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18. Juni 1910

Es war ein zauberhafter Abend, die Luft ganz weich von einer leichten Meeresbrise, der Himmel so tiefblau, dass er wie Samt aussah. »Guck mal, Annie.« Leah Vogel zeigte aus dem Fenster, während der Zug lärmend durch Sheepshead Bay schaukelte und rumpelte. »Guck mal, wie schön.« Dann veränderte sich ihre Stimme. »Ooh! Da! Sieh nur, Annie, die Lichter. Sieh nur!«

Sie drehten sich beide auf ihren Sitzen um und starrten aus dem Zugfenster, zwei Augenpaare, aufgerissen vor Staunen, zwei leicht geöffnete Münder. Ihr Gesichtsausdruck war identisch; ansonsten waren sie so unterschiedlich wie Tag und Nacht – die eine hellhäutig und blond, die andere mit Haaren so dunkel und glänzend wie Rabenflügel und munteren dunklen Augen, gerahmt von dichten schwarzen Wimpern.

»Ganz gleich, wie oft wir es sehen...«, hauchte Annie. Sie griff nach Leahs Hand. »Es ist wie ein... ein... Märchenland.«

»Besser als ein Märchenland, Annie! Coney Island!«

Eine Insel aus Licht und Feuer tauchte aus der Nacht auf. Glitzernde Türme und funkelnde Minarette. Schlösser, die in der zunehmenden Dunkelheit schimmerten. Ihr Schein reichte bis in den Himmel; man sagte, Schiffe richteten ihre Navigation danach. Leah glaubte es. Sie hatte gelesen, die Umrisse der fantastischen Konstruktionen von Luna Park würden von einer Million elektrischer Lichter nachgezeichnet. Eine Million! Wie viel war eine Million? Eine Zahl, die sie sich nicht einmal im Entferntesten vorstellen konnte.

Nirgendwo auf der Welt gab es so etwas wie hier. Das sagte jeder. Es hieß, dass Menschen aus der ganzen Welt extra nach Brooklyn reisten, nur um Coney Island zu sehen. »Sodom am Meer« nannten es die verknöcherten Greise. Egal, was die alten Kochers meinten; es war magisch, magisch! Auf Coney Island waren alle üblichen Regeln vergessen. Es war der äußerste Rand von Amerika, die äußerste Grenze von Brooklyn – von New York City, genau genommen. Hier traf das Land auf die See und die Stadt auf das Land; Realität traf auf Träume. Hier war man an einem Samstagabend in einer Welt, wo alles, wirklich alles möglich war, und der Montag war so weit weg, dass man nicht an ihn denken musste.

In all den Glanz schauend, der den Himmel erleuchtete und die Sterne verbarg, spürte Leah, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Sie konnte es kaum erwarten, ihren Spaziergang auf der Surf Avenue zu beginnen. Es war immer so aufregend, wenn die jungen Männer ihnen schöne Augen machten, sich zum Gruß an den Hut tippten, vielleicht näher kamen, um ein Gespräch anzufangen, wenn die beiden jungen Frauen nicht wegschauten oder ein bisschen schneller gingen.

»Oh, Annie, es ist ein vollkommener Abend, ein vollkommener Abend. Ich hab dir gesagt, dass es so sein würde... nur für uns.«

Annie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Du hast immer Recht, Leah.«

Es war ihr sechzehnter Geburtstag. Am achtzehnten Juni waren sowohl Leah Vogel als auch Annie Bernstein zur Welt gekommen, weit jenseits des Atlantiks in verschiedenen Städten Russlands. In Kleinrussland eigentlich, in der Ukraine. Das Wunder war, dass sie sich hier begegnet waren, in Amerika, in der Triangle Shirtwaist Factory, einer Hemdblusennäherei, ganz zufällig. Und jetzt waren sie die besten Freundinnen, unzertrennlich!

»Ich bin ein Glückskind, deshalb hat dich dieser Tunichtgut Morris Levinsky neben mich gesetzt«, sagte Leah gleich am ersten Tag zu Annie. »Ich bin allein auf der Welt und du auch. Glaubst du nicht, es gibt einen Grund dafür, dass wir uns heute kennen gelernt haben? Hör zu, in dem Haus neben dem, wo ich wohne, ist ein Zimmer, das wir zusammen beziehen könnten. Bei den Roths. Unsere Mahlzeiten können wir unten bei Mrs. Katz einnehmen. Sie ist eine gute Köchin, und ich weiß zufällig, dass sie Kostgänger sucht. Wenn wir uns die Kosten teilen, reichen unsere sieben Dollar, die wir pro Woche verdienen, viel länger. Was meinst du?«

Nun, sie hatten es getan, noch in derselben Woche. Das war im März gewesen, und heute war ihr erster gemeinsamer Geburtstag. Was für ein Fest sie geplant hatten! Zunächst hatte jede drei Dollar für identische Goldmedaillons ausgegeben, in die man zwei Fotos stecken konnte. Sie hatten sie sogar auf der Rückseite gravieren lassen – eine Geldverschwendung, die Annie fast den Atem raubte.

