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März 1911

Es war ein normaler Samstag, Feierabend um Viertel vor fünf. Wie üblich ließ sich Levinsky reichlich Zeit damit, die Lohntüten auszuhändigen und die Glocke zu läuten. Annie war heute besonders aufgedreht, bemerkte Leah, und sie vermutete, dass das an Jack Kamenetsky lag. Er war der Bäcker, den Annie bei der Tanzveranstaltung am letzten Samstag kennen gelernt hatte. Jack zeigte deutliches Interesse, und Annie fand ihn wunderbar. Natürlich, so sagte sich Leah immer wieder, würde Annie ihn nicht gleich heiraten. Als sie fragte, meinte Annie: »Ich bin noch nicht mal sicher, ob ich ihn liebe, Leah, wie soll ich da ans Heiraten denken?« Aber sie konnte Leah nicht in die Augen schauen und errötete tief.

Annie war sehr glücklich an diesem Nachmittag und summte eine kleine Melodie, als sie sich zum Gehen fertig machten. Leah war wahrscheinlich die Einzige, die darin »Oh, You Beautiful Doll« erkannte. Sie hoffte, Annie würde keine Narrischkeit begehen; ach, Unsinn!

Es war Zeit, dass sie sich aufmachten, hier herauszukommen, für immer. Sie hatte es gründlich satt, beinahe jeden Tag ihres Lebens an der Maschine zu sitzen, vor und zurück zu schaukeln, gedankenlos zu nähen, was man ihr reichte. Allmählich kam sie sich selbst wie eine Maschine vor!

Doch darüber dachte sie nicht gerne nach, deshalb stimmte sie in das Lied ein: »... you great big beautiful doll...« Leah trällerte, als wären sie und Annie auf dem Gipfel der Welt.

»Seit ihr euch diesen Edison-Phonographen gekauft habt, müsst ihr ständig damit angeben, wie viele Lieder ihr kennt!«, rief Angie und Leah winkte ihr zu, ohne zu antworten. Auch die Spötteleien hatte sie satt, die sich gegen sie und Annie richteten, wenn sie etwas Besonderes unternahmen, um ihr Leben zu verschönern. Wie konnten die anderen sich mit dieser öden, zermürbenden, armseligen Existenz zufrieden geben?

Es hing ihr zum Hals heraus, das ewige Einerlei: der langsame Gänsemarsch durch die schmale Tür, während Morris ihre Taschen durchwühlte, der Ansturm auf den Umkleideraum, um sich den Mantel zu schnappen, und dann die Treppen hinunter und auf die Straße.

Heute jedoch wurde plötzlich alles auf grässliche Weise anders. Ein prasselndes Geräusch ertönte, dann furchtbare Hitze, und aus dem siebten Stock drangen Schreie nach oben. Als sie den Treppenabsatz erreichten, schlugen ihnen Flammen entgegen, züngelnd und gierig, als wären sie lebendig.

Leah hatte nur einen Gedanken: raus hier, weg! »Komm, Annie! So schnell du kannst! Halt durch und renne

Das Geländer fassend, raste Leah nach unten, vorbei an der Hitze und dem Feuer, stolpernd und rutschend, sich dazu zwingend, nicht hinzufallen. Sie war allein auf der Treppe, das Herz hämmerte in ihrer Brust, ihren Ohren, ihrem Mund. Wo waren die anderen?

Sie war sich so sicher gewesen, dass Annie direkt hinter ihr war; Annie folgte ihr stets bereitwillig. Aber dann wurde ihr klar, dass hinter ihr keine Schritte klangen. Schwer atmend, am ganzen Körper zitternd, blieb sie stehen und drehte sich um.

»Annie! Annie!« Keine Antwort. Keine Annie. Natürlich nicht! Sie war ein Dummkopf. Annie war vermutlich zurückgeschreckt, als sie die hungrigen Flammen gesehen hatte. Doch wo war sie? Wieso antwortete sie nicht?

»Annie! Annie!«, schrie Leah aus vollem Hals. »Annie, antworte mir!« Nichts.

