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Oktober 1913

»Altweibersommer in der Barrow Street! Schau dir bloß das Laub an! Schau dir an, wie blau der Himmel ist! Man möchte regelrecht Gedichte schreiben. Nein, man möchte, dass jemand einen Farbfilm für die Kamera erfindet!« Joe Lazarus lehnte sich gefährlich weit aus dem Fenster des zweiten Stocks und atmete theatralisch ein.

»Joe!«, protestierte Leah, die aus dem Schlafzimmer auf der Rückseite ihres Apartments kam. »Um Gottes willen! Du fällst noch raus!«

Gehorsam drehte er sich zu ihr um und pfiff bei ihrem Anblick. »Du trägst deine Lungenentzündungsbluse? Das wird aber Gerede geben bei Bertolotti’s.«

Leah schenkte ihm ein kleines Lächeln und posierte für ihn. Sie trug den letzten Schrei, eine Tunika mit V-Ausschnitt über einem sehr engen, knöchellangen Rock, der sie dazu zwang, mit kleinen, gezierten Schritten zu gehen. Das brachte Joe stets zum Lachen. »Erstaunlich«, sagte er immer wieder, »was Frauen um der Mode willen alles auf sich nehmen!« Und was war mit den hohen, gestärkten Kragen der Männer? Jetzt spielte er auf den V-Ausschnitt ihrer Bluse an. Das tief ausgeschnittene V hatte jeden Prediger und Moralapostel im Land veranlasst, darüber zu wettern und zu schimpfen, wie tief die moderne Frau gesunken sei, wie entwürdigend und abstoßend er sei. Deshalb zog sie die Bluse natürlich gern besonders oft an.

»Bei Bertolotti’s würde es nicht mal auffallen, wenn ich splitterfasernackt reinspaziert käme«, sagte sie, sich den zweiten Anhänger ins Ohr steckend. »Die überrascht nichts. Oder zumindest tun sie so.«

Joe legte den Arm um sie und drückte sie an sich. »Du, meine reizende Leah, bist voller Überraschungen!« Er schnupperte an ihrem Hals und sagte: »Diese verdammten Ohrringe. Ich möchte dich in dein dralles kleines Ohrläppchen beißen... mein Lieblingskörperteil von dir... na ja, mein zweitliebster...«

»Joe! Hör auf! Ich habe mich gerade umgezogen! Los, du Faulpelz! Lass mich in Ruhe! Und zieh dich endlich um! Ich bin am Verhungern!« Doch sie lachte, und als er nach hinten ging, lachte er ebenfalls. Das Leben mit Joe Lazarus war voller Lachen. Ein bisschen liederlich, aber vergnüglich. Wer hätte das gedacht?, staunte sie. Die kleine Leah Vogel von der Lower East Side in einer Wohnung in Greenwich Village und dazu in Sünde lebend! Vor zwei Jahren noch Näherin, die in einer Fabrik für ihren Lohn schuftete, ständig knausern musste, Untermieterin bei einer Familie, die genauso arm war wie sie, im Besitz von drei Kleidern, eines Phonographen und nicht viel mehr.

Und jetzt! Zufrieden schaute sie sich um. »Put your arms around me honey, hold me tight...«, jubilierte sie, sich selbst umarmend. Hatte sie nicht immer gewusst, dass sie ein Glückskind war?

Sie liebte diese Wohnung. Sie hatten die linke Hälfte von Barrow Street Nr. 35 gemietet, was auf ein großes Vorderzimmer hinauslief, ein Schlafzimmer hinten und einen fensterlosen Raum dazwischen, der einen Gasherd, einen Ausguss und eine kleine Kabine mit Toilette enthielt. Doch für sie war es ein Palast. Nicht mehr ins Treppenhaus gehen und hoffen, dass man nicht mit den Nachbarn zusammenstößt! Und wenn man aus dem großen Bogenfenster schaute, sah man nicht die schäbige Rückseite eines anderen Mietshauses, sondern die Biegung der Commerce Street, wo sie auf die Barrow traf, die Bäume und die schmalen, hübschen Häuser, die sich in der Kurve drängten, sich geradezu aneinander schmiegten. Sie wohnten nicht weit von der Lower East Side entfernt, wenn man in Kilometern rechnete... aber was für ein Unterschied! Jedes Mal, wenn sie aufwachte und ihr klar wurde, wo sie war, durchflutete Glück ihren ganzen Körper.