»Sollen wir das wirklich tun, Leah?«, murmelte sie, doch Leah tat ihre Ängste leichthin ab. »Vielleicht nicht«, sagte sie forsch, »aber man lebt nur einmal. Dann müssen wir eben ein paar Tage ohne Mittagessen auskommen. Das macht schlank.«

Annie musste lächeln, doch sie sagte: »Männer mögen keine Mädchen, die zu mager sind.«

»Pah! Wer hat dir denn das erzählt? Sind nicht die neuesten Korsetts aus Gummielastik dazu da, um ›das Fleisch einzudämmern‹?« Sie sprach mit affektiertem Tonfall, als sie die Vogue zitierte. Die anderen Mädchen machten sich über Leah lustig, weil sie die Zeitschriften der Reichen las – gojische Zeitschriften –, die voll Dingen waren, die sie nie auch nur hoffen konnten zu besitzen. Aber ihr kamen beim Anschauen der Bilder und beim Lesen dessen, was die Modeexperten zu sagen hatten, alle möglichen Ideen. Sie war stets auf der Höhe der Zeit.

»Männer mögen Mädchen, punktum«, beharrte Leah. »Auf das Aussehen kommt es gar nicht an. Was sie wollen, ist ein bisschen Lebhaftigkeit, ein bisschen Pep, Annie!« Das hatte sie auch in einer Zeitschrift gelesen.

Als ihre Freundin errötete, bedauerte Leah ihre Unbedachtheit sofort. Annie war so schüchtern, dass sie kaum ein Wort herausbrachte, wenn ein Mann sie ansprach. Und sie schämte sich dieser Schwäche.

»Ich meinte nicht dich, Annie, ich meinte... generell.« Generell war eines der neuen Wörter, die sie vor kurzem gelernt hatte. Die Lehrerin bei der Educational Alliance, einer Art Volkshochschule, wo sie einen Abendkurs besuchte, hatte ihr gesagt, sie habe eine natürliche Begabung für Sprachen.

»Generell?«, wiederholte Annie verdutzt.

»Das bedeutet, dass es allgemein zutrifft, auf alle Mädchen... nicht bloß auf die scheue Annie!« Damit entlockte sie ihr wenigstens ein Lächeln.

Sie ließen also die Rückseiten der Medaillons gravieren; und Leah meinte, Annie müsse bestimmen, was da stehen sollte. Auf Leahs stand: »Für Leah. 18. 6. 10, Freundinnen auf ewig.« Auf Annies stand dasselbe, bis auf den Namen. Als der Graveur fertig war und ihnen die Medaillons aushändigte, kamen die Mädchen gar nicht darüber hinweg, wie schön seine Arbeit gelungen war. Er hatte den Text in winziger, vollkommen deutlicher Schrift eingeritzt und an die Enden der Großbuchstaben sogar noch Schnörkel gefügt.

Er wehrte ihre Bewunderung ab und sagte: »Für zwei so reizende junge Damen eine spezielle Leistung für einen speziellen Preis.« Und er berechnete ihnen einen Dollar.

Das war letzte Woche gewesen. Sie hatten bis heute Morgen, bis zu ihrem Geburtstag, damit gewartet, einander die Medaillons zu überreichen. Auf der Kante des Eisenbetts mit dem geschwungenen Kopfende sitzend, die langen Zöpfe noch ganz zerzaust vom Schlafen, bewunderten sie ihre Geschenke, den einzigen echten Schmuck, den sie beide besaßen. Leah hatte Annies Medaillon auf ein rosa Satinband gefädelt, Annie für Leah ein leuchtendes Rot gewählt. Feierlich legten sie sich, während sie einstimmig »Herzlichen Glückwunsch« sagten, gegenseitig die Medaillons um den Hals. Und dann umarmten sie sich.

In dem Moment fiel Leah etwas ein. »Bilder. Wir sollten Bilder von uns reinstecken. Heute Abend, wenn wir nach Coney fahren, suchen wir uns einen Fotografen.«

Annie strahlte. »Oh Leah, wie extrav-extrav... – Ach du liebe Güte, ich habe vergessen, wie es heißt.«

»Extravagant«, ergänzte Leah. »Was soll’s? Heute ist unser Geburtstag.«

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein, kam rüttelnd zum Stehen, und der Schaffner rief: »Coney Island! Endstation!« Als ob das den Leuten gesagt werden musste! Alle strömten hinaus in Richtung Treppe, die zur Surf Avenue führte. Dort würde das nächtliche Abenteuer beginnen.

»Also«, meinte Leah, während sie sich vorsichtig die steilen Stufen hinab ihren Weg bahnten, »wer sind wir heute Abend?«

»Sag du, Leah. Du hast immer so gute Ideen.«

»Okeydokey. Wir sind neunzehn, wir sind seit acht, nein, neun Jahren in Amerika, und wir sind...« Sie hielt inne bei dem Versuch, sich den am schicksten klingenden Beruf auszudenken, der glaubhaft wäre, »...wir sind Telefonistinnen. Nein, warte. Wir sind Buchhalterinnen. Bei einer Versicherung.« Ihre Englischlehrerin bei der Alliance war Buchhalterin bei einer Versicherung, daher wusste sie, dass das eine gute Stellung für eine gebildete Frau war. Was sie, so gelobte sie sich jeden Abend inbrünstig, auch sein würde... was sie sein würden. Sie und Annie. Gebildete Frauen, niemandem verpflichtet.