Sie musste sie holen. Sie raffte ihre Röcke und begann, die Stufen wieder hochzurennen, zwei, drei auf einmal. Plötzlich stand eine massige Gestalt vor ihr. Benommen schaute sie auf. Ein Feuerwehrmann in Ölkleidung und mit großem Hut. »Sie können da nicht rauf.«

»Meine Freundin!«, schrie sie außer sich. »Meine Freundin! Ich muss sie holen!«

»Sie können sie nicht holen, Miss. Und wenn Sie am Leben bleiben wollen, dann kehren Sie um, laufen Sie runter!« Als sie zögerte, gab er ihr einen kleinen Schubs. »Runter!«, bellte er.

Also lief sie schluchzend hinunter. Sie hatte keine Wahl. Sie kam an anderen Frauen vorbei, drängte sie beiseite. Unten blieb sie stehen und sah plötzlich, dass ihr Mantel an einer Seite versengt war. Wann war das passiert?

Im Erdgeschoss standen Feuerwehrleute, die den Ausgang blockierten und warteten, während ein paar andere die Treppe heruntergerannt kamen. Das Haar einer Frau hatte Feuer gefangen und als sie stehen blieb, erstickten die anderen es mit Händen und Schals. Der Geruch war grauenhaft. Dann öffneten die Feuerwehrleute die Tür, brachten sie auf die Straße und sagten: »Gehen Sie nach Hause. Gehen Sie nach Hause.«

Leah trat auf den Bürgersteig. Dort wartete sie und hielt alle an, die aus dem Gebäude oder an ihr vorbeikamen. »Kennen Sie Annie Bernstein? Haben Sie ein großes blondes Mädchen mit blauem Mantel und glänzenden braunen Stiefeln gesehen?«

Diese Stiefel hatte Annie gestern Abend eigenhändig poliert. Sie liebte schöne Schuhe und sie hatte nach Kräften mit einem Straßenhändler gefeilscht, damit sie sie für fünfzig Cents bekam. Sie hatte hübsche kleine Füße und war stolz auf sie. Schuhe und Stiefel waren ihre große Schwäche, ihre einzige Schwäche vielleicht. Leah fing an zu weinen wie ein Kind, das sich verlaufen hat. Wo war sie? Annie! Annie!

»Meine Freundin Annie Bernstein! Habt ihr sie gesehen? Ist sie unverletzt?« Doch jeder schüttelte entweder den Kopf oder ging an ihr vorüber, als ob er sie nicht hörte.

Da hob um sie herum ein seltsames Geräusch an, wie ein melancholischer Wind. Alle schauten von der Straße nach oben, und auch sie guckte hoch. Und schrie auf. Es war zu schrecklich. Mädchen kletterten hinaus auf die Fenstersimse, vorsichtig ihre Röcke schürzend. Dann sprangen sie, sich an den Händen haltend, unter lauten Schreien, eine nach der anderen, zu zweit, aus Fenstern, aus denen tosende Flammen schlugen. Nicht Annie, bitte, lieber Gott, nicht Annie! Der Gedanke an Annie, gelähmt vor Angst inmitten der Hitze und dem gierigen Brausen, presste Leah das Herz zusammen. Sie hörte eine Stimme schreien: »Nein! Nein! Nein!« Es war ihre eigene.

Das Donk... Donk... Donk, mit dem die Körper auf dem Bürgersteig aufschlugen, war furchtbar. Wie kam es, dass man weiche Körper hören konnte, wenn es doch rings umher knallte und kreischte und brüllte und das Feuer mit lautem Prasseln alles, was ihm im Weg stand, verschlang? Und dann hörte das schreckliche Geräusch auf, weil jetzt Körper lautlos auf Körper fielen. Sie wusste nicht, ob sie noch mehr aushalten konnte. Ein saurer Geschmack stieg ihr in den Mund und sie hätte sich am liebsten übergeben. Doch das durfte sie nicht; sie musste Annie finden.

Feuerwehrleute rannten zu dem Berg aus Leichen, hoben sie auf, trugen sie über die Straße und stapelten sie ordentlich. Ordentlich. Die Vorstellung ließ sie erschauern, aber sie lief hinüber, schob suchend tote Hände und tote Füße beiseite. Sie blickte in Gesichter ohne Anzeichen einer Gewalttat, doch auch ohne Leben, und hielt nach Annies Gesicht Ausschau. Sie begann, an den schlaffen, schweren Körpern zu rütteln und versuchte, sie umzudrehen. Plötzlich schrie sie auf und zog die Hand weg, denn da bewegte sich etwas. Dann schalt sie sich: kein Gespenst, kein Geist, sondern ein Wunder. Jemand lebte noch! Mit aller Kraft schob sie einen trägen Körper beiseite und entdeckte darunter ein dunkelhaariges Mädchen mit einem blauen Fleck auf der Wange und verschmutztem Kleid, aber atmend. »Miss«, sagte Leah und bückte sich. »Alles wird gut. Ich hole Hilfe.«

Die Lippen des Mädchens bewegten sich, doch nur ein ganz schwaches Flüstern drang hervor. Leah beugte sich so tief hinab, dass ihr Ohr an ihrem Mund lag, aber sie verstand nichts.