Es war seltsam, wie es dazu gekommen war, dass sie und Joe zusammen in einem Apartment im Village wohnten und das Leben von Bohemiens führten. Es fing gleich nach dem Brand an. Joe hatte sich angewöhnt, in ihrer Nähe zu sein und sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Er verhielt sich wie ein Kumpel. Er berührte sie nie, obgleich sie sich das sehnlichst wünschte. Sie träumte von seinen Lippen auf den ihren, betete darum, verzehrte sich danach. Er sah so gut aus, war so klug, so flink; er kam in der Welt herum. Sie wusste es einfach: Er war der Mann für sie. Warum sah er es dann nicht? Warum war er so blind?

Doch es schien, als hätte Joe anderes mit ihr im Sinn und durchaus nichts Romantisches. Er bestand darauf, sie könne mit Worten umgehen... nein, sie habe Talent. »Ja, ich spreche über dein großes Mundwerk, Leah! Benutze es! Es ist eine Gabe, sage ich dir.«

»Meinst du vielleicht, ich sollte bei Bar Mizvas und Hochzeiten Witze erzählen?«

»Nein, ich rede über wichtige Dinge.«

»Zum Beispiel?«

»Ich finde zum Beispiel, du solltest es aufschreiben, was du bei dem Triangle-Brand empfunden hast. Du warst dabei, Leah, und wenn du ihn beschreibst, kann ich ihn sehen und riechen. Ich kann fühlen, was du fühlst. Schreib es auf!«

»Aufschreiben wofür? Für wen? Wird es Annie zurückbringen?« Bei der bloßen Erwähnung von Annies Namen zitterte ihre Stimme.

»Worte bewirken etwas. Glaub mir, ich wünschte, ich könnte Worte so benutzen wie du. Aber das kann ich nicht, also mache ich stattdessen Fotos. Und ich weiß nicht, wie viel sie bewirken, bis endlich jemand rauskriegt, wie man Fotos in Zeitungen abdruckt! Warte mal!« Er schnippte mit den Fingern und begann zu grinsen. »Ich hab’s! Schreib einen Leserbrief, an alle Zeitungen! Ich besorge die Namen der Chefredakteure und die Adressen, ich bringe sie sogar für dich zur Post!«

Nun, er setzte ihr zu, er bat sie, er schrie sie an. Also tat sie es zu guter Letzt. Schrieb einen leidenschaftlichen Brief an die Tribune. »Wir sind arme Mädchen«, schrieb sie, »die sich sechs Tage in der Woche in den Fabriken abrackern, um ein Leben in Schande zu vermeiden. Und wir arbeiten in einer Mausefalle. Dann gehen wir heim und dieselben Hausbesitzer geben uns eine Mausefalle als Wohnung! Wieso gibt es keinen sicheren Ort für uns? Wir sind verurteilt zu einem Leben in zwei Höllen!«

Sie schloss ihren Brief mit der Hoffnung, die freigesprochenen Triangle-Eigentümer möchten in der Hölle schmoren, und mit der Forderung nach neuen Vorschriften für Bauunternehmer. Die Trib druckte ihn nicht nur ab, jedes einzelne Wort, mit ihrem Namen darunter, sondern hob ihn noch durch einen Rahmen hervor. Die Überschrift hieß: EINES DER BRANDOPFER ERHEBT DIE STIMME GEGEN »EIN LEBEN IN ZWEI HÖLLEN FÜR BERUFSTÄTIGE MÄDCHEN«. Der Chefredakteur schrieb ein wenig über sie und ihren Brief und drängte die Stadtväter, New Yorks Bauvorschriften und Versicherungsgesetze zu reformieren.

Als ob das noch nicht genügte, brachte ihr Brief der Zeitung so viel Post, dass der Chefredakteur sie schriftlich bat, ihn in seinem Büro aufzusuchen. Er wolle eine Serie veröffentlichen, sechs oder sieben Geschichten über Fabrikarbeiterinnen, ihre Ausbeutung durch die habgierigen Bonzen, ihre Kämpfe, ihr Leben. Eine Yankee-Zeitung, englischsprachig, und sie hatten Interesse an den Gedanken eines Einwanderermädchens! Kein Wunder, dass man Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten nannte!