Auf der Straße schüttelten sie ihre Röcke aus und vergewisserten sich, dass ihre großen Hüte sicher an ihren Pompadourrollen befestigt waren. Es war ein warmer Abend, sodass sie beide Sommerkleider trugen, Annie ein hellblaues, Leah ein weißes. Die Röcke wurden neuerdings immer praktischer, und Gott sei Dank wurde nicht mehr erwartet, dass man sich die Hüften polsterte. Trotzdem musste sich eine Frau nach wie vor in ein Korsett schnüren. Eines Tages würden sie etwas erfinden, das einem nicht ganz den Atem nahm, wie es Korsetts taten. Aber was sollten sie machen? Das Gibson-Girl mit der Wespentaille und dem runden Busen war zurzeit das Ideal, und die einzige Möglichkeit, so auszusehen, war die, ein Korsett zu tragen.

Nachdem sie sich gegenseitig begutachtet hatten, erklärten sie sich für wunderschön, dann waren sie startbereit.

»Denk dran, nach einem Fotografen Ausschau zu halten«, sagte Leah. Das sollte ein Witz sein. Man konnte heutzutage keine zwei Ecken weit gehen, ohne auf einen Straßenfotografen samt Ausrüstung zu stoßen, der einen zu sich bat und eine Erinnerung für die Ewigkeit versprach.

Da entdeckte Leah ihn auch schon: einen jungen Mann mit dichtem, geschwungenem Schnauzbart und blitzenden Augen, ein gut aussehender Typ, der vor seiner winzigen Bude stand und rief: »Lassen Sie sich fotografieren, Ma’am. Lassen Sie Ihre Begleiterin fotografieren, Sir. Nur ein Vierteldollar, zwei Momentchen, und Sie haben eine Erinnerung, die Sie in den Händen halten und jederzeit betrachten können.«

Als er sah, dass Annie und Leah näher kamen, verstärkte sich sein Lächeln, und er trat mit einer tiefen Verbeugung auf sie zu. »Ah, nicht eine, sondern zwei schöne Damen... meine Gebete wurden erhört.«

Annie errötete und wäre weitergeeilt. Sobald ein Mann sie unverhohlen anschaute oder direkt ansprach, zitterte sie vor Verlegenheit. Doch Leah hielt sie am Arm fest. Ihr gefiel sein Äußeres, und vielleicht würde er, wenn sie ihm ein strahlendes Lächeln schenkte, den Preis senken.

»Und was sind das für Gebete, Sir?«, fragte sie, legte den Kopf zur Seite und warf ihm unter den Wimpern hervor einen schrägen Blick zu, der, wie sie wusste, die Jungs verrückt machte.

»Nun, Bilder machen zu können, die es wert sind, gerahmt und hier vor meinem Laden ausgestellt zu werden... um aller Welt zu zeigen, was für ein guter Fotograf ich bin.« Er senkte die Stimme. »Aber ich muss Ihnen die Wahrheit sagen, meine Damen. So gut ich auch bin, kann ich doch aus einem Schweineohr kein Seidentäschchen machen... Ich brauche Ihre schönen Gesichter vor meiner Kamera, um schöne Bilder zu machen.« Er verdrehte die Augen und küsste seine Fingerspitzen. »Wenn ich Ihre reizenden Porträts hier ausstelle, auf diesem Stück schwarzen Samt, werden die Leute mir nur so zuströmen und verlangen, dass ich auch von ihnen ein Foto mache. Sie sehen also...«

»Ja?«

»Sie sehen also, ich muss Sie fotografieren, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Ich verstehe«, sagte sie mit gespielter Ernsthaftigkeit. »Dann geben Sie uns die Bilder umsonst, wenn wir Ihnen diesen Gefallen tun?«

Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Ich wünschte, das könnte ich. Aber hören Sie, ich mache von Ihnen beiden ein Foto, zwei zum Preis von einem, wie wär’s? Könnte irgendetwas liebreizender sein – außer Ihre blitzenden dunklen Augen?«

Es überraschte Leah nicht, dass er mit ihr flirtete, und sie willigte rasch ein, bevor er seine Meinung änderte. Als er Annie bedeutete, als Erste Platz zu nehmen und sie dabei »blonde Maid« nannte, dachte sie, Annies Gesicht würde in Flammen aufgehen. Aber er war nett. Er merkte, dass Annie nicht der Typ war, der seine Witzeleien erwidern konnte, und ging sanfter, vorsichtiger mit ihr um, nannte sie Ma’am und sagte »bitte«, wenn er sie aufforderte, den Kopf zur Seite zu legen oder zu lächeln. Trotzdem sprach er so zu ihr, dass jede Frau errötet wäre, verglich die Farbe ihres Haars mit Flachs und sagte, ihre hellen Augen erinnerten ihn an Bachwasser. An Annies Miene und ihren irgendwie glasigen, weit aufgerissenen Augen und der Art und Weise, wie sie über seine unerhörten Komplimente kicherte, erkannte Leah, dass ihre Freundin auf den Kerl hereinfiel, auf seine Masche reinfiel.

Ach, Annie, dachte sie, wenn ich nicht auf dich aufpassen würde, würdest du dich bei diesem Mann sicher zum Narren machen, stimmt’s? Eigentlich konnte sie Annie keinen Vorwurf machen. Er war ein rechter Charmeur mit seinem flüchtigen Lächeln, den funkelnden Augen und stets dem richtigen Wort auf der Zunge.

»Und nun... Schneewittchen mit den kirschroten Lippen und den Haaren, glänzend wie...« Aha, jetzt war sie dran. Nun, sie würde er nicht einwickeln. Eine Menge Männer flirteten mit ihr; einigen wenigen hatte sie sogar einen keuschen Kuss oder zwei gestattet.