Sie erhob sich, rannte zu einem Polizisten und berichtete ihm, da drüben sei ein Mädchen, das noch lebe. »Gott sei Dank! Henry! Hol eine Trage und beeil dich!«

Ihr Herz hämmerte vor Hoffnung. Vielleicht war auch Annie noch am Leben. Wenn Gott dieses Mädchen retten konnte, konnte Er gewiss auch Annie Bernstein retten. Annie war hinter ihr zurückgeblieben. War sie gesprungen? Hätte sie Annie nicht springen sehen und ihre leuchtend rote Boa erkannt? Doch womöglich hatte sie die Boa fallen lassen, sie verloren. Vielleicht war sie auf einem anderen Weg herausgekommen. Vielleicht suchte sie sogar eben jetzt, ihren Namen rufend, in der Menge nach ihr. Ja, jede Minute würde Leah sie rufen hören.

Aber dann sah sie den Stiefel, den vertrauten, rotbraunen Knöpfstiefel, erst kürzlich neu besohlt, und ein schmerzhaftes Schluchzen entriss sich ihrer Kehle. Und daneben der andere Fuß ohne Stiefel, der braune Strumpf sauber gestopft... Annie. Andere... lagen... auf ihr. Ächzend wühlte sich Leah durch die Körper, schiebend und stoßend, mit wiedergefundener Kraft, zitternd und bebend, aber entschlossen.

Endlich lag Annie vor ihr. Sie sah so... so normal aus, gerade so, als ob sie schliefe. Vielleicht lebte sie ja noch. Sie musste! »Annie, warte hier! Annie, beweg dich nicht!« Leah stand auf und rannte, durch die Pfützen platschend, zu einer Gruppe Männer in der Nähe. Einige von ihnen waren Feuerwehrleute. Sie zupfte den Nächstbesten am Ärmel. »Kommen Sie! Kommen Sie! Rasch! Ein Mädchen ist am Leben!«

Sie eilten hinter ihr her, trotzdem war sie schneller. Sie stand da, die Knöchel ihrer Finger im Mund, weinend und betend, während sie Annie aus der Menge der Leichen hoben. Als sie sie auf den Boden legten, sah Leah, dass Annies Hemdbluse zerrissen war und... ihr Medaillon war weg! Wer würde eine Tote bestehlen, wer nur?

Sie fiel auf die Knie und tastete unter Annies Röcken nach dem kleinen Geldbeutel, den Annie in ihren Unterrock genäht hatte. Verschwunden!

Sie wandte sich den Männern zu und versuchte, mit schwacher Stimme zu rufen. »Sie haben ihr das Geld weggenommen! Und ihr Medaillon! Ich muss das Medaillon finden! Sie wird sich schrecklich aufregen!«

Starke Arme zogen sie hoch, stellten sie auf die Füße und eine freundliche Stimme sagte: »Es tut mir sehr Leid, Miss, das muss jemand getan haben, als wir sie hierher legten.«

»Sie kriegt einen Anfall! Wer stiehlt denn einem armen Mädchen das Geld, das Medaillon? Das Geld könnte sie vielleicht verschmerzen, aber das Medaillon müssen wir zurückhaben!«

»Miss...« Starke Hände versuchten, sie von der Stelle zu bewegen; sie rührte sich nicht. »Bitte, Miss. Ihre Freundin wird ihr Medaillon nicht vermissen. Es tut mir sehr Leid, aber Ihre Freundin ist... tot.«

»Hören Sie, ich habe genau dasselbe! Wir haben sie zusammen gekauft! Es ist sehr wichtig! Sehr wichtig!«

»Passen Sie auf, Miss«, sagte ein Polizist. »Wir räumen die Gegend jetzt. Es könnte sein, dass wir das Halsband Ihrer Freundin finden. Das ist eine furchtbare Sache, furchtbar, furchtbar. Aber Sie müssen jetzt heimgehen. Haben Sie jemanden, der Sie begleitet?«

Da traf es sie wie eine Faust in die Brust. Annie war tot. Annie war tot. Sie hatte niemanden, der sie begleitete; genauer gesagt, würde sie nie wieder jemanden haben, der sie heimbegleitete, nie wieder. Sie sackte auf die Knie und begann, das Gesicht in den Händen, erneut zu weinen.

