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September 1917

Leahs Schmerz war hart und kalt wie ein Eisblock, der mitten in ihrer Brust steckte, ihr Blut abkühlte und sie betäubte. Und doch, obwohl sie innerlich tot war, konnte sie ihren Tränen, die salzig und heiß waren wie das Leben, keinen Einhalt gebieten. Sie stand in der Küche und heulte wie ein Kind, unfähig, aufzuhören.

Nur verschwommen nahm sie Joe wahr, der vor ihr kniete, die Arme um ihre Beine geschlungen, die Stimme flehend.

»Leah, Liebling, bitte. Du wusstest, dass ich mich melden würde. Das haben wir doch schon alles besprochen. Kannst du nicht stolz auf mich sein? Alle anderen Frauen sind stolz auf ihre Soldaten.« Er erhob sich, wischte sich die Knie ab und grinste. »Und stell dir vor, wie gut ich in Uniform aussehen werde.«

Aus weiter Ferne hörte sie seine Stimme und merkte, dass er versuchte, sie zum Lachen zu bringen. Es war ihr egal. Ihr war übel vor Wut und Angst.

»Nein! Schon wieder verlässt du mich! Nein! Ich ertrage es nicht!«

»Was meinst du mit ›schon wieder‹? Ich habe dich noch nie verlassen. Wenn du über diesen Freie-Liebe-Blödsinn in der Vergangenheit redest – du weißt, dass damit Schluss ist, das war nur...! Leah, um Gottes willen, komm zu dir! Hör wenigstens auf zu weinen, du wirst ja noch krank davon!«

Woher kamen all die Tränen? In einem kleinen Winkel ihres Kopfes sah sie sich selbst, wie sie sich fest umschlang, ihre Nägel in die zarte Haut ihrer Oberarme gegraben. Den Schmerz kaum spürend fragte sie sich, ob die Schrammen wohl bluten würden, und warum sie weinte, als ob ihr das Herz brechen müsste... Und dann große Leere, und sie wurde ohnmächtig.

Als sie die Augen aufmachte, lag sie zusammengerollt auf der Couch. Es waren nur wenige Momente vergangen. Die Herbstsonne schien ebenso schräg durchs Fenster wie vorhin – als Joe lachend hereingekommen war und gerufen hatte: »Es geht los! Endlich kämpfen wir gegen die Hunnen!«

Leah stöhnte und drehte den Kopf, ihr Gesicht an den kratzigen Tweed gedrückt, die Augen wieder geschlossen.

»Leah. Schatz.« Joes Stimme, zärtlich und zaghaft.

»Wie konntest du? Wie konntest du?« Ihre Tränen begannen erneut zu fließen.

»Leah, wie konnte ich nicht? Wir haben Krieg, mein Liebling, da ist es die Pflicht jedes gesunden Mannes mitzumachen.«

Mühsam stemmte sie sich hoch, gestärkt durch ihre aufbrandende Wut. »Die Männer werden doch einberufen. Wenn das geschieht, ist es früh genug! Du hättest warten können!«

»Warten? Bist du meschugge? Wenn ich warte, ist alles vorbei, bevor ich auch nur da bin!«

Sie sah, dass er auf der äußersten Kante der Couch balancierte. Ein rascher Schubs von ihr und er purzelte zu Boden und schrie überrascht: »He!«

»Du bist wirklich egoistisch, Joe! Du hast solche Angst, dass du den ›Spaß‹ verpasst! Was reizt das männliche Geschlecht überhaupt so daran, mit Gewehren zu schießen und mit Bajonetten auf Menschen einzustechen? Und nicht ein Gedanke an mich! Was ist mit mir? Was soll ich tun, während du dich in Frankreich rumtreibst und Krieg spielst? Wie soll ich mich allein durchschlagen?«

Joe erhob sich vom Fußboden und passte dabei auf, dass er ihr nicht zu nahe kam. Darüber musste sie beinahe lachen, aber das würde sie auf keinen Fall tun. Was für eine Unverfrorenheit von ihm! Loszuziehen und gegen den Kaiser zu kämpfen aus keinem anderen Grund, als aus Abenteuerlust!

