Читать книгу Die Patriarchin - Marcia Rose - Страница 13

10

Оглавление

August 1918

Es war so heiß! Die Haustür von Barrow Street Nr. 35 stand offen, in der Hoffnung auf ein bisschen frische Luft. Pech gehabt! Obwohl in der Morgenzeitung gestanden hatte »nicht so warm wie gestern, leicht windig«, fühlte es sich ganz genauso heiß an wie gestern – und am Tag davor und am Tag davor. Was den Wind anging, so existierte er nicht. An keinem Baum bewegte sich ein Blatt. August in New York war ein Albtraum: schwül, heiß, feucht und drückend, sodass es einem vorkam, als ob man durchs Wasser gezogen würde. Besonders sie, besonders jetzt, schwanger und unbeholfen, wie sie war.

Wie anders das Wetter in jener Nacht gewesen war, in der Joe und sie dieses Baby gezeugt hatten! Silvester, frostig und schneereich, ihr Atem wie zwei Federn im Lampenlicht, als sie von einer Feier bei Bertolotti’s nach Hause schlenderten. Sie hatten sich so glücklich gefühlt, weil Joe Wochenendurlaub gekriegt hatte und sie das Jahr 1917 gemeinsam verabschieden konnten. Joe zog sie enger an sich und sagte: »Oh, mein Gott, Leah, mir ist gerade ein schrecklicher Gedanke gekommen!«

Erschrocken blieb sie stehen. »Was ist denn?«

»Wir haben uns seit vorigem Jahr nicht mehr geliebt!« Und er lachte über ihren Gesichtsausdruck.

Später, als sie auf dem Bett ineinander verschlungen waren, hatten seine Augen gelodert, waren seine Lippen vor Leidenschaft verzerrt. Kein Lachen. Die ganze Nacht lang wachten sie immer wieder auf und liebten sich. Am Morgen war sie wund und empfindlich und erschöpft; trotzdem wandten sie sich noch einmal leidenschaftlich einander zu. Als ob sie beide Angst hätten, dies könnte das allerletzte Mal sein. So liebten sich alle: als würden sie es nie wieder tun. Das lag am Krieg.

Und der Krieg entführte die Männer. Im März war Joe mit einem Truppentransporter abgefahren. Eine Blaskapelle spielte Märsche am Kai, der voll mit Frauen war, die winkten und weinten und der olivbraunen Masse von Männern hoch oben auf den Decks Kusshände zuwarfen. Leah hatte ein Lächeln aufgesetzt für den Fall, dass Joe sie sehen konnte, aber sie kämpfte die ganze Zeit gegen ihre morgendliche Übelkeit an und befahl dem Toast und dem Tee, die sie zum Frühstück heruntergewürgt hatte, in ihrem Magen zu bleiben. Der Arzt hatte ihr versichert, dass sich die Übelkeit bald geben würde. »Ich schätze, das hier ist auch so ein Silvesterbaby. Davon haben wir immer reichlich. Das ist der Sekt. Nun, am ersten April geht es Ihnen bestimmt schon viel besser.«

Ein Baby war das Letzte, was Leah sich wünschte, jetzt, da Joe jeden Moment nach Frankreich verschifft werden konnte; doch er schien sich darüber zu freuen. »Dann habe ich eine komplette Familie, zu der ich zurückkehren kann, Schatz, dich und ein hübsches kleines Mädchen, das genauso aussieht wie du.« Er hatte gelacht, als sie meinte: »Nicht, wenn deine Mutter ein Wörtchen mitzureden hat: Sie wünscht sich einen Jungen.«

»Nun«, sagte Joe, »sie hat aber kein Wörtchen mitzureden. Und sie wird das Kind auf jeden Fall lieben, ob Junge oder Mädchen, das verspreche ich dir.«

Eines war eingetroffen: Bis April hatte sich die allgegenwärtige Übelkeit verflüchtigt. Eine Zeit lang hatte sie sich sogar besser und energiegeladener gefühlt als je zuvor. Doch jetzt, im achten Monat, war das Kind ein schweres Gewicht, das auf ihre Blase drückte und ihren Rücken krümmte. Sie kam sich aufgebläht und unförmig vor und überhaupt nicht attraktiv.