Wenn sie aufschaute, so gelobte sie sich, würde sie nicht Annies Gesicht sehen, mit offenem Mund, die Augen geschlossen; es würde nicht Annies Körper sein, kaum verletzt, kaum versengt, aber still, so still. Alles würde sich als böser Traum erweisen. Doch als sie den Kopf von den Händen hob, war um sie herum alles schrecklich unverändert. Die Löschfahrzeuge, schnaubend und rasselnd wie riesige Ungeheuer, der grässliche Gestank nach verbranntem Fleisch und verbrannten Haaren, die Geräusche verkohlter Balken, die krachend in das Asch Building stürzten, die Geräusche auf dem Boden aufschlagender Körper. Die Körper! Ihre Freundinnen, Frauen, mit denen sie Tag für Tag zusammenarbeitete... Angie, Celia, Fanny, Rosa, Dorothy... Annie, lieber Gott, Annie!

Eine Hitzewelle erfasste ihren Körper. Sie dachte, sie würde ohnmächtig umkippen. Sie wollte ohnmächtig werden; sie wollte sterben. Sie warf den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund und jammerte. Nicht Annie! Nicht Annie! Sie hatten noch so viel vor, so vieles zu besprechen, so viele Pläne! Im Herbst wollten sie umziehen!

»Was soll ich nur tun?«, schluchzte Leah. »Was soll ich anfangen ohne dich, Annie? Oh, Annie! Bitte!«

Alle glaubten, Leah halte Annie am Gängelband. Doch sie wussten nicht, wie sehr sie Annie brauchte, ihr Lächeln und ihren Glauben an sie, ihr totales Vertrauen, ihre Zärtlichkeit. Oh, Gott! Nachts, wenn Leah ihren schlimmsten Traum hatte – der, in dem ihre Mutter sie anlächelte und ihr die Hand entgegenstreckte und dann, als Leah gerade danach greifen wollte, zu verblassen begann, bis da nichts mehr war, überhaupt nichts –, fuhr sie mit einem Aufschrei im Bett hoch, in kalten Schweiß gebadet. Und dann nahm Annie sie in die Arme und wiegte sie wie ein Baby, strich ihr übers Haar und sang ihr ein russisches Gutenachtlied vor. Oh, wie wunderschön das Leah immer geklungen hatte. Und jetzt würde sie nie wieder diese Wärme, diesen Trost verspüren! Sie hatte ihre beste Freundin verloren, ihre Familie; sie hatte alles verloren!

Neben Annies Leichnam kniend, weinte Leah laut, vor Kummer zitternd, die Brust gepeinigt von Schmerz. Es kam ihr vor wie das Ende der Welt. Es war das Ende der Welt!

»Entschuldigen Sie, Miss, aber Sie müssen hier weg.« Der Polizist stand immer noch neben ihr. Sie hatte seine Existenz ganz vergessen. Er half ihr auf die Füße, und sie schwankte unsicher.

In dem Moment sah sie den Fotografen, eine dunkle Silhouette vor den Flammen und dem spritzenden Wasser, die Kamera in seinen Händen. Er machte Aufnahmen von ihr, erkannte sie. Er wagte es, seine verdammte Nase in ihr Leid zu stecken und seinen verdammten Fotoapparat darauf zu richten, um Bilder zu machen, die Fremde beglotzen konnten! Oh, Gott, der momser, der Mistkerl!

Ein Schrei entriss sich ihrem Innersten, ein Aufheulen der Wut und Empörung. Die Beine, die sich eben noch schlaff wie Spültücher angefühlt hatten, trugen sie plötzlich in Windeseile direkt auf ihn zu. Sie würde ihn umbringen. Sie würde ihm die Augen auskratzen. Sie würde ihn eigenhändig in Stücke reißen!