Nachdem sie sich mit dem Chefredakteur getroffen hatte, ging Leah wie im Traum nach Hause, schwebte über dem Boden, den Kopf umnebelt. Joe wartete auf der Schwelle, um sie zum Essen auszuführen, seinen Hut wie üblich keck schräg aufgesetzt. Er sah sie nicht; daher konnte sie ihn studieren, während sie sich näherte. Sie liebte sein Aussehen, sein dichtes Haar und den Schnauzbart, sein flüchtiges Grinsen, seine funkelnden Augen. Eigentlich liebte sie alles an ihm. Nicht, dass sie ihn es je wissen lassen würde.

Als er aufschaute und sie sah, lächelte er. Sein Lächeln vertiefte sich langsam und er stand auf, um ihr entgegenzugehen, seinen Blick nicht von ihr wendend. Sie blieb stehen, wo sie war, kaum im Stande zu atmen.

Er sagte nicht einmal hallo, nur: »Komm, Leah. Es wird Zeit, dass du meine Wohnung siehst.« Er griff nach ihrer Hand und drückte sie so fest, dass es ein bisschen wehtat. Aber sie wagte nichts zu sagen, aus Furcht, er würde sie loslassen, und sie wollte nicht, dass er sie losließ. Nie mehr.

Er lief in einem rasanten Tempo; sie musste rennen, um mitzuhalten. An jenem Tag sah sie das Village zum ersten Mal richtig. Sie fand es wunderschön, ein richtiges Stadtviertel, alt und friedlich, wo richtige Menschen lebten. Sie hatte natürlich gewusst, wo es war; mit all den anderen war sie am Tag der Beisetzungsparade für die Triangle-Brandopfer zum Washington Arch marschiert. Doch jetzt, als sie Hand in Hand mit Joe Lazarus den Waverly Place entlangging, kam es ihr ganz anders vor. Er hatte sie eingehakt, sodass sie die Muskeln unter seinem Mantel spüren konnte. Ein kleiner Schauder lief ihr den Rücken hinab. Sie wusste, dass etwas geschehen würde. Sie fühlte es, wie eine Erhitzung ihres Bluts. Alles andere entzog sich ihren Gedanken, selbst ihr Auftrag, für die Zeitung zu schreiben.

Joes Wohnung befand sich im obersten Stock eines alten Gebäudes in der West Eighth Street, ein voll gestopftes Atelier, das von Papieren und Geräten überquoll und stark nach Fotochemikalien roch. Er fegte die auf das Bett gehäuften Kleidungsstücke beiseite und wandte sich dann ihr zu. Sie stand wartend da; das Herz hämmerte ihr in den Ohren.

»Leah, ich glaube... Leah, ich habe mir überlegt... ach, zum Teufel. Leah, ich liebe dich. Ich liebe dich. Bin ich ein Narr, wenn ich glaube, dass du... dasselbe empfindest?«

Sie konnte nicht sprechen. Sie starrte ihn an, während sich ihre Augen mit Tränen füllten, und schüttelte den Kopf. Nein, nein, ein Narr bist du nicht.

»Oh, Gott! Ich habe... so lange gewartet!« Er schlang seine Arme fest um sie, neigte ihr seinen Mund entgegen, küsste sie drängend, saugte an ihren Lippen und stöhnte ein wenig. Sie war so benommen und außer Atem, dass sie sicher war, sie würde ohnmächtig zu Boden sinken, wenn er sie losließ. Aber er ließ sie nicht los. Sie immer noch küssend und unzusammenhängende Worte in ihr Ohr murmelnd, ging er mit ihr zum Bett und sie fielen beide darauf.

Sie konnte sich später nicht mehr erinnern, wieso sie plötzlich nichts mehr anhatte. Sie erinnerte sich nur daran, dass er seine eigenen Kleider abstreifte, Schicht um Schicht. Er war sehr muskulös – vor allem an den Schultern und Oberarmen – und sehr behaart. Und natürlich erinnerte sie sich daran, wie sie das erste Mal seinen Schwanz erblickte, der ihm prall und ein wenig zuckend vom Bauch abstand. Sie konnte nur denken: Oj, wie will er das Riesending bloß in mich reinkriegen?

Der Schmerz war nichts im Vergleich zu den wundervollen Empfindungen, die er bei ihr hervorrief. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht aufzuschreien. Er vergrub seinen Kopf in ihrem Hals und drängte sich mit heftigen Stößen in sie, wobei er ihr mit ersticktem Flüstern süße Dinge sagte. Als es vorbei war, schlief er ein, und sie lag auf seinem Bett, wund, ein bisschen enttäuscht – war das alles? –, aber ungemein glücklich. Weil er sie liebte, sie tatsächlich liebte. Und hiernach würden sie ganz bestimmt heiraten.