Unansehnlich oder nicht, trotz Hitze und Feuchtigkeit rannte sie die Treppe hinunter. Sie konnte den vertrauten Umschlag von »Da drüben« ganz oben auf dem Stapel Post liegen sehen. Ein Brief von Joe! Das Herz wurde ihr leicht. Es würde ein Glückstag werden.

Das erste gute Zeichen war das Foto gewesen, das ihr heute Morgen auf der Bildseite der Times zur Wochenmitte ins Auge gefallen war. Es zeigte die Zweite Division, Joes Division, auf einer Straße in Frankreich. Männer zu Pferde begleiteten einen Armeezug mit Munition; und im Hintergrund wirbelte eine lange Doppelreihe Infanteristen beim Marschieren eine Staubwolke auf. Joes Division... vielleicht war er irgendwo auf diesem Bild, vielleicht war er einer jener gesichtslosen Männer ganz hinten. Wie die im Vordergrund lächelten! Joe lächelte bestimmt auch. Sämtliche Fotos der AEF zeigten grinsende, großspurige junge Männer, die wirkten, als hätten sie keinerlei Sorgen. Sie sahen aus, als wären sie auf dem Weg zu einer Party, nicht in eine Schlacht.

Vielleicht war Joe an dem Tag dabei gewesen, als der Fotograf die Szene aufgenommen hatte. Warte mal, was sollte das heißen, vielleicht? Sie war sich dessen sicher; sie hatte ihre Fingerspitze geküsst und das Foto damit berührt. Jedenfalls tröstete sie die Vorstellung.

Leah lächelte vor Vorfreude. Joes Briefe waren meistens lang, gespickt mit seinen Gedanken und Sehnsüchten, aber sie enthielten auch lebendige, anschauliche Schilderungen der französischen Landschaft und seiner Kameraden. Sie liebte seine Briefe. Wenn sie ihn schon nicht haben konnte, so hatte sie wenigstens die von ihm geschriebenen Worte! Jeder einzelne Brief war so oft und immer wieder gelesen worden, dass das Papier ganz dünn geworden war und einen merkwürdigen grauen Ton angenommen hatte. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie noch die Tinte auf den Seiten verwischen!

Sie umklammerte das kleine Bündel Post, legte ihre Hand auf das Geländer und schaute die Treppe hinauf. Sie schien endlos, so viele Stufen. Doch das lag nur daran, dass sie so schwerfällig und unbeweglich war. Das Kind, das sie trug, war riesig, oder es fühlte sich jedenfalls so an. Ihr Bauch war gigantisch, eine gewaltige, feste Masse, die sie vor sich herschieben musste; sie war ein Teil von ihr und doch etwas Separates. Es war sehr seltsam, aber ziemlich aufregend, vor allem, wenn das Kleine da drinnen zu treten und zu zappeln begann.

Die Aussicht, zwei lange Treppen bis zur Wohnung hinaufsteigen zu müssen, war dagegen entschieden nicht aufregend. In den letzten Wochen hatte es Tage gegeben, an denen sie gedacht hatte, sie würde nie oben ankommen. Die übliche Spätsommerhitze hatte eingesetzt und kauerte wie ein dampfendes, gleichmütiges Tier über der Stadt, feuchte Luft in die glühend heißen Straßen keuchend. Sie fand es anstrengend, sich zu bewegen oder zu atmen.

Aber ein Brief von Joe! Dafür würde sie mit Freuden den langen Anstieg auf sich nehmen. Manchmal, wenn Joe zu erschöpft war oder gelangweilt und alles satt hatte, schrieb er lange Passagen, in denen er schilderte, wie er sie nach seiner Rückkehr lieben würde. Dann saß sie da und spürte, wie es in ihre Lenden flutete, wie ihr geschwollenes Geschlecht pochte, Glut in ihr aufstieg. Es war so lange her! So lange! Sogar mit dem unbequemen Höcker, den sie vor sich hertrug, sogar mit dem wegen der gespannten Haut nach außen gestülpten Bauchnabel, sogar, als sie ihre Füße nicht mehr sehen konnte und nur noch in Kleider und Hemden für Dicke passte... trotzdem stöhnte und weinte sie manchmal vor Verlangen danach, ihn heiß und steif in sich eindringen zu fühlen. Wie sie ihn vermisste!