Sie stürzte sich auf ihn, schlug mit ihren Fäusten auf ihn ein, Geräusche hervorkreischend, keine Wörter, während ihr Tränen übers Gesicht liefen. Sie griff nach seinem Haar, stieß ihm dabei den Hut vom Kopf, und zog mit aller Kraft daran. Aber er war stärker als sie. Er packte ihre Hände, schob sie weg von sich und rief: »Genug, genug, es reicht! Ist ja gut. Ich habe keine Fotos von Ihnen gemacht! Ich habe keine Fotos von Ihnen gemacht. Hören Sie? Hören Sie? Ich habe Sie nicht fotografiert!«

Ganz plötzlich ging ihr die Puste aus, und sie erschlaffte. Er legte die Arme um sie, damit sie nicht fiel. Er sagte zu ihr, es sei alles in Ordnung, alles würde wieder gut. Sie schüttelte den Kopf und weinte. Nichts würde gut werden; nichts war in Ordnung; alles war zu Ende, sie hatte nichts!

Halb lief er mit ihr, halb schleppte er sie um die Ecke, wo es ein bisschen ruhiger war, und setzte sie auf die Eingangsstufen eines Gebäudes. Er ließ sich neben ihr nieder und hielt sie im Arm, während sie an der rauen Wolle seines Mantels schluchzte.

Endlich war sie im Stande aufzuhören, und sie löste sich von ihm. »Danke«, stieß sie hervor, die Stimme erstickt von Tränen. »Ich... es war zu viel...«

»Ich verstehe. Glauben Sie mir. Hier...« Er wischte ihr die Augen und das Gesicht entschlossen, aber sanft mit seinem Taschentuch ab. Sie war dankbar dafür, dass sie nicht nachdenken oder sich bewegen oder etwas tun musste. Sie ließ zu, dass er ihr die Haare aus den Wangen strich und den obersten Knopf ihres Mantels zuknöpfte, denn sie hatte angefangen zu zittern und zu bibbern, als säße sie in furchtbar eisiger Zugluft. Ihre Zähne klapperten.

Wieder hielt er sie, bis das Frösteln vorbei war; dann erst war sie in der Lage, ihm ins Gesicht zu blicken.

»Ach, es ist der kleine Vogel, der so rasch fortflog und nie zurückgekehrt ist«, sagte er. »Es tut mir schrecklich Leid, Miss Vogel. War es... Ihre Freundin? Das blonde Mädchen?«

Die Nennung ihres Namens brachte sie mit einem Ruck wieder zu Bewusstsein, und nun schaute sie ihn richtig an. Joe Lazarus. Was für ein grausamer Gott, ihn ihr zuzuführen und ihr gleichzeitig Annie zu nehmen. Ihre Hand flog an ihren Hals, um sich zu vergewissern, dass das Band noch da war. Wenigstens war ihr Medaillon in Sicherheit und mit ihm das einzige Bild von Annie, das sie hatte... je haben würde.

»Ja. Meine Freundin. Annie.« Das war alles, was sie herausbrachte. Die Tränen, von denen sie geglaubt hatte, dass sie versiegt seien, flossen erneut. »Sie ist tot! Sie ist tot!«

»Oh, mein Gott, es tut mir so Leid für Sie! Es tut mir so Leid...«

»Sie haben ihr Geld gestohlen! Sie haben ihr das Medaillon vom Hals gerissen!«

»Diese momsers! Keine Sorge, ich werde danach Ausschau halten. Sie können auf mich zählen. Ich gehe in alle Pfandhäuser. Wenn es irgendwo ist, werde ich es finden. Ich beschaffe es Ihnen, das schwöre ich.«

»Ich muss zu ihr! Sie braucht jemanden, der...« Ihre Kehle wurde eng, aber sie zwang sich, weiterzusprechen, »...der sie beerdigt. Und ich bin alles an Familie, was sie hat!« Leah mühte sich, auf die Beine zu kommen. Ihr Kopf drehte sich.

»Wir tun es gemeinsam, Miss Vogel.«

»Ich und... Sie?«

»Ich... und Sie. Ja. Also, pscht, denken Sie nicht mehr daran.«

Er breitete die Arme aus und ohne zu überlegen, verkroch sie sich darin, laut schluchzend wie ein Kind, sich sicher fühlend in seiner Umarmung, gewärmt von seinem Körper und getröstet von seiner Stärke.

Die Patriarchin

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