Als sie jetzt durch das Vorderzimmer ging, Bilder an der Wand zurechtrückte und darauf wartete, dass Joe mit dem Rasieren fertig wurde, schüttelte Leah den Kopf über ihre frühere Naivität. Was für ein Dummerchen sie gewesen war, an Heirat zu denken! Jeder, der sich auskannte, sagte, die Ehe sei eine Falle, die nur zur Unehrlichkeit zwischen Männern und Frauen führte. Sie war eine falsche Konvention, bourgeois und rückständig.

Zunächst wollte sie das nicht so ganz glauben, doch mittlerweile war sie überzeugt davon. Schließlich lebten sie in modernen Zeiten, und sie war eine moderne Frau. Und wie viel besser war es, so zu leben wie sie und Joe, als Gleichberechtigte, die einander liebten und die Freiheit hatten, andere zu lieben. Keiner war gezwungen zu heucheln, keiner war sklavisch an eine Beziehung gebunden, die gestorben war. Jeder, den sie kannten, dachte und lebte so und sie stimmte zu, dass das sehr vernünftig war. Es gab nur ein Problem, wie sie während des letzten Jahres festgestellt hatte: Sie war nach wie vor voller törichter, bürgerlicher Eifersucht.

Die Frauen waren ständig hinter Joe her. Er war so lebendig, so witzig. Und wenn sie sich auf seinen Schoß setzten oder ihm mit den Fingern durch das dichte dunkle Haar fuhren, spürte sie, wie sich ein schweres Gewicht auf ihre Brust senkte.

»Warum stößt du sie nicht weg?«, fragte sie ihn. »Warum sagst du ihnen nicht, dass du mir gehörst?«

»Leah, Liebling, niemand kann einem anderen Menschen gehören. Das wäre Sklaverei, und damit hat Mr. Lincoln Schluss gemacht, entsinnst du dich?« Er zog sie eng an sich. »Meine süße Leah, ich brauche sie nicht wegzustoßen. Sie bedeuten mir nichts. Sie berühren mich nicht, keine von ihnen, aber du...« Er ergriff ihre Hand und legte sie auf die harte Schwellung zwischen seinen Schenkeln. In der nächsten Minute lagen sie einander in den Armen, entkleideten sich, küssten, was ihrem Mund gerade am nächsten war, und lachten, während sie sich liebten.

Sie wusste, dass er verliebt in sie war, ebenso wie sie in ihn. Der Beweis sei, so sagte Joe ihr immer wieder, dass sie sich treu waren – »auch ohne Trauschein, denn wir brauchen kein Stück Papier, das uns sagt, was wir fühlen sollen. Und das macht es sogar noch besser, verstehst du denn nicht, Schatz?«

Sie sagte dann immer, ja, sie verstehe. Aber wenn Jane Armstrong, die Schauspielerin, so schön, so kokett, ihre Arme um ihn schlang, ihn ihren Zigeuner nannte und meinte: »Du würdest fabelhaft aussehen mit goldenen Ohrringen, Joe Lazarus, und einem bunten Tuch um den Kopf... stimmt’s nicht?«, wobei sie Leah einen lachenden Blick zuwarf und ihre leuchtend roten Lippen schürzte, merkte Leah, wie sie sich wünschte, nein, sich danach sehnte, dass ein Rabbi ihnen seinen Segen gab, damit all die Jane Armstrongs wussten, Joe Lazarus gehörte ihr.

Sei nicht albern, schalt sie sich, während sie immer noch darauf wartete, dass er fertig angezogen war. Joe gehört dir, und er liebt dich. Nervös studierte sie seine Fotografien, die an allen Wänden hingen. Dramatische Strahlen staubigen Lichts, Mauerrisse und -löcher in Nahaufnahme, sodass sie plötzlich nicht mehr Zeichen von Armut waren, sondern interessante Muster. Und die Gruppe von Jungen aus den Slums, die wie zerlumpte Zigeuner aussahen und grinsend aneinander lehnten. Sie sahen so verwegen aus, so großspurig. Doch sie wusste, dass sie wahrscheinlich Hunger hatten, jeder Einzelne von ihnen. Leah war sich nicht so sicher, ob es eine gute Idee war, Armut künstlerisch abzubilden, sodass man beinah vergaß, dass Menschen tatsächlich gezwungen waren, in diesen Bruchbuden zu hausen; dass echte Ratten diese kulissenhaft wirkenden Löcher bewohnten; dass diese Jungen in ihren pittoresken Lumpen arm waren und froren.