»Was verändert sich dadurch?«, wollte sie wissen. »Was bezweckt Krieg, außer dass Menschen sterben?«

Leah wusste, dass sie in der Minderheit war. Es schien, dass die ganze Stadt New York im Kriegstaumel war – sogar das Theater, sogar das Kabarett. Auf den Straßen, in den Tanzsälen und auf der Bühne hörte man nichts als Kriegslieder. Sie lösten stürmischen Beifall aus, und die Leute sprangen auf und jubelten. Aber Leah Vogel nicht, sie nicht. Wenn sie tanzen gingen, bat sie immer um »Oh, Johnny, Oh« oder »For Me and My Gal« oder »Darktown Strutter’s Ball«. Etwas Flottes, bei dem man mit den Füßen auf den Boden klopfen oder mitsingen konnte; etwas, das das Gerede und die Schlagzeilen über den Kaiser und die Schützengräben und die Dardanellen übertönte.

Joe sagte ernst: »Leah, pass auf. Wir haben das doch schon im Juni besprochen – entsinnst du dich? –, als ich mich zum Wehrdienst verpflichtet habe.«

»Ob ich mich entsinne? Wie könnte ich das vergessen? Wie konntest du so was tun, ohne es mir auch nur zu erzählen

»Friede, Weib! Was geschehen ist, ist geschehen. Wo bleibt dein Patriotismus? Du weißt doch, auf dem Plakat steht: ›Onkel Sam braucht dich.‹ Nun, ich habe in das strenge, väterliche Gesicht geschaut und dann habe ich salutiert und gesagt: ›Ja, Sir.‹ Du willst doch nicht, dass ich ein Drückeberger bin, Leah, oder?« Er legte den Kopf schräg und bedachte sie mit dem schiefen Grinsen, das sie so liebte, in der Hoffnung, sie zu einem Lächeln zu bewegen.

»Das wohl nicht. Aber trotzdem... einfach loszuziehen und mich allein zu lassen, eine hilflose Frau...«

Er brach in Gelächter aus. »Du und hilflos? Seit wann? Du besuchst die schlimmsten Viertel von New York, allein und völlig furchtlos. Als ich Einwände hatte, weil du in diesen Slum unter der Brücke wolltest, was hast du da zu mir gesagt, he? Du hast gesagt, es gehe dir ausgezeichnet, danke, und nur, weil du eine Frau seist, bedeute das nicht, dass du ein Schwächling bist. Na, stimmt’s? Hast du das gesagt?«

Ja, natürlich hatte sie genau das zu ihm gesagt. Doch dies war etwas anderes. Er verließ sie, um Soldat zu spielen. Er ging, nicht irgendwann, nicht eines Tages in dunkler Zukunft, sondern morgen. Morgen. Sie war wütend, aber vor allem hatte sie Angst. Wovor, wusste sie nicht genau, sie wusste bloß, dass sie seit dem fünften Juni, jenem schrecklichen Tag, an dem Hunderttausende von jungen Männern in einem Anfall von Patriotismus in die Armee eingetreten waren, einen dicken Knoten im Magen hatte. Und Joe Lazarus war einer von ihnen.

»Ich weiß, dass ich gesagt habe, ich sei kein Schwächling«, meinte sie jetzt. »Ich verstehe nur nicht, wie du so leichtfertig mit einem Pfeifen auf den Lippen losziehen kannst. Machst du dir denn nichts aus mir? Wirst du... mich denn nicht vermissen? Liebst du mich denn nicht?«

Sie sah, wie ein gerührter Ausdruck in seine Augen trat. Er kam herüber, setzte sich neben sie aufs Sofa und nahm sie in die Arme.

»Du weißt, wie sehr ich dich liebe.«

»Aber Joe, es könnte sein, dass du... verwundest wirst.«

Er küsste ihr Ohrläppchen und dann die weiche Wölbung unter ihrem Ohr, was sie erschauern ließ. »Sei nicht albern. Wenn die Amerikaner erst einmal da sind, ist der Krieg in einem Monat vorbei! Das sagt jeder.« Seine Lippen bewegten sich auf ihren Hals zu.

»Woher willst du das wissen? Und wenn nicht?«, beharrte sie.