Und, einmal erst, als sie knapp vierzehn war, hatte sie einen Vorgeschmack dessen erlebt, was sie wirklich wollten.

Es war ihre erste Stelle. Zwölf Stunden am Tag klebte sie Federn auf Damenhüte, und einmal monatlich half sie dem Chef, seine Rechnungen zu bezahlen, denn der Trottel konnte weder lesen noch schreiben. Wenn er etwas unterschreiben musste, ließ er sie in seinem winzigen Büro am Schreibtisch Platz nehmen und stellte sich dicht hinter sie – zu dicht. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Dann drückte sie ihm den Federhalter in die Hand und führte seine Hand mit der ihren, damit er seinen Namen schreiben konnte. Diesen Namen würde sie ihr Leben lang nicht vergessen. Irving Moscow.

Eines Tages, als sie sich vom Stuhl erhob, packte er sie, drehte sie zu sich um und fing an, sie zu begrapschen und seltsam zu reden, sodass sie sich unwohl fühlte und Angst bekam. Dann drängte er sie gegen die Wand und küsste sie, ein schrecklicher, nasser Kuss.

Aber sie biss ihn in seine eklige Zunge und er schrie, als ob er ermordet würde. Dann befahl er ihr zu verschwinden. Innerlich war sie in Panik, weil sie fürchtete, er würde ihr kein Zeugnis geben. Doch zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich sagen: »Ach ja? Nun, ich kündige! Ich würde nicht eine Minute länger hier arbeiten! Und des Weiteren werde ich wohl an all Ihre Kunden schreiben und ihnen mitteilen, dass Sie ein Dummkopf sind, der nie Lesen und Schreiben gelernt hat!«

»Wenn du das tust, dann...« Er hielt inne, das Gesicht von der Farbe einer Pflaume. Und all ihre Befürchtungen verschwanden. Er hatte Angst vor ihr. Vor ihr! Er wusste nicht einmal mehr, was er sagen sollte.

Aber sie! »Sie werden nichts tun, Sie böser alter Mann. Sie sind zu dumm, sich etwas einfallen zu lassen. Geben Sie mir sofort meinen Lohn!«

»Du kriegst nichts, meine liebe junge Klugschwätzerin. Von mir kriegst du nichts!«

»Meinen Lohn, oder ich schreibe die Briefe. Und wenn Ihre Kunden Ihnen schreiben, um Ihnen mitzuteilen, dass sie mit Ihnen keine Geschäfte mehr machen wollen, werden Sie das nicht einmal erfahren, weil Sie so dumm sind! Ich werde... ich werde es sogar den Huren erzählen! Dann kaufen die auch nicht mehr bei Ihnen!«

Da erbleichte Moscow. Er war dumm, wurde ihr klar. Er hatte sie jeden Freitag zum Brooklyn Navy Yard, dem Marinehafen, geschickt und gedacht, sie wisse nicht, auf wen sie dort traf. Leah trug immer sechs Hutschachteln über den Schultern – jede mit einer sorgfältig aufgerollten Reiherfeder darin – und übergab sie an eine Frau namens Lil. Leah fand schnell heraus, dass sie ins Rotlichtviertel lieferte. Lil, die eine der Prostituierten war, erzählte es ihr.

Anscheinend hatte sie den alten Irving Moscow mit dem drohenden Verlust eines sehr lukrativen Geschäfts in Angst und Schrecken versetzt, denn innerhalb einer Minute hatte er die Geldkassette aufgeschlossen und zählte ihr die Dollarscheine vor. Drei Dollar, ein Wochenlohn. Dann, während sie ihn anstarrte, gab er ihr widerwillig noch drei. Blutgeld.

Sie ging hinaus in dem Wissen, dass Worte Macht bedeuteten, echte Macht. Und sie wusste noch etwas: dass in ihren Blicken Macht lag, etwas, das Männer dazu bringen konnte, sich töricht zu verhalten. Beide Überlegungen verbannte sie in ihren Hinterkopf. Wer wusste, wann sie sie brauchen konnte?

Unterdessen vergeudete sie ihre Zeit nicht mit Straßenfotografen, auch wenn sie noch so gut aussahen und schlagfertig waren. Egal, was für charmante Komplimente sie machten. Sie beantwortete seine Fragen – Gott, steckte der voller Fragen –, indem sie ihm die Flunkereien auftischte, auf die Annie und sie sich geeinigt hatten. Er glaubte ihr. Warum auch nicht? Sie wusste, dass sie wie neunzehn aussah, nicht wie sechzehn. Und warum sollte man ihr und Annie in ihren hübschen Kleidern und neuen Schuhen nicht die Buchhalterinnen abnehmen?

Als sie jedoch auf dem Stuhl saß und er ihr Gesicht berührte, um ihr zu zeigen, wie sie den Kopf halten sollte, verspürte sie ein Kribbeln auf der Haut. Sie musste dagegen ankämpfen, sich nicht vor seiner Berührung zurückzuziehen. Und als er murmelte: »Eine Haut wie Seide«, presste sie nur die Lippen aufeinander und befahl ihrem Herzen, mit dem Gehüpfe aufzuhören.