Aber sie schien die Einzige zu sein, die so fühlte. Joes Bilder wurden in etablierten Zeitschriften veröffentlicht; wie Leahs Artikel auch, seit sie im Schmutz wühlte, indem sie Slums und Ausbeuterbetriebe besuchte, um deren verborgene Schrecken zu enthüllen. Eigentlich zog sie aber die kleinen, radikalen Blätter vor. Dort musste man sich nicht jede Formulierung genauestens überlegen. Dort konnte man die ganze Geschichte erzählen, und der Redakteur fand sie gut.

Neben Joes Fotos hingen Zeichnungen und Gemälde von ihren Freunden, sogar eine Skizze auf einem Leinentaschentuch, angefertigt von Herb Roth während eines Mittagessens zwischen Salat und Dessert. Neben der Wohnungstür beherrschte eine riesige Leinwand in leuchtendem Orange und Grün und Lila die Wand. Das Gemälde war von großen, nackten Frauen bevölkert, Frauen mit riesigen schlaffen Brüsten und Bäuchen, breiten, runden Hüften und gewaltigen Schenkeln. Leah mochte es kaum anschauen; die Farben hatten etwas Verdorbenes, und beim Anblick der nackten Frauen musste sie immer an verwesendes Fleisch denken. Es trug den Titel An die Waffen und sie hasste es. Trotzdem fuhr sie mit dem Finger die an den unteren Rand gekritzelte Signatur nach: Walter Morris. Sie verabscheute das Gemälde und den Maler.

Endlich war Joe fertig und sie traten hinaus in den hellen goldenen Sonnenschein und die süß nach Wein duftende Herbstluft. Er fischte in seinen Taschen und holte eine Hand voll Kleingeld hervor. Er stieß einen scharfen kleinen Pfiff aus. »Na, da müssen wir uns wohl an das Fünfzehn-Cent-Gericht und eine Flasche von Angelos Itaker-Rotem halten«, sagte er. »Harper’s haben mich bezahlt, aber das ist für Miete und Lebensmittel draufgegangen. Und was Jim McCready angeht... der hat dauernd eine Entschuldigung.«

»The Future ist nicht kommerziell, Joe. Und am Ende zahlt Jim immer.« Sie fühlte sich ein bisschen als Beschützerin von Jim McCready; er war ihr treuester Verleger. Tatsächlich hatte er sie vor kurzem aufgefordert, jeden Monat für The Future zu schreiben, auf regelmäßiger Basis, und er wollte sie als Mitherausgeberin ins Impressum aufnehmen.

Joe schnaubte angesichts dieses Titels. »Klar! Du gehst in den voll gestopften Keller in der Little West Twelfth Street, den er dreisterweise Verlag nennt, und schuftest für ihn! Das ist deine Mitherausgeberschaft!«

Sie war da anderer Meinung. Das Lesen von Manuskripten war für sie keine Schufterei, ebenso wenig wie das Frankieren von Briefen, der Gang zur Post, nein, nicht einmal das gelegentliche Ausfegen des Büros. Sie erledigte ihre Aufgaben bei The Future gern. Es ging dort zu wie in einer Familie, einer Familie, in der alle an dasselbe glaubten. Wenn genügend Exemplare verkauft waren, wurden sie alle bezahlt, und Jim brachte Wein zum Feiern mit. Und wenn der Umsatz schlecht war... nun, dann bekamen alle weniger, auch Jim.

»Am Ende zahlt er immer«, wiederholte sie.

»Na, dann soll er in der Mitte zahlen!« Joe lachte laut. »In der Monatsmitte! Kapiert? Nicht schlecht, wie?«

Sie kamen in die Bleecker Street, die von Leuten in allen möglichen Aufmachungen und Trachten nur so wimmelte. Hier trafen sich Menschen aus ganz Amerika, Freidenker, Sozialisten, Kommunisten mit allen möglichen Ideen, allen möglichen Vorstellungen. Und trotzdem war es ruhig, nicht wie auf der Lower East Side mit ihrem jiddischen, polnischen und russischen Sprachwirrwarr, dem Rufen, dem Schreien, den Verkäufern!