Langsam, ächzend vor Anstrengung, zog sie sich am Treppengeländer die Stufen hinauf. Als sie vor ihrer Tür stand, schnaufte sie, Schweiß floss aus ihren Achseln und unter ihrer Brust hervor. Sobald sie stehen blieb, fing das Kind in ihr an, sich zu drehen, zu strampeln und zu treten. Sie sah, wie es in ihrem geblähten Bauch pulsierte und klopfte; sie sah sogar, wie kleine Beulen hervorgestoßen wurden. Ellbogen? Füße? Sie wusste es nicht. Sie konnte es nicht abwarten, bis dieses Kind auf die Welt kam und sie in Ruhe ließ.

Sie trat in die Wohnung, nahm den japanischen Papierfächer, den sie auf dem Weg nach unten auf den Schreibtisch gelegt hatte, und begann, heftig damit zu wedeln. Im Kühlschrank war ein Krug Limonade. Sie schlurfte in die Küche, goss sich ein Glas ein und trug es ins Wohnzimmer, wobei sie das kalte Gefäß an ihren Nacken presste.

Sie setzte sich in den Schaukelstuhl und wartete darauf, dass das Treten und Stoßen aufhörte. »Ich hoffe, du benimmst dich besser, wenn du da bist«, sagte sie zu dem ungeborenen Baby. »Sonst kriegen wir Ärger miteinander.«

Es konnte nicht mehr lang dauern; der straff gespannte Bauch, der so lang auf ihren Körper gedrückt und sie nach Luft hatte ringen lassen, hatte sich verlagert. Der Arzt meinte, der Fötus habe sich gesenkt. In ein, zwei Wochen würden die Wehen einsetzen, schätzte er. Ihr konnte es nicht schnell genug gehen.

Sie nahm einen Schluck Limonade und öffnete dann ganz ganz langsam Joes Brief. Er war »Ende Juni« datiert und begann:

Meine liebste Leah und Baby. Während ich dies schreibe, sitze ich in dem Loch, das eine deutsche Granate vor kurzem in eine Gartenmauer geschlagen hat; um mich her Frühlingsduft. Frankreich ist ein wunderschönes Land; ich verstehe, warum die Fritzen es haben wollen. Es heißt, dass die Straßen, auf denen wir uns vorwärts bewegen, von den alten Römern erbaut wurden; kannst Du Dir das vorstellen? Es ist irgendwie seltsam, dort zu marschieren, wo schon Cäsars Legionen unterwegs waren, vor dem christlichen Zeitalter, und glaube mir, Leah, die Straßen sind beinahe noch so gut wie an dem Tag, als sie gebaut wurden. Denk nur: Im kleinen, alten New York gilt alles, was älter als ein halbes Jahr ist, als unmodern! Du fragst, ob ich Französisch übe, damit ich es Dir beibringen kann, wenn ich zurückkomme. Wir von der Zweiten kriegen nicht viel von den Franzmännern zu sehen, nur, wenn wir uns an ihnen vorbei nach Norden schleppen, um auf den Hunnen zu stoßen, während sie südwärts rennen. Ich glaube, ich habe Dir schon geschrieben, dass wir auf der Straße immer wieder abertausende von Flüchtlingen trafen, die alle schrien: »La guerre est finie!« Der Krieg ist aus! Du siehst, was für ein braver Junge ich bin; ich habe mich vergewissert, ob ich das Französische richtig buchstabiert habe, und man versicherte mir, es sei parfait (perfekt). Die neueste Geschichte ist die, dass die Erste Division auf dem Weg ins Schlachtfeld auf einen französischen General traf und Informationen aus ihm herausquetschen wollte. Es scheint, dass die einzige Antwort, die er hatte – auf alles, Leah – »je ne sais pas« war, »weiß nicht«. Und als sie ihn fragten: »Und wohin sind Sie jetzt unterwegs, General?«, lachte er und sagte: »La soupe!« Das, meine Süße, bedarf, glaube ich, keiner Übersetzung...