Er verschwand unter dem schwarzen Tuch, fuhr aber fort zu reden. »Und wie heißen Sie, meine Damen? Ich heiße Lazarus, Joe Lazarus.«

Leah hatte nicht vor, ihm die Befriedigung einer Antwort zu verschaffen, aber zu ihrem Erstaunen legte Annie los. »Sie heißt Leah Vogel und ich heiße Annie Bernstein.«

Wenig später kam er unter dem Tuch hervor. »Ich wusste es. Ihre Namen passen zu Ihnen. Bernstein. Vogel. Sie funkeln so golden wie Bernstein...« Woraufhin Annies Gesicht sich alarmierend rötete. »Und Sie... Sie erinnern mich an einen Vogel, bereit fortzufliegen, wenn ich zu nahe komme.«

Was für eine Frechheit! Er hatte ja Recht, aber... nun, Leah wollte nichts davon hören. Dennoch, als er ihren Blick auffing und ein Lächeln um seine Lippen zuckte, konnte sie einfach nicht anders. Sie brach in Gelächter aus. Er war ein Teufel! Sie sollte sich besser in Acht nehmen vor ihm. »Sind Sie fertig mit mir, Mr. Lazarus?« Sehr kühl und korrekt.

»Mit Ihnen werde ich nie fertig sein, Miss Vogel.« Sehr leise und anzüglich.

Sie schaute schnell beiseite in der Hoffnung, dass sie nicht errötete. »Das tun Sie also«, sagte sie, um das Gespräch wieder in sachlichere Bahnen zu lenken, »um Ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Auf Coney? Nur an den Wochenenden. Ich mache Fotos von den Einwanderern in der City und arbeite für einen Verlag, New World Books. Er ist sehr progressiv. Er will nicht nur hübsche Bilder von glücklichen Familien, er will, dass ich in die Slums gehe und zeige, wie es wirklich ist. Dann langen die dicken Bonzen zur Abwechslung vielleicht mal in ihre dicken Brieftaschen und sorgen dafür, dass brave Menschen, deren einzige Schuld es ist, dass sie arm sind und neu im Land, nicht verhungern! – Verzeihen Sie mir, meine Damen, manchmal lasse ich mich hinreißen.« In ganz anderem Ton fügte er hinzu: »Ich habe Ihre Bilder in fünf Minuten fertig. Wenn Sie mir Ihre Medaillons geben, kann ich sie auch für Sie reinstecken.«

Er klang plötzlich ganz geschäftsmäßig, und Leah war enttäuscht. Was er sagte, hatte ihr gefallen, und sie hätte gern mehr gehört. Sie mochte Männer mit klaren Meinungen. Fast hätte sie den Mund geöffnet, um ihm zu beichten, dass sie in Wahrheit keine Buchhalterinnen waren, sondern nur Näherinnen in der Triangle Shirtwaist Factory, und dass sie wussten, wie es war, kaum genug zum Essen zu haben. Aber warum dachte sie so? Was bedeutete er ihr? Nichts. Trotzdem, es wäre vielleicht interessant gewesen, eine Diskussion mit diesem Joe Lazarus zu führen. Vorhin hätte sie darauf gewettet, dass er mit seinem unbekümmerten Geplauder und der geckenhaften Kleidung nicht tiefgründiger war als eine Regenpfütze, doch er hatte sie getäuscht. Nun, wenn er nicht reden wollte, dann wollte sie auch nicht.

Also wandte sie sich Annie zu und schwatzte mit ihr, als ob er nicht vorhanden wäre. Und er ging mit ihren Medaillons in sein Kabäuschen.

»Oh, Leah, sieht er nicht gut aus?« Annies Gesicht war ganz rosig.

»Was ist los mit dir? Hast du Fieber?«

»Sag doch nicht so was. Ich dachte nur... na ja, er sieht gut aus, Leah, und er ist so nett.«

»Entschuldige, liebste Annie, ich wollte deine Gefühle nicht verletzen. Ja, er sieht sehr gut aus und hat ein flottes Mundwerk. Aber das gehört zum Geschäft, das weißt du doch. Hat nicht jeder Straßenhändler immer das Frischeste, das Süßeste, das Billigste, das Feinste? Na, siehst du. Ich würde ihn nicht ernst nehmen, Annie, das sage ich dir.«

»Ich bin nicht... ich dachte bloß...«

Ach du liebe Güte. Der Fotograf hatte es ihr wirklich angetan. Arme Annie, sie war unbeholfen beim Flirten und sie neigte dazu zu glauben, dass jeder meinte, was er sagte. Bei ihr, Gott segne sie, war es so. Sie war eine gute, liebe Person und Leah würde dafür sorgen, dass sie einen guten, lieben Mann fand, keinen attraktiven Herzensbrecher wie diesen. Leah drückte Annies Hand und sagte: »Ich kann’s gar nicht abwarten zu sehen, wie die Fotos geworden sind; du?«

Joe Lazarus hielt sein Versprechen. Nach wenigen Minuten tauchte er, von einem Ohr zum anderen grinsend, aus seiner Bude auf.

»Hier ist der Beweis, was die Kamera vermag – beim richtigen Motiv«, sagte er und schaute Leah in die Augen.

Mochte ihr Herz flattern wie ein eingesperrter Vogel! Sie würde es ignorieren. Sie würde er nicht einwickeln! Aber er bezirzte Annie, die ihn schwärmerisch anschaute, die Hände vor ihrem Herzen gefaltet.

»Dann sehen wir doch mal, ob Sie Recht haben«, konterte Leah. Er streckte ihnen die geöffneten Medaillons hin, jedes in einer Hand.