»Ach, wenn man vom Teufel spricht, da drüben ist Jim McCready! Komm, Leah, wir laufen ihm hinterher und schlagen Krach, weil er uns nicht bezahlt hat! Ich wette, er spendiert eine Extraflasche, wenn wir ihm Schuldgefühle einjagen!«

Joe meinte es nicht ernst; er sagte kein Wort zu Jim. Er redete gern hartgesotten daher, doch im Innern war er weich. Er wusste, wie schwer es war, sich seinen Lebensunterhalt mit Kunst zu verdienen. Jim wohnte in der West Fourth zur Untermiete in einem Hinterzimmer. Er behauptete, mehr brauche er nicht, aber Leah wusste, dass er sich nicht mehr leisten konnte. Er steckte fast jeden Penny, den er hatte, in die Zeitschrift.

Sie setzten ihren Weg fort, begrüßten Freunde und diskutierten die Kundgebung im Rutgers Park, auf der sowohl »Big Bill« Heywood als auch Eugene Debs gesprochen hatten. Maurice Becker hatte für die nächste Ausgabe der Future eine Karikatur der Veranstaltung angefertigt, und Jim war außer sich vor Freude.

»Verdammt, Becker ist der beste Karikaturist, wenn ihr mich fragt. Und ich sage euch, ich fühle mich geschmeichelt, dass er mir eine Zeichnung überlassen hat. Die meisten hebt er für die sozialistischen Käseblätter auf.«

»Und wie nennst du dein Käseblatt?«, lachte Joe.

»Ein Instrument, das Skandale aufdeckt, mein Junge! Die Schaufel, mit der man die Schweinehunde begraben wird, die glauben, sie könnten die Unterdrückten ausnutzen. Wir sind die Stimme der Armen, Joe. Wir werden sie lehren, dass sie Macht haben, und zwar mithilfe des Wahlrechts!«

Sie unterhielten sich immer noch angeregt, als sie bei Bertolotti’s eintrafen. Das Trio wurde begeistert von Angelo, in Hemdsärmeln und Hosenträgern, wie immer die Melone auf dem Kopf, willkommen geheißen. Angelo führte sie an ihren Stammtisch. Ein weiterer von Jims Autoren saß bereits dort, neben ihm die Tänzerin Lenore Hutchinson, die ihn – selbst im Sitzen – um dreißig Zentimeter überragte. Nicht, dass sie ein Paar gewesen wären, nein, Lenore interessierte sich nämlich nicht für Männer. Genauer gesagt, war sie hinter Leah her – das behauptete sie jedenfalls. Leah fühlte sich deswegen eigentlich sehr unwohl, obgleich sie das nie zugeben würde. Es wäre dasselbe, als würde sie aller Welt verkünden, sie sei immer noch das ignorante Immigrantenmädel von der Lower East Side und gehöre in Wahrheit gar nicht zu den Freidenkern des Village. Wenn Lenore sich also zu ihr neigte und murmelte: »Falls du Joe jemals satt hast... ich warte«, lachte Leah bloß. Und rückte weg, sobald sie konnte, ohne dass es zu offensichtlich war. Sie konnte sich nicht vorstellen, was zwei Frauen machten; doch sie war sicher, dass es ihr nicht gefallen würde, wenn sie es herausfände.

Mama Bertolotti kam an den Tisch geeilt, brachte noch eine Flasche Wein und Gläser und nahm ihre Bestellung über drei Fünfzehn-Cent-Essen entgegen. Eine Minute später standen Schüsseln mit dicker, dampfender Minestrone und ein riesiger Korb mit Brot und Butter vor ihnen.

Angelo kam herüber. »Joe, was ist los? Das billige Gericht? Du hast mir doch erst letzte Woche diesen wunderschönen Hickorystock mit dem geschnitzten Hundekopf geschenkt. Was tust du mit deinem Geld? Verspielst du es?«

»Nein, dieser knauserige Verleger hier zahlt nicht pünktlich!«

»Ich bezahle! Ich bezahle! Es sollte euch genügen zu wissen, dass die klügsten Geister von New York City eure Arbeiten sehen statt der dumpfen Masse, die die Saturday Evening Post kauft!« Jim McCreadys Stimme war ein voll tönender Bass, der noch drei Straßen weiter zu hören war. Im Restaurant brachte er die Gläser zum Klirren.