Leah legte den Brief in ihren Schoß und zwang sich, aus dem großen Bogenfenster zu schauen. Sie musste den Brief rationieren; sonst war er in wenigen Minuten verschlungen... und dann musste sie Tage, manchmal Wochen auf den nächsten warten. Nicht etwa, dass sie aufhörte zu leben, bis sie wieder von ihm hörte, keineswegs; sie hatte eine Menge zu tun. Sie arbeitete an einem Artikel für die Saturday Evening Post mit dem Titel »Die Zurückgelassenen«. Er beschäftigte sich mit den Frauen und Freundinnen und Müttern der neun Millionen Männer, die sich im letzten Frühjahr gemeinsam mit Joe Lazarus zum Wehrdienst verpflichtet hatten.

Als sie mit ihren Interviews anfing, hatte sie gedacht, es würde sich vor allem um traurige Geschichten sehnsuchtsvoller Ehefrauen handeln, die zu Hause saßen und Gemüse und Obst einmachten, um »den Kaiser einzumachen«, wie es auf den Plakaten hieß. Doch sie stellte etwas ganz anderes fest. Die meisten Frauen, mit denen sie redete, waren von patriotischer Inbrunst erfüllt. Ja, sie strickten für den Krieg und sie weckten ein und sie hielten gewissenhaft ihre fleischlosen Montage und gaslosen Sonntage ein, zu denen der Präsident aufgefordert hatte. Aber das war nicht alles. Viele von ihnen wollten dem Frauenkorps oder dem Roten Kreuz beitreten oder nach Übersee gehen, um dort Krankenwagen zu fahren, als Telefonistin für die Fernmeldetruppe oder als Dolmetscherin zu arbeiten. Leah war gegen den Krieg, sie verstand nicht, was er Amerika anging; doch sie musste diese tapferen Frauen einfach bewundern, die bereit waren, die gleichen Risiken auf sich zu nehmen wie ihre Männer.

Und sie musste zugeben, dass all die Plakate und die Musik und die Reden auch sie allmählich beeinflussten. Wenn sie heute George M. Cohans »Over There« (Da drüben) mitsang, merkte sie, wie der martialische Rhythmus sie mitriss, ja, und sogar die Botschaft: The Yanks are Coming! The Yanks are Coming! Sie hatte das Stück dreimal gesehen; und jedes Mal war sie aufgesprungen und hatte wie wild applaudiert und geschrien wie alle anderen auch.

Jim kam gar nicht darüber hinweg. »Ich dachte, du wärst zu klug, um dich von chauvinistischem Schwachsinn einwickeln zu lassen.«

Aber sie sagte zu ihm: »Ich lasse mich nicht einwickeln, Jim. Es ist die Musik, das ist alles. Und Joe natürlich. Ich meine, Joe ist da drüben.«

»Sicher, Kleines, sicher. Ich meinte auch nicht, dass alles Schwachsinn ist... bloß da, wo es um den Krieg geht, ums Töten.« Und er tätschelte ihr die Hand.

Sie hatte ihr Leben nicht aufgegeben, nur weil Joe weg war. Sie hatte reichlich zu tun und sie hatte ihren Freundeskreis. Es waren diese Schwangerschaft und die Hitze, die ihr das Gefühl gaben, die Zeit krieche dahin.

Rasch nahm sie den Brief auf und las weiter.

... Gott, wir haben in den letzten drei Tagen über 50 Kilometer zurückgelegt! Ich darf Dir nicht sagen, wo wir gewesen und wohin wir unterwegs sind; jedenfalls wurden wir mitten in der Nacht per Lastwagen hierher befördert. Als heute Morgen die Sonne aufging, trauten wir unseren Augen kaum. Es gibt hier keinerlei Anzeichen von Krieg, nicht eines, nur sanft gewellte Hügel und Frühjahrsgetreide. Ich wünschte, ich könnte Dich jetzt sehen, heute Morgen, wenn Dein Gesicht rosig vom Schlaf ist wie das eines Babys. Ich vermisse Dich, Leah, mein Liebling.