Schon beim ersten Blick musste sie einfach lächeln. Er war gut, kein Zweifel. Das war Annie, wie sie leibte und lebte, und sehr hübsch sah sie aus mit dem leichten Lächeln, das ihren Mund umspielte. Leah studierte ihr eigenes Foto. Sogar auf dem winzigen Bild wirkten ihre Augen herausfordernd. Er hatte sie eingefangen, tatsächlich! Selbst das kleine Grübchen rechts neben ihrem Mund... ja, und die Haarsträhnen, die immer entwischten und sich um ihre Schläfen und Ohren lockten. Er hatte versucht, sie dazu zu bringen, dass sie ihn richtig anlachte, doch dann hätte man ihren abgesplitterten Vorderzahn gesehen. Das brauchte sie nun wirklich nicht als Erinnerung.

»Das haben Sie gut gemacht, Mr. Lazarus.«

»Wie ich schon sagte, das Foto ist nur so gut wie das Motiv.«

»Und nun schulden wir Ihnen, glaube ich, fünfundzwanzig Cents.«

»Laufen Sie nicht so schnell weg. Wenn Sie hier stehen, sieht es aus, als liefen meine Geschäfte gut. Bleiben Sie, dann können Sie die Bilder umsonst haben.«

Es war verlockend. Sie war fasziniert von ihm. Doch heute war ihr Geburtstag, und sie hatten andere Pläne. »Nein, aber trotzdem danke. Wir werden zahlen wie jeder andere auch. Wir wollen rechtzeitig zu Feuer und Flammen, damit wir gute Plätze bekommen.«

Annie lobte die Fotos schüchtern und dankte ihm tausendmal; Leah musste sie praktisch fortzerren.

»Annie, Annie, hör mir zu«, sagte sie, während sie die Surf Avenue entlang auf den Luna Park zugingen. »Das macht er bei jedem Mädchen, das ein Bild bestellt. Glaub mir, es bedeutet nichts.«

Stur: »Bei uns war er anders. Und Leah, er ist so viel netter als die Jungen in der Nachbarschaft. Ein echter Yankee, und dann hat er auch noch sein eigenes Geschäft.«

»Ja, ja, ja... Ich will dir was sagen, Annie, meine Liebe, sie sind alle gleich! Aber«, fügte sie hinzu, als sie sah, dass ihre Freundin ein langes Gesicht machte, »vielleicht auch nicht, vielleicht auch nicht. Also, meinst du, wir sollen umkehren?«

»Nun...«, Annie dachte nach. »Nein, lieber nicht. Das wäre schrecklich dreist.«

»Ja, und wir wollen doch Feuer und Flammen sehen. Alle sagen, es sei so aufregend.«

»Aufregend«, wiederholte Annie. »Ich... ich weiß nicht, Leah...«

»Ach, Annie, es wird dir gut tun, es anzuschauen. Wirklich! Es wird dich stärken. Es ist alles nur gestellt und ich bin bei dir, und wenn du es gesehen hast, gehen vielleicht die Dämonen weg und du hast keine Albträume mehr.«

Als Annie nicht antwortete, nahm Leah das als Zustimmung. Sie beschleunigte ihren Schritt, zog die Freundin mit sich, und dann war er da: der Eingang zum Luna Park, glitzernd und funkelnd. Helle Lampen zeichneten die Umrisse der hohen Zwillingstürme zu beiden Seiten des riesigen Rundbogens nach. Unter einem gewaltigen Herzen mit der Ankündigung »Das Herz von Coney Island« stand in gigantischen Leuchtbuchstaben LUNA PARK. Durch riesige Bögen konnte man die Turmspitzen und Zwiebelkuppeln, die vor elektrischen Lichtern erglühten, und deren orangene, weiße und goldene Fahnen in der Meeresbrise wehten und knatterten, hoch in den abendlichen Himmel aufragen sehen.

Leah und Annie folgten der Prozession von Menschen, die in ihrem Sonntagsstaat an bunt gestrichenen Gebäuden vorbeischlenderten, die aussahen wie Schlösser in einem Märchenbuch. Da war der mächtige elektrische Turm mit seiner Anordnung von Fensterrosetten. Und die Drachenschlucht, und ein Stück weiter die erhöht liegende Promenade mit ihren übergroßen Entenköpfen und kunstvollen Rabatten. Auf der Lagune von Venedig trieben junge Leute, lachend und einander zurufend, in Booten dahin.

»Entschuldigen Sie, meine Damen.« Ein junger Mann mit karottenrotem Haar lüftete den Hut und verbeugte sich tief. »Ich heiße Nathan Goldman und dies ist mein Freund Harry Fink. Wir wären entzückt, wenn die jungen Damen uns auf einer Bootsfahrt begleiten würden. Was sagen Sie dazu? Wir sind wirklich ordentliche Kerle mit fester Arbeit. Ihre Mütter würden uns beide lieben.« Er lachte gutmütig.

Leah gefiel seine Art. Er wäre etwas für Annie; schade nur, dass er ein Auge auf sie geworfen hatte. Das sah sie. Sein Freund Harry war nicht ihr Geschmack, ein wenig zu dick. Und überhaupt, dieser Fotograf...