Jim war sowieso eine auffallende Figur mit seinen gut über einen Meter achtzig und zweieinhalb Zentnern, seinem roten Gesicht, den kupferfarbenen Locken und den heruntergezogenen Augenwinkeln, die für manche Iren typisch waren. Er war geradeheraus und eigensinnig, aber das machte den Leuten nichts aus, denn alles wurde immer gut gelaunt und mit viel Charme vorgetragen.

»Ich finde es faszinierend, dass Angelo Spazierstöcke sammelt«, grübelte Leah laut. »Was Dr. Freud wohl dazu sagen würde?«

Angelo wehrte mit der Hand ab. »Freud! Freud! Wer ist der Kerl überhaupt? Jeder, der hier reinkommt, erzählt mir ständig von seinen Komplexen. Freud sagt dies, Freud sagt jenes! Wann sehe ich ihn denn mal, diesen Freud?«

Er lachte und ging weiter zum nächsten Tisch, wo ein magerer junger Mann, käsig und ungesund aussehend, saß. Es war ein Anarchist, der jeden Tag kam, um sich von dem gutmütigen Bertolotti füttern zu lassen. Angelo liebte jeden Einzelnen seiner Stammgäste; und wenn ihn jemand fragte, warum er so viel verschenke, zuckte er die Achseln und sagte: »Was? Ich soll einen Freund hungern lassen, wenn in meiner Küche so viel zu essen ist?«

Noch ein Mann aß auf Kosten des Hauses, wie üblich: der Maler Walter Morris. Leah bemühte sich sehr, nicht in seine Richtung zu sehen; doch es war, als hielte er sie an einer Leine und zöge immer wieder daran. Sie konnte nicht anders. Sie schaute hinüber und sah, dass er sie durchdringend anstarrte. Sobald ihre Blicke sich trafen, kräuselten sich seine Lippen zu einem kleinen Lächeln, und eine schwarze Augenbraue fuhr in die Höhe. Sie guckte rasch weg. Nachdem sie einen großen Schluck Wein getrunken hatte, schloss sie sich der Unterhaltung an, die zu Charlie Chaplin gewechselt war. Jeder fand ihn so wundervoll, so komisch. Sie nicht.

»Armut hat nichts Komisches«, erklärte sie.

»Leah hat Recht.« Es war Walters Stimme; er rutschte auf den Platz dicht neben ihr, so dicht, dass sich sein Arm an ihren, sein Bein an ihres drückte. »Aber«, fuhr er schwungvoll fort, »Leah ist natürlich nicht klar, dass wir über Charlie Chaplin nicht lachen, weil er komisch ist, sondern weil er uns beunruhigt. Es ist ein nervöses Lachen.«

»Schon wieder dieses Freud’sche Zeug!«, spottete McCready.

»Freud hat nichts damit zu tun. Als Künstler...« Walter legte eine ganz leichte Betonung auf das letzte Wort»... verstehe ich, wie normale Menschen auf starke Emotionen reagieren.«

»Ach, wirklich?«, fragte Lenore kühl. »Und wie, bitte schön, Sie Klugschwätzer?« Sie hatte eine Abneigung gegen den Künstler seit dem Tag, an dem er eine grausame Imitation von Isadora Duncan darbot, hier bei Bertolotti’s, bei der er einen Paisleyschal benutzte, den er sich von einem Haken an der Wand geschnappt hatte. Er amüsierte sich über modernen Tanz. Lenore dagegen betete die große Duncan an und tanzte in ihrem Stil; deshalb hasste sie ihn.

Walter schenkte ihr ein durchtriebenes Lächeln. »Den meisten Menschen ist unwohl angesichts machtvoller Gefühle. Achten Sie mal drauf, was passiert, wenn das Thema Sex zur Sprache kommt... Sehen Sie? Leah wird rot, McCready rutscht auf seinem Sitz hin und her... und was Sie angeht, liebe Lenore, Sie durchbohren mich mit Ihren Blicken.«

Mit jedem Wort schien er sich enger an Leah zu pressen. Sie konnte Terpentin und, ganz schwach, Seife riechen oder vielleicht Pomade. Sie spürte die Hitze seines Körpers.

»Nur weil Sie im Haus des Genies wohnen, sind Sie noch lange keins!«, schnauzte die Tänzerin, doch er lachte sie nur aus.

»Wenigstens erkenne ich Genie, wenn ich es sehe und höre. Waren Sie nicht diejenige, die so entsetzt von Strawinskys Le Sacre du printemps war? Wie kann eine Frau, die sich Tänzerin nennt, so wenig Respekt vor einem so großartigen und innovativen Werk haben?« Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich an Leah. »Oh, ja, die alten Griechen wussten, wie man die Lebenskräfte verehrt!«

Er schaute sie so bedeutsam an, dass sie den Blick senken musste. Warum sagte Joe nichts? War er stumm, blind und taub? Er saß genau gegenüber am Tisch; es war unmöglich, dass er nicht mitgekriegt hatte, was sich abspielte. Machte es ihm nichts aus, dass sie sich auf ihrem Stuhl wand? Gott weiß, was passieren würde, wenn Walter Morris ihr weiter so zusetzte.

Doch Joe schien abwesend und mit Genuss sein Brot und seine Suppe zu essen und leerte auch Leahs Schüssel, als sie erklärte, sie habe keinen Hunger mehr. Die anderen plauderten weiter, Leah dagegen schäumte wortlos. Walters Knie presste sich eindeutig an das ihre. Sie war bereits zweimal abgerückt. Noch eine Bewegung, und sie würde auf Jim McCreadys Schoß landen. Sie weigerte sich, Walter Morris anzugucken, aber sie spürte, wie er über ihr Unbehagen grinste.

Endlich war Joe fertig. Er wischte sich den Mund sorgfältig mit seiner Serviette ab, faltete sie ordentlich und legte sie behutsam nieder. Dann griff er ohne Vorwarnung zu, packte Walter bei seinem Halstuch und zerrte ihn halb über den Tisch.

»Hören Sie, Morris«, sagte Joe mit sanfter Stimme, das Gemurmel der anderen ignorierend. »Ich habe einen Vorschlag für Sie. Hören Sie auf, mein Mädchen zu belästigen, und suchen Sie sich selbst eins. Das heißt, falls Sie eine nimmt... was ich bezweifle. Es sei denn, natürlich, Sie fangen an, regelmäßig zu baden.«

Am Tisch war es vollkommen still geworden. Sogar Lenore schwieg; die Kinnlade war ihr heruntergefallen. Leah wäre am liebsten aufgestanden und hätte Hurra gerufen. Dieser Joe! Tat so, als ob er nichts merkte, dabei schäumte er die ganze Zeit vor Eifersucht. Er war so... so männlich. Und er liebte sie wirklich; er war bereit, für sie zu kämpfen!

Walter Morris grinste schief und blieb ungerührt trotz seiner unbequemen Position. »Hören Sie, Lazarus, Sie müssen mich nicht gleich erwürgen. Ich wollte nur freundlich sein.« Und als Joe seinen Griff gelockert hatte, sodass Walter sich hinsetzen und seine Kleider ordnen konnte, fügte er hinzu: »Ich dachte nur, Leah hätte vielleicht gern ein bisschen Gesellschaft, das ist alles. Mir scheint, Sie vernachlässigen sie ziemlich oft.«

»Ich vernachlässige sie, so? Nun...« Joe schob seinen Stuhl zurück und trat rasch an Leahs Seite. Mit einer schnellen Bewegung zog er sie auf die Füße, beugte sich vor und bedeckte ihren Mund mit seinem. Leah hörte, wie ihr Tisch und dann andere in der Nähe Beifall klatschten und sie anfeuerten. Zunächst war es nur ein Kuss wie jeder andere. Aber dann plötzlich veränderte er sich. Ihre Lippen wurden weich und er zog sie eng an sich. Leah spürte, wie sie von Verlangen überwältigt wurde, hier an Ort und Stelle, bei Bertolotti’s! Sie löste sich von ihm und lachte ein wenig.

Joes Augen waren dunkel vor Verlangen. »Entschuldigt uns«, sagte er, »ich und mein Mädchen haben was Dringendes zu erledigen.«

Leah spürte, wie sie knallrot wurde, doch sie fühlte sich gleichzeitig so geliebt und beschützt, dass es ihr egal war, was die anderen dachten! Als Joe ihr den Arm um die Schultern legte und sie zur Tür hindrängte, konnte sie nicht umhin, einen letzten triumphierenden Blick auf den finster dreinschauenden Walter zu werfen. Dann gingen sie hinaus, sie und Joe, zusammen unterwegs nach Hause und ins Bett. Mitten am Tag! Wer brauchte schon einen Trauschein?

Die Patriarchin

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