»Jeder sagt das...« Seine Stimme war heiser geworden, seine Küsse wurden ungestümer. Er zog an den Bändern ihrer Bluse. »Ich werde im Handumdrehen wieder hier sein... süße Leah...«

Aber was ist, wenn du nicht zurückkehrst? Der Gedanke kam ungebeten und ließ sie frösteln, sodass sie ihn rasch beiseite schob. Und dann, zum ersten Mal seit Jahren, blitzte in ihrem Kopf ein Bild von ihrer Mutter auf. Es war unheimlich: Sie erkannte jedes Detail, bis zu den goldenen Ohrgehängen, dem blauen Hut mit den Blumen, den traurigen, mit Tränen gefüllten Augen der Mutter. Sie konnte sogar Maiglöckchen riechen. Ihre Mutter liebte sie. Sie hatte das total vergessen; doch plötzlich stieg ihr der Duft deutlich in die Nase und erfüllte sie mit Bestürzung.

Sie musste sich abrupt in Joes Armen bewegt haben; er hielt in seinen Liebkosungen inne und schob sie ein Stück von sich weg, um sie anzuschauen. »Leah? Was ist los?«

»Nichts. Nichts. Irgendwas.« Sie versuchte angestrengt, das Bild ihrer Mutter zurückzuholen, doch es gelang ihr nicht. »Egal, jetzt ist es weg.«

Sie hob ihm das Gesicht entgegen und bot ihm ihre Lippen dar, weil sie ihm jetzt unbedingt nahe sein wollte, so nahe wie möglich.

Die Sonne strahlte über Brooklyn. Leah bahnte sich ihren Weg entlang der Schienen des Bahnhofs Flatbush Avenue, passierte Waggon um Waggon und spähte auf der Suche nach Joe hinauf zu den Fenstern. Seine Gruppe hatte heute Morgen den East River überquert, um den Zug zu nehmen, der sie bis nach Yaphank auf Long Island bringen sollte, ins Grundausbildungslager Camp Upton.

»Da bilden sie uns aus«, hatte er ihr erklärt. »Sie zeigen uns, wie man schießt und das Bajonett benutzt.« Seine Stimme war voller Eifer und Vorfreude gewesen; wie sie das verabscheute.

Eine lange Schlange von Frauen aller Altersstufen, Schwestern, Müttern, Ehefrauen, Geliebten, schob sich zentimeterweise voran, jede mit dem Kopf im Nacken, um an den Fenstern nach ihren Soldaten Ausschau zu halten. Es herrschte aufgeregtes Stimmengewirr, hin und wieder wurde auch ein Name gerufen: Hank! Johnny! Alfred! Tom!

Wo war Joe? Die Sonne war so hell, dass sie blendete, und als Leah zu den Köpfen aufschaute, die sich aus den Fenstern reckten, sahen alle jungen Männer gleich aus, alle in Uniform, alle mit kurz geschorenem Haar.

Aber da war er. Das dichte schwarze Haar, das schelmische Grinsen, die Lachfältchen um die Augen waren unverkennbar. Joe! Ihr quoll das Herz über. Sie verspürte immer noch dieselbe Erregung wie damals, als sie ihn zum ersten Mal erblickt hatte. Neunzehnhundertzehn. Vor sieben Jahren erst? Wie lange her ihr das jetzt vorkam, wie eine andere Welt und eine andere Leah.

»Joe! Joe! Hier bin ich!«

Er grinste, als er sie entdeckte. »Wie könnte ich dich übersehen?«, rief er und schob Kopf und Schultern aus dem Fenster. »Das hübscheste Mädchen vor Ort!«

»Ich hatte Angst, ich würde dich nicht finden!«

»Das wusste ich.« Sie guckte mit theatralischer Geste in die Runde, und er fragte: »Was ist? Was ist?«

»Ich war mir sicher, deine Mama und dein Papa und deine Schwester würden hier sein, um dir Auf Wiedersehen zu sagen. Was ist passiert? Haben sie rausgekriegt, dass ich auch hier bin, und beschlossen, ohne Lebewohl auszukommen?«

Er errötete. »Nun... genau genommen...«

»Genau genommen was, Joe?« Und dann wusste sie Bescheid. Gestern Abend, an ihrem letzten gemeinsamen Abend, war er für einige Stunden weg gewesen. »Ich laufe durch die Straßen und verabschiede mich von allem«, hatte er gesagt. »Du verstehst schon.« Er nahm sogar seine Lieblingskamera mit. Natürlich, hatte sie gedacht, der Künstler sagt seiner Welt Auf Wiedersehen. Sie sah fast schon die Fotogeschichte auf der illustrierten Seite der Times zur Wochenmitte vor sich.

Doch jetzt wusste sie es besser. In Wahrheit war er in die Bronx gefahren, um vor Mama und Papa einen Kniefall zu machen und mit ihnen zusammen so zu tun, als ob sie nicht existierte, nicht sein Leben teilte, eigentlich ein Niemand war! Er hatte versprochen, sie nicht zu besuchen, solange sie sich weigerten, Leah zu empfangen.

»Du hast dein Versprechen nicht gehalten! Ich glaube dir nichts mehr!«

»Leah! Sie sind meine Eltern!«

»Sie hassen mich! Nicht mal jetzt, wo du gehst und mich allein lässt, ändern sie sich! Das finde ich herzlos! Ich finde dich herzlos! Und wenn ich denke, dass ich geglaubt habe, du liebst mich.«

»Leah! Bitte sei mir nicht böse. Natürlich liebe ich dich. Aber meine Mutter... mein Vater... meine Schwester... wie hätte ich ins Ausbildungslager fahren können, ohne mich zu verabschieden?«

»Du hättest sagen können: ›Kommt zu mir nach Hause, wo auch Leah lebt, dort werde ich euch Auf Wiedersehen sagen.‹ Wir sind seit Jahren zusammen, Joe. Sie sollten sich mittlerweile daran gewöhnt haben.«

»O Gott! Stell mich nicht vor die Wahl! Das ist schrecklich für mich. Pass auf, Leah, mit der Zeit werden sie einlenken, du wirst schon sehen. Und, hör mal, bitte bleib in Kontakt mit Zelda! Sie vergöttert dich. Tust du das? Bitte?«

»Mit Zelda ja. Okay. Aber nur mit Zelda.«

»Braves Mädchen! Aber mich wirst du eher sehen. Sobald sie uns den ersten Urlaub geben, komme ich zu dir zurückgerannt!«

Laut zischend schoss Dampf unter dem Waggon hervor, gefolgt von dem unverkennbaren Rasseln eines Zugs, der zur Abfahrt bereit ist. Dann von vorn Tuten, Glockengebimmel und noch mehr zischender Dampf. O Gott, es ging los! Er fuhr!

»Joe! Joe!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte sich nach seiner Hand; er lehnte sich soweit heraus, wie er konnte; aber da waren so viele andere Männer, die versuchten, sich aus dem kleinen Fenster zu drängen, die versuchten, Lebewohl zu sagen. Sie sprang hoch; fast berührten sich ihre ausgestreckten Finger, doch sie erreichten sich nicht ganz.

»Joe!«, rief sie, als sich der Zug in Bewegung setzte und sie mit Mühe die Tränen zurückhielt, die ihr in die Augen schössen. Sie wollte ihm noch etwas sagen, aber sie wusste nicht, was.

Und dann war sie wieder da: die Erinnerung. Doch diesmal erinnerte sie sich an alles.

Sie ist sieben Jahre alt, hat ihr allerbestes Kleid an, einen hübschen blauen Mantel mit dazu passender Mütze und hält die Hand ihrer Mutter. Ihre Mutter trägt ebenfalls einen blauen Mantel und auf dem Kopf einen blauen Hut mit schönen Blumen. Ihre Ziegenlederhandschuhe fühlen sich glitschig an und nicht echt, nicht warm wie Haut. Sie mag es nicht, wie sich die Handschuhe anfühlen, aber als sie versucht, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf sich zu lenken, gelingt ihr das nicht. Ihre Mutter guckt woandershin; ihr Kopf ist abgewandt. Leah kann nur die Rundung einer Wange sehen, die Nasenspitze, die dunklen Haarsträhnen, die sich aus den Kämmen gelöst haben.

»Mama! Mama! Wohin gehen wir?«

Es kommt keine Antwort, und sie marschieren weiter – ein bisschen zu schnell für Leahs kurze Beine. Sie ist gezwungen zu traben, um Schritt zu halten, und nach einer Weile beginnt sie zu wimmern. Doch die Mutter achtet nicht auf sie, zerrt sie nur immer weiter, sagt nur immer wieder: »Beeil dich, beeil dich.«

Wohin bringt ihre Mama sie und wieso trägt sie ihr Schabbes-Kleid? Als sie sich heute Morgen erkundigte, schüttelte Mama bloß den Kopf und sagte: »Du stellt zu viele Fragen.«

»Mama, gehen wir jetzt zu Papa?« Wo ist Papa? Wo ist ihr Papa? Sie hat Angst, aber ihr fehlen die Worte, um zu beschreiben, wovor. Sie ist müde und außer Atem. Ihr Arm tut weh an der Stelle, wo Mama an ihm zieht, und sie muss aufs Klo.

»Mama, sehe ich jetzt meinen Papa?«

Sie bleiben stehen und Mamas Gesicht wendet sich ihr zu, um sie anzuschauen. Ein wütendes Gesicht. »Sei still, du dummes Kind! Nein, du siehst deinen Papa jetzt nicht!«

Zu ihrem Entsetzen fängt ihre Mutter an zu weinen, hier, mitten auf der Straße. Menschen halten im Gehen inne und drehen sich um, um sie anzustarren.

Ihre Mutter blickt um sich, das Gesicht vor Wut verzerrt, und schreit sie auf Jiddisch an. Nicht auf Englisch. Ihre Mutter hat nie mehr als ein paar Worte Englisch gelernt.

»Was ist los mit euch? Habt ihr noch nie eine Frau weinen sehen? Habt ihr nichts Besseres zu tun, als auf der Straße zu stehen und mich anzuglotzen? Wenn ihr schon kein rachmoness mit mir habt, denkt wenigstens an das Kind!«

Es ist alles fest in Leahs Gedächtnis eingeprägt: die Hosenbeine und Stiefel und langen Röcke, die staubigen Säume, die hochhackigen Schuhe, der Rüschenrand eines zusammengeklappten Sonnenschirms. Leute, die still stehen und dann schließlich weitergehen. Ein Zupfen an ihrem Ärmel und wieder marschieren sie dahin, und sie muss hüpfen, um mitzuhalten.

Sie hat Schwierigkeiten, die lange Treppe hinaufzusteigen, und zu guter Letzt nimmt Mama sie auf den Arm und trägt sie nach oben. Dann umschlingt Mama sie ganz fest und flüstert ihr ins Ohr: »Ich verspreche dir, schejfele, eines Tages wirst du mich verstehen. Ich habe dich lieb, hörst du? Du bist mein Schatz, hörst du?« Dabei drückt sie sie an sich und bedeckt ihre Wange mit Küssen und Tränen, Tränen und Küssen.

Sie setzt Leah ab, hockt sich neben sie, rückt ihre Mütze gerade, steckt eine entwischte Locke darunter, richtet den Mantel, zieht ihr die Baumwollstrümpfe hoch.

»Sehr hübsch. Du bist ein sehr hübsches Mädchen, Leah. Denk immer daran. Hübsch und aufgeweckt. Du wirst in der Welt vorankommen, wenn du lernst, nie einem Mann zu vertrauen.«

»Wo sind wir?«

»Auf dem Bahnhof. An der Haltestelle One hundred twenty-fifth Street.« Eine Bahnstation. Leah ist schon mal mit der Bahn gefahren. Sie klappert und rattert sehr laut, und man wird darin hin und her gerüttelt.

»Fahren wir mit dem Zug, Mama?«

Ihre Mutter antwortet nicht. Sie heftet etwas an Leahs Mantel, ein dickes, zusammengefaltetes Stück Papier, und stellt sich dann hin und nimmt wieder Leahs Hand. »Nur ein paar Minuten, schejfele, nur noch ein paar Minuten.« Erneut hat sie das Gesicht irgendwohin gewendet, wohin Leahs Blick ihr nicht folgen kann.

Eine Frau mit karottenroten Haaren, heller Haut und kleinen orangeroten Punkten im ganzen Gesicht kommt die Treppe herauf und schaut sich, ein wenig außer Atem, um. Als sie Leah sieht, lächelt sie. Leah erwidert das Lächeln nicht; die Frau ist eine Fremde.

»Mrs. Vogel? Mrs. Bella Vogel? Ich bin Lucy Jacobs vom hebräischen...«

»Ich weiß, ich weiß, wer Sie sind. Gut. Hier. Das ist Leah. Sie ist sieben. Ich kann nicht...«

Leah hört, wie die Stimme ihrer Mutter bricht, spürt, wie ihre Mutter ihre Hand loslässt, und dann, ohne Vorwarnung, läuft Mama los, läuft fort, fort von der Frau, fort von ihr.

»Mama!« Sie muss rennen und sie einholen. Aber die Frau hält sie fest.

»Sei vorsichtig, Kleine! Da kommt ein Zug!«

Das Rauch ausstoßende, Funken sprühende Ungeheuer kreischt und quietscht und donnert, als es auf sie zugerast kommt. Leah schreckt zurück, drängt sich an Lucy Jacobs, die sie hochhebt. Hoch oben auf Lucy Jacobs’ Armen kann Leah Mama noch einmal sehen und nachdem der Zug zitternd zum Stillstand gekommen ist, steigt Mama ein und verschwindet.

Leah ruft immer wieder nach ihrer Mama. Sogar als der Zug den Bahnhof schon verlassen hat, schreit sie ihr, auf Lucy Jacobs’ Armen strampelnd, hinterher, sie möge zurückkommen; komm zurück, geh nicht weg, wart auf mich, wart auf mich, komm zurück...

Aber Mama wartete nicht. Und Mama kam nicht zurück. Und hier bin ich wieder, dachte Leah, gegen ihre Tränen ankämpfend, und schaue zu, wie ein Zug mir jemand wegnimmt, den ich liebe. Ich habe sie nie mehr gesehen, nie mehr. Werde ich Joe je wiedersehen? Meinen geliebten Joe? O Gott! Im nächsten Moment war sein Waggon um eine Kurve gefahren, aus den offenen Fenstern wuchsen Dutzende von winkenden Armen und winzigen amerikanischen Flaggen. Leah trabte nebenher und ließ jetzt die Tränen über ihr Gesicht laufen. Aber sie entdeckte ihn nicht; sie hatte keine Ahnung, welcher Arm seiner war. Der Zug legte rasch Tempo zu, und sie geriet außer Atem. Sie musste aufhören zu rennen. Ihre Brust hob und senkte sich, ihr Herz klopfte schwer und schmerzhaft hinter ihren Rippen. Sie blieb stehen und beobachtete hilflos, wie der Zug immer kleiner wurde, sich unerbittlich von ihr entfernte, bis er schließlich ein kleiner dunkler Punkt war und dann außer Sichtweite verschwand.

Er war fort, fort. Er hatte sie wirklich verlassen. Und er hatte sie mit einer Lüge verlassen. Er hatte gesagt: »Stell mich nicht vor die Wahl«, doch ihr schien, dass er seine Wahl bereits getroffen hatte. Seine grässlichen Eltern, die nichts von ihm begriffen, waren ihm wichtiger als sie. War das ihr Schicksal, dass jeder, den sie liebte, sie verließ? Nun, dann würde sie irgendwie lernen müssen, ohne Liebe zu leben.

Sie kehrte dem Bahnhof den Rücken, um nach Hause zu gehen. Nein, beschloss sie, nicht nach Hause. Ins Büro. Jim würde da sein; das war er fast immer. Jim konnte manchmal ein großer Tyrann sein. Er war ständig pleite und mit seinen Rechnungen im Rückstand und stur wie ein Esel. Aber heute vermittelte ihr der Gedanke an ihn, wie er da in seinem Drehstuhl saß – massig, zuverlässig, unerschütterlich, unveränderlich, auf dem Stummel einer Zigarre kauend –, ein wunderbar warmes Gefühl der Sicherheit.

Sie würde ins Büro gehen, und sie würden reden und reden. Vielleicht sogar über Joe. Jim würde ihr sagen, sie verhalte sich wie eine typische Frau, albern, romantisch und unrealistisch. »Du bist doch nicht so, Leah, du kannst dich über dein unglückseliges Geschlecht erheben.« Und irgendwie würde er am Schluss dafür sorgen, dass es ihr besser ging; das tat er immer.

Die Patriarchin

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