»Vielen Dank«, sagte sie mit ihrer vornehmsten Stimme. »Aber wir wollten Feuer und Flammen sehen.«

»Ach, das hatten wir auch vor. Dürfen wir Sie vielleicht begleiten?«

Rasch sagte Leah: »Gewiss. Das wäre nett. Meine Freundin Annie Bernstein nimmt Ihre Begleitung gern an.« Nun, das musste man ihm zugestehen; Nathan Goldman war enttäuscht, spielte jedoch mit. Er bot Annie seinen Arm und sagte sehr höflich, er sei entzückt. Während sie aus Venedig hinaus und an den japanischen Gärten mit ihren putzigen Buckelbrücken und Sonnenschirm tragenden Damen vorbeispazierten, lachte Leah über die Scherze, die Harry Fink erzählte. Er mochte nicht besonders hübsch sein, aber er war sehr witzig!

»Manchmal heuern sie mich dazu an, auf Hochzeitsgesellschaften komische Geschichten zu erzählen. Und ich lese all die Briefe von den Verwandten vor, die nicht kommen konnten... und ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Die meisten von ihnen können weder Englisch lesen noch schreiben, also denke ich sie mir aus!«

Als sie sich für ihre Eintrittskarten anstellten, bemerkte Harry Fink, dass Annie zurückblieb. »Was ist los?«

Leah zog ihn ein wenig zur Seite und sprach schnell und mit leiser Stimme. »Ihre ganze Familie kam bei einem Pogrom um. Die dreckigen Kosaken, es reichte ihnen nicht, alle zu ermorden, einen nach dem anderen, dann setzten sie das Haus auch noch mit einer Fackel in Brand!«

»Momsers!«

»Annie war noch klein und sie hatte im Getreidespeicher gespielt und versteckte sich dort. Aber sie sah das Ganze mit an. Sie sah, wie das Feuer ihr Haus verschlang und ihr Bett und ihre Mama und ihren Papa und ihre Geschwister... hu!« Leah schauderte.

»Ist es denn dann eine so gute Idee, dass sie sich das hier anguckt? Auch wenn niemand verletzt wird, ein echtes Feuer ist es doch, wissen Sie.«

»Ich habe mir gedacht, weil doch hier jeder gerettet wird, könnte es gut für sie sein, es zu sehen. Sie hat fürchterliche Träume deswegen... fürchterlich. Schreit im Schlaf und wacht schweißgebadet auf.«

»Die Ärmste.«

»Nun, ich sage Ihnen was, Mr. Fink. Annie steht mir nahe wie eine Schwester, vielleicht noch näher. Und ich fühle mit ihr. Aber ich stimme mit der Educational Alliance überein. Wachse oder geh unter. Wir haben alle schwere Zeiten erlebt. Was Annie passiert ist, ist schrecklich, aber was vorbei ist, ist vorbei. Sie kann es nicht ändern, deshalb sollte sie es lieber vergessen und mit ihrem Leben weitermachen. Wenn wir so klug sind, die Vergangenheit hinter uns zu lassen, sind wir die Zukunft dieses Landes. Wir sind diejenigen, die es schaffen werden.« Sie hielt inne, ein wenig außer Atem.

Er klatschte Beifall und grinste sie an. »Sie haben ja ein recht lockeres Mundwerk«, sagte er, doch es klang bewundernd. »Vielleicht könnten Sie sich damit was verdienen; wissen Sie, was ich meine? So, wie ich es tue.«

Leah lachte. »Wenn jemand daherkommen und mich dafür bezahlen würde, dass ich meine Meinung sage, glauben Sie mir, den Job nähme ich an!«

»Und wenn ich das Geld hätte, glauben Sie mir, ich würde Sie einstellen!«

Er war ein angenehmer junger Mann, dachte Leah, und hatte Humor. Und er mochte sie. Insgeheim taxierte sie ihn und zählte sich alles Gute an ihm auf. Doch vor ihren Augen tauchte immer wieder das schelmische Lächeln des Fotografen, dieses Joe Lazarus, auf. Himmel noch mal, sie war genau so schlimm wie Annie!

»Dann komme ich zu Ihnen, Mr. Fink, wenn ich je eine andere Arbeit brauche.« Sie sah, wie sein Gesicht lang wurde; gut, er hatte kapiert.

Die Schlange bewegte sich nur langsam, und endlich konnten sie ihre Karten kaufen und hineingehen. Annie warf Leah einen flehenden Blick zu, lächelte dann aber. Sie war sehr tapfer. Leah würde dafür sorgen, dass sie sich das nächste Mal die Straßen von Delhi anschauten – Annie liebte Elefanten und die Tänzerinnen und vor allem die Musik, die so klang wie die alten Juden bei ihren Gebeten. Seltsames Mädchen.

Sie drängten sich auf ihre Plätze gegenüber dem Gebäude, warteten, hielten den Atem an und schnappten dann nach Luft, als die Flammen aus den Fenstern schlugen, erst eine, dann noch eine und noch eine und noch eine. Dann – oh, Schreck! – erschienen Menschen an den lodernden Fenstern, schreiend und brüllend. Schließlich traf der Trupp der heldenhaften Feuerwehrleute mit Schläuchen, Äxten, glänzenden Jacken und Sprungtüchern ein. Mittlerweile schrie das gesamte Publikum zusammen mit den »Opfern«. Leah war aufgesprungen, ohne es zu merken, und rief: »Los doch! Spring! Schnell! Sie fangen dich auf!« Und sie sprangen, landeten unbeschadet in den Sprungtüchern. Die ganze Zeit über umklammerte Annie Leahs Hand so fest, dass sie fast das Blut herauspresste.

Als es vorbei war und sie beide vom vielen Schreien und Kreischen heiser waren, stellte Leah erleichtert fest, dass Annie rosig vor Aufregung war, nicht käsig bleich wie nach einem ihrer bösen Träume.

»Na, Annie, das war doch nicht so schlimm, oder?« Leah lächelte und rieb sich die Hand, die Annie gequetscht hatte.

»Nein, Leah.« Annie brachte sogar ein schwaches Lächeln zu Stande. »Es tut mir Leid, dass ich so albern bin.«

»Du bist nicht albern, liebe Annie. Du hast Schweres durchgemacht. Aber deswegen sind wir ja hier, du und ich, im Goldenen Land..., um uns ein neues Leben aufzubauen und das alte hinter uns zu lassen! Ja, wir wollen das alte wegwerfen wie ein abgetragenes Kleid, Annie. Es auf den Müll schmeißen und vergessen! Denk dran, ich bin ein Glückskind, und mein Glück färbt auf dich ab!« Sie strich mit ihrem Arm über Annies. »Fühlst du es schon?«

Annie kicherte und packte Leahs Arm, als die Menge hinter ihnen, begierig auf die nächste Attraktion, vorwärts drängte.

»Wo sind Nathan und sein Freund?«, fragte sie.

Leah schaute sich um, wenn auch nicht sehr aufmerksam. Ihr war es recht, wenn sie sie in der Menge verloren. Nette junge Männer, aber die Welt war voller netter junger Männer. »Kümmre dich nicht um sie«, sagte sie zu Annie. »Wenn sie wollen, finden sie uns schon wieder. Und es gibt noch so viel zu sehen!«

Überall waren die faszinierendsten Dinge: Frühgeburten, die in einer neuen Erfindung namens Brutkasten am Leben gehalten wurden; Hottentotten, echte Hottentotten, die in ihrem eigenen kleinen Dorf lebten; Kamele, Bären, Elefanten, »King«, das tauchende Pferd. Man konnte dem Untergang von Pompeji beiwohnen oder der großen Überschwemmung von Johnstown. Man konnte für den Rest seines Lebens jeden Samstagabend herkommen und würde doch nie alles sehen!

Plötzlich blieb Annie stehen. »Leah, Leah, sieh nur! Unsere Fotos! Er hat sie ausgestellt, damit jeder sie sehen kann!« Ihre Stimme bebte vor Erregung.

»Was? Ach so.« Leah verbarg ihr Lächeln. Geschickt hatte Annie sie zu Joe Lazarus’ Stand zurückgeführt. Und dort, viel größer als die in ihren Medaillons, waren ihre Bilder, ihres und Annies. Der Fotograf selbst war jedoch nirgends zu sehen. Sie hatte gehofft... egal. Er sah gut aus, hatte aber etwas von einem Klugschwätzer, war zu sehr von sich überzeugt. Joe Lazarus und sie waren sich zu ähnlich, um miteinander auszukommen.

»Oh, ja, sehr hübsch«, sagte Leah und begann weiterzugehen. Sie wusste, dass auch Annie gern ein, zwei Minuten geblieben wäre, um abzuwarten, ob Joe Lazarus aus seinem Kabäuschen treten würde. Doch sie hatten Besseres zu tun, sie und Annie. Entschlossen kehrte sie ihren Fotos den Rücken zu und ging in Richtung Loop-the-Loop, wobei sie redete wie ein Wasserfall.

»Guck dich um, Annie! In der alten Heimat, hast du dir da auch nur einen Augenblick träumen lassen, dass du eines Tages an einem Ort bist wie diesem, an Palästen und Lagunen vorbeispazierst und eine Million elektrische Lichter siehst?« Sie lachte. »Aber hier sind wir, Annie, du und ich! Hier sind wir, in diesem wundervollen Land, wo es ganz gleich ist, was du bist. Hier kannst du ein Jude sein, ein Goj, sogar ein... ein Hottentotte! Wen kümmert’s? Man arbeitet hart, man spart sein Geld, man macht eine Ausbildung und es gibt niemanden, der vorschreibt, wie weit man es bringen darf! Wir werden aufs Seminar gehen! Wir sind jung. Wir sehen gut aus. Wir sind beide intelligent. He, Annie, die Welt gehört uns! Irgendwann, bald, werden wir Lehrerinnen sein, Annie, ganze machers, Damen von Rang!«

Von ihren eigenen Worten mitgerissen, warf Leah den Kopf in den Nacken und lachte vor lauter Freude, und nach einer Minute fiel Annie ein. Sie packten sich an den Händen und fingen ohne ein Wort an, herumzuwirbeln wie kleine Mädchen, bis ihnen schwindlig war und sie aufhören mussten.

»Weißt du was, Annie?«, sagte Leah japsend. »Lass uns jedes Jahr an unserem Geburtstag wieder hierher kommen, nach Coney Island...«

»Zum Luna Park...«

»Zum Luna Park. Und mit dem Loop-the-Loop fahren und mit dem Karussell...«

»Und Fotos von uns machen lassen!«

»Ja, ja, und Fotos von uns machen lassen, jedes Jahr, auch noch, wenn wir verhutzelte alte Damen sind und an Krücken schlurfen!«

Das war ein Bild, das sie zum Lachen brachte. Und so standen sie da, an ihrem sechzehnten Geburtstag, hielten sich an den Händen und lachten wie verrückt, weil das Leben so voller Verheißung war!

Die Patriarchin

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