu gesehen, und eines Tages hatte Walter sie auf der Straße einander vorgestellt. Er war Maler, der ein gutes Einkommen mit den Porträts der Ehefrauen und Kinder wohlhabender Geschäftsleute erzielte. Für einen kleinen Bonus malte er, so hatte Walter ihr erzählt, auch echt aussehende »Vorfahren« für solche, die unbedingt die soziale Leiter erklimmen wollten. Und für einen großen Bonus, hatte Walter mit einem durchtriebenen Zwinkern hinzugefügt, malte er den Geschäftsmann mit einer Dame seiner Wahl, nackt, mit der der Geschäftsmann tun konnte, was ihm gefiel. Sechs Stellungen, in jedem Detail peinlich genaue Miniaturen. Nach der Natur selbstverständlich.

»Das glaube ich nicht!«

»Es stimmt aber, meine liebe Leah. Ich hoffe, du glaubst nicht, dass wir alle gern auf Pump leben. Ich bedaure nur, dass ich nicht selbst darauf gekommen bin.«

»Wie grässlich!«

»Sieh es doch als Schutz für die Heiligkeit der Ehe, Leah. Der Mann merkt, dass er geil ist wie ein Bock, und seine gute Frau kann ihn nicht befriedigen. Presto! Er geht zu seinem geheimen Versteck, er holt seine Bildersammlung hervor, schaut sie sich an, entsinnt sich besseren Zeiten und schon hat er die Angelegenheit gut im Griff!« Er lachte bellend und stieß sie an, um sicherzustellen, dass sie das Wortspiel kapierte. »Keine Angst vor Krankheit oder Entdeckung – und er muss nicht mal das Haus verlassen! Wenn du es dir einen Augenblick überlegst, erkennst du, dass Leon die Männer der Mittelschicht vorm Streunen bewahrt!«

»Ich finde es abscheulich!«

»Wirklich?« Er betrachtete sie so lange, bis sie sich regelrecht unwohl fühlte. Dann lächelte er und sagte: »Nun, wir werden sehen, wir werden sehen.«

Und hier war Cavalier, in Fleisch und Blut, ausgestreckt auf dem Bett, das von ihrer Leidenschaft der letzten Nacht noch zerwühlt war. Leon Cavalier war sehr hellhäutig, sein Haar nahezu farblos, und seine dichten Wimpern waren weiß wie die eines Kaninchens. Er begrüßte sie höflich, taxierte sie jedoch dreist und abschätzend.

Ihr Genick prickelte. »Ich komme später wieder«, sagte sie. »Wenn du allein bist, Walter.«

»Ach nein, meine Liebe. Ich gieße dir gerade ein Glas Sherry ein. Komm. Plaudere mit uns. Wir haben uns nach weiblicher Gesellschaft gesehnt, nicht wahr, Leon?«

Leon Cavalier klopfte auf eine freie Stelle neben sich auf dem Bett. »Gesehnt«, wiederholte er in einem schmachtenden Ton, der eine Gänsehaut bei ihr hervorrief. »Setzen Sie sich hierher, Leah. Ich darf Sie doch Leah nennen?« Er wartete aber nicht ab, ob sie Ja oder Nein sagte. »Walter hat mir so viel von Ihnen erzählt. Ich würde Sie gern näher kennen lernen.«

Leah blieb stehen, wo sie war. Sie wollte sich nicht neben ihn mit seinem trägen Blick und dem spöttischen Lächeln auf das Bett setzen, und sie wollte nicht, dass er sie überhaupt kennen lernte. Sie schaute Hilfe suchend zu Walter hinüber, doch er hatte ihr den Rücken zugekehrt.

Also setzte sie sich, so weit von Leon Cavalier entfernt wie möglich, kerzengerade, geradeaus schauend, die Hand um das Medaillon geschlossen, das sie ab und zu immer noch als Glücksbringer trug. Sie spürte den Blick seiner seltsamen, farblosen Augen auf sich. Und dann veränderte er absichtlich seine Stellung, sodass er dicht neben ihr saß. Er roch nach Moschus.

»Sie ist ein hübsches Mädchen, Morris, du hast wirklich Recht.«

Leah sagte nichts. Dann spürte sie seine Hand auf ihrem Kopf und wandte sich ihm überrascht und verärgert zu.

Als er die Hand wegnahm, lagen drei ihrer Haarnadeln darin! Sie fühlte nach, wo er ihr Haar gelockert hatte.

»Ich wollte sehen, wie es offen aussieht«, sagte er, als käme es jeden Tag vor, dass Männer fremden Frauen die Haare lösen. »Es ist richtig schwarz, stimmt’s, nicht bloß dunkelbraun? Aber natürlich, Sie sind ja Jüdin...« Er nahm ihr Haar in die Hände und liebkoste es. Leah war wie gelähmt. Sie wollte nicht, dass er sie anfasste, doch sie wollte sich auch nicht total zum Narren machen, indem sie aufsprang und ihre Haarnadeln zurückforderte.

»Walter«, flehte sie.

Aber als er sich umdrehte, sagte er: »Ja, warum lässt du deine Haare nicht herunter? Sie sind so schön.« Er lächelte sie an, doch seine Augen waren leer. Sah er denn nicht, was vor sich ging? Sah er nicht, dass dieser Mann...? Was wollte er?

»Mr. Cavalier«, setzte sie an. »Ich möchte wirklich nicht...«

Aber er unterbrach sie. »Leon. Bitte nennen Sie mich Leon. Oder Lee. Meine Freunde nennen mich Lee. Lee... und Leah. Wir sind füreinander bestimmt.« Er nahm die restlichen Haarnadeln heraus, fuhr ihr mit beiden Händen durchs Haar, schüttelte es aus, strich es glatt!

Leahs Herz tat einen Sprung in ihrer Brust und sie sprang auf. »Mr. Cavalier! Walter! Walter, er soll damit aufhören!« Sie lief zu ihm und er legte ihr einen Arm um die Schultern. Ein wenig keuchend lehnte sie sich an ihn.

»Leah, meine Liebe, was ist denn los? Habe ich dir nicht erzählt, dass Leon nicht nur ein alter Freund von mir ist, sondern auch ein sehr guter Maler? Ich habe ihn gebeten, eine Serie für uns zu machen, und jetzt schaut er nur, wie er dich ins beste Licht rücken kann...«

»Nein!« Schauer liefen ihr über den Rücken.

»Warum nicht? Ich versichere dir, Leon ist ein hervorragender Maler. Zeig ihr doch mal die Hitchcock-Bilder, Leon!« Er versetzte ihr einen kleinen Schubs.

Sie hielt sich sehr gerade und ging dahin, wo Leon Cavalier stand und einige kleine Leinwände, vielleicht zwanzig Zentimeter im Quadrat, auf dem Bett ausbreitete. Eine schreckliche Erregung erfasste sie, die ihr in die Kehle stieg und Übelkeit erzeugte.

Die Bilder waren mit winzigen Pinselstrichen hervorragend gemalt. Sie waren, wie Walter gesagt hatte, in jedem Detail peinlich genau. Der Mann war massig, sein Oberkörper behaart, der übergroße Penis erigiert und dunkel angeschwollen. Seine Gefährtin, eine junge Frau mit glattem, gelbem Haar, wirkte neben ihm winzig und fragil. Sie befanden sich auf einem mit Kissen überhäuften Bett, und jedes Gemälde zeigte sie in einer anderen Position. Leah schaute sie sich entsetzt, aber neugierig an. Auf einem Bild kniete das Mädchen mit hoch angehobenen Gesäßbacken, den Kopf in der Achselhöhle verborgen, während er sein Glied in sie hineinstieß. Sein Kopf war in den Nacken geworfen, seine Haare waren zerzaust, die Augen geschlossen, die Zähne zu einer erregten Grimasse gefletscht. Zu ihrem Schrecken spürte Leah ihre Lenden brennen und einen Schwall von Feuchtigkeit.

Leon Cavaliers Lachen brachte sie wieder zu sich. »Sie wird sich gut machen, Morris!«, sagte er und griff nach ihr.

Leah wartete nicht, um herauszufinden, was er vorhatte. Sie rannte zur Tür und die Treppen hinab, keuchend und schwitzend. Sie ging kilometerweit durch die vertrauten Village-Straßen und versuchte, ihr Herz dazu zu zwingen, mit dem Rasen aufzuhören, und ihre Gedanken davon abzuhalten, immer wieder zu jenen Bildern zurückzukehren. Walter und sie, auf seinem Bett... während Leon Cavalier was tat? Skizzen anfertigte? Posen neu arrangierte? Und dann? Sie glaubte es zu wissen. Dann würde er sich auskleiden und sich zu ihnen gesellen. Sie holte tief Luft. Wirklich abstoßend daran war, dass sie derartige Vorstellungen erregten. Ein Teil von ihr wollte, dass es geschah. Was für eine Frau war sie bloß?

Leah hatte es geschafft, den ganzen Vorfall zu verdrängen, irgendwo in ihren Hinterkopf, bis zu dem Moment, als Walter seine Hände um ihren Schenkel legte.

Sie schaute sich am Tisch um, schaute in all die vertrauten, von Wein und Siegesgefühlen geröteten Gesichter. Dies war ihr Leben, ein Leben ausgefüllt durch Schreiben und intellektuelle Gemeinschaft, ein Leben, in dem es Liebe gab und Selbstachtung und Rücksichtnahme. Der Mann neben ihr, der im Schutz des Tischtuchs ekelhafte Dinge mit ihr tat, während er plauderte und lachte und eine Zigarette rauchte... Er war schlecht, er würde sie hinabziehen, hinab, hinab, bis sie nicht besser wäre als eine Hure.

Sie griff nach unten, stieß seine Hand weg und stand auf, ihr Glas erhebend. »Auf die Freundschaft!«, toastete sie und trank das Glas aus. Alle taten es ihr nach.

»Auf die Liebe!«, sagte Walter, mit einem wissenden Lächeln zu ihr aufblickend.

Ein ersticktes Geräusch folgte und dann kam ein Glas Wein durch die Luft gesegelt, das die Tischdecke mit rosa Flecken und Klecksen übersäte und schließlich nicht weit von Walter Morris in tausend Stücke zersprang.

Es war Joe, ein wütender, rot angelaufener Joe, der, nachdem er sein Glas hatte fliegen lassen, das von jemand anderem packte und es auf den Tisch knallte, sodass es zusammen mit zwei Tellern zerbrach. Scherben von Glas und Porzellan flogen umher und die am Tisch Sitzenden schoben ihre Stühle zurück, um sich vor dieser Wut in Sicherheit zu bringen.

»Liebe!«, brüllte er. »Liebe! Was wissen Sie denn über Liebe, Sie Hurenbock, Sie Stück Dreck?« Bei den letzten Worten stürzte er sich über den Tisch hinweg geradewegs auf Walter.

Es war kein großartiger Kampf, das erkannte selbst Leah. Joe war zu betrunken und Walter zu überrascht. Beide konnten nicht mehr tun, als einander festhalten. Aber sich gegenseitig festhalten, das taten sie; als Karikatur eines sich umarmenden Liebespaars taumelten sie durch den Raum, stießen mit Tischen und Kellnern zusammen, begleitet von den Geräuschen zerbrechenden Geschirrs und klappernder Bestecke. Der Manager und zwei Kellner stürzten sich auf sie, schrien sie an und versuchten, sie zu trennen. Schließlich fielen die beiden Männer, immer noch aneinander geklammert, angestrengt bemüht, einen Schlag zu landen, krachend zu Boden. Keuchend rollten sie auseinander. Eine plötzliche Stille folgte und dann Stimmengewirr, als im Restaurant alle anfingen zu reden.

Leah rannte, um Joe zu helfen. Im Hintergrund beschwerte sich der Manager, diskret natürlich, über das Durcheinander und das kaputte Geschirr. Und den beschädigten Ruf des Lokals. »Die Touristen! Denken Sie nur, was die für Geschichten mit nach Hause nehmen! Ich bin ruiniert, ruiniert!« Seine Stimme wurde übertönt von Jim McCready, der sich entschuldigte und anbot, für den Schaden aufzukommen. Jim versicherte dem Mann, dass den Touristen der Kampf großen Spaß gemacht habe. »Kein Blut«, erklärte er. »Und es ging um eine Frau. Deshalb besuchen sie doch das Village – um zu sehen, dass sich die Bohemiens so aufführen, wie sie selbst es nie wagen würden!«

Jim würde sich um alles kümmern; das tat er immer. Und Leah konnte dorthin, wo sie eigentlich hingehörte, in die Geborgenheit von Joes liebenden Armen. Sie warf sich ihm entgegen und umschlang ihn ungestüm. »Joe, ist alles in Ordnung? Hat er dich verletzt? Bitte verzeih mir!«

»Du bist wieder da, endlich bist du wieder da«, sagte Joe, während er sie fest umarmte und sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub. »Oh, Leah, du musst mir verzeihen. Ich liebe dich, nur dich. Die anderen... sie haben mir nie was bedeutet. Jane Armstrong ... sie gefiel mir nicht mal. Es war nur... ich weiß nicht, was es war. Ich bin so ein verdammter Trottel gewesen! Ich will keine freie Liebe, nicht, wenn sie uns auseinander bringt. Zum Teufel damit, Leah! Leah, hörst du? Zum Teufel mit der freien Liebe! Von heute an nur du und ich, nur du und ich!«

Oh, Gott, es war so ein herrliches Gefühl, in Joes Armen zu sein, seinen vertrauten Geruch zu riechen und seine angenehme Wärme zu spüren und zu wissen, dass sie in Sicherheit war. In Sicherheit. Sie seufzte tief und schloss die Augen, als Joe ihr leise ins Ohr zu singen begann: »...and when I told them how beautiful you are, they didn’t believe me...«

Sie sangen gemeinsam, eng umschlungen, während sie das Restaurant verließen; und sie wusste: Dies war es, sie beide, Joe und Leah, für immer und ewig.

Die Patriarchin

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