Allerdings muss ich sagen, dass ich dieses Abenteuer um nichts in der Welt hätte missen mögen. Warte, bis ich zurück bin; all die Geschichten, die ich Dir erzählen werde! Manchmal wünschte ich nur, ich hätte eine Kamera in der Hand statt eines Gewehrs. Wir sitzen hier fest; keine Großoffensiven für die Infanterie, sagen die Offiziere; unsere Artillerie wird für die Marines benötigt. Die Marines! Es heißt, dass alle Verdienste beim Zurückschlagen von Jerry den Marines angerechnet werden. Wenn ich erst mal zu Hause bin, werde ich das richtig stellen!

Wieder legte sie die Blätter nieder und Tränen brannten in ihren Augen. Du vermisst mich, doch das Abenteuer wolltest du nicht versäumen. Oh, Joe, und hier bin ich und muss unser Baby ganz allein zur Welt bringen, unser Leben ganz allein führen. Er schloss seine Briefe stets mit lieben Grüßen an sie und das Kind und fügte hinzu: »Es tut mir Leid, dass ich in dieser Zeit nicht bei Dir bin. Bitte sei stolz, denn ich tue, was getan werden muss, um die Demokratie und die gute alte Flagge zu verteidigen.«

Am neunzehnten Mai, nachdem die AEF irgendeine Schlacht gewonnen hatten, druckte die New York World eine große Karikatur ab, auf der ein grinsender amerikanischer Soldat breitbeinig über dem Ort Catigny stand und einen deutschen Helm schwang. Leah war klar, dass dies als glorreicher Sieg dargestellt werden musste, aber ihr wurde übel davon. Die Zerstörung einer ganzen Stadt! Auf der Zeichnung duckten sich Hunderte verängstigte Frauen und Kinder hinter dem jubelnden Landser, Kinder, deren Mütter bei dem Beschuss vielleicht umgekommen waren, Kinder, allein und hilflos, nach einer Mutter weinend, die nie zurückkehren würde. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Es war zu schrecklich, um darüber nachzudenken.

Es läutete an der Tür, läutete noch einmal. Sie lehnte sich aus dem offenen Fenster, um hinunterzurufen: »Immer mit der Ruhe!« Aber die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie sah, dass es ein Western-Union-Bote auf seinem staubigen Rad war, der zu ihr heraufblinzelte.

»Miss Vogel?«

»Ja?« Schweigend gelobte sie sich, dass, falls Joe zurückkam, wenn Joe zurückkam, sie ihn endlich heiraten würde. Sie wusste, das Gelöbnis war ein Pakt mit Gott, damit er dafür sorgte, dass in dem Telegramm nicht das stand, was sie mit grässlicher Sicherheit befürchtete. Bitte. Lass ihn nicht schwer verwundet sein. Bitte. Lass Joe nichts passiert sein. Bitte. Ich werde ihn heiraten, ich werde Leah Lazarus heißen und mein Kind wird nicht unehelich sein.

Der Junge winkte ihr wortlos mit dem Telegramm zu. Bitte, lieber Gott, dachte sie, während sie schwerfällig die Treppe hinunterrannte, außer Atem, bevor sie überhaupt losgelaufen war. Sie hatte das Gefühl zu ertrinken.

Unten angelangt, streckte sie die Hand nach dem Telegramm aus und wagte es, den Boten offen anzugucken. Sein trauriger Blick verriet ihr die Nachricht, ehe sie auf die Worte schaute. Und als sie es schließlich über sich brachte, darauf zu blicken, begann sie zu schreien.

Joe war tot, gefallen bei Château-Thierry. Aber das konnte nicht sein; sie glaubte es nicht. Aber es war so und es war alles Jims Schuld. Es war Jims Stimme, die es ihr sagte, wieder und wieder, Jims Stimme, die sie loswerden, zum Schweigen bringen musste. Und dann war es Annie, die tot war. Sie sah ihr friedliches Gesicht vor sich, das gar nicht tot aussah, keine Spur, mit einem kleinen Schmutzfleck auf der Nase, wie also konnte sie tot sein?

Dann war sie irgendwie wieder im hebräischen Waisenheim und ging hinaus in den Park mit ihrer ganzen Gruppe und mit Miss Shapiro! Oh, es war so schön, Miss Shapiro zu sehen. Sie liefen Schlittschuh. Es war kalt, so kalt...

Leah setzte sich auf, aus weit aufgerissenen Augen weinend. Sie wusste nicht, wo sie war, erkannte nichts. Dann kam Jim ins Zimmer gestürzt und es wurde ihr Schlafzimmer, vertraut, behaglich und unverändert. Bis auf eine schreckliche Einzelheit.

»Jim! O Gott! Er ist tot! Sie sind alle tot!«

Jim kam zu ihr, setzte sich auf die Bettkante und nahm sie in die Arme, wobei er ihr mit seiner großen Hand übers Haar strich und sagte: »Pscht... ich weiß, ich weiß... Braves Mädchen, wein dich nur richtig aus.«

Das verblüffte sie. Sie schob ihn von sich weg. »Du musst mir doch sagen, dass ich nicht weinen soll, Jim. Immer bringst du alles durcheinander!« Sie fing an zu lachen, aber daraus wurde schnell ein Wimmern, und sie begann wieder zu weinen.

Er redete weiter leise auf sie ein, streichelte ihren Rücken und wischte ihr nasses Gesicht mit seinem riesigen Taschentuch ab. Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, ließ er sie los und antwortete ihr: »Nein, nein, Schätzchen, ich weiß schon, was ich sage. Zwei Tage lang, beinah drei, hast du hier zusammengerollt wie eine kleine Krabbe gelegen, mit geschlossenen Augen, und gestöhnt, aber nie erkennen lassen, dass du wusstest, ich war bei dir. Du hast dich auch geweigert zu essen, nur ein paar Schlucke Wasser hast du akzeptiert. Ich kann dir sagen, ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Noch eine Stunde und ich hätte den Arzt gerufen. Diese Tränen waren das erste Zeichen von Leben in dir...«

»Zwei Tage, beinah drei? Dann ist heute ja...«

»Freitag. Ja, sicher. Heute ist Freitag.«

Sie setzte sich benommen auf. »Ich begreife es nicht!«

Jim fing an zu lachen. »Und ich begreife dich nicht! Im achten Monat schwanger, so weggetreten, dass ich ganz krank vor Sorge bin. Wohlgemerkt, ich habe keinen Schritt aus dieser Wohnung getan, seit ich dich hier hochgetragen habe. Und alles, was dir jetzt einfällt, wo du endlich zu dir kommst, ist, mich einen Lügner zu nennen!«

»Du? Mich getragen?«

»Es war nicht leicht, das sage ich dir. Ein ganz schön großer Kerl, den du da mit dir rumschleppst.«

»Kerl! Ist das nicht typisch Mann? Nun, zu deiner Information, es wird ein Mädchen. Das hat Joe bestellt und das kriegt er auch.« Und dann überfiel sie wieder Verzweiflung. »Oh, Jim, er ist nicht mehr da! Mein Joe ist nicht mehr da! Mein Baby hat keinen Vater und Joe ist tot! O Gott, warum bin ich nicht auch gestorben?«

Jim nahm einen Lappen aus einer Schüssel mit Wasser, wusch ihr das Gesicht, besänftigte sie, schob ihr Nachthemd zur Seite, damit er an den Nacken gelangte. Sie machte die Augen zu, spürte den pochenden Schmerz hinter ihren Lidern und ließ sich von ihm bemuttern.

»Jim, wie hast du mich gefunden?«

»Als du ohnmächtig geworden bist, hast du den Jungen von der Western Union halb zu Tode erschreckt. Er ist auf die Straße gestürzt und hat um Hilfe geschrien und dein Vermieter kam raus, um ihm Saures zu geben. Aber als er hörte, was passiert war, hat er den Jungen zu mir in den Verlag geschickt. Und hier bin ich, dein bescheidener und gehorsamer Diener.«

»Oh, Jim, wie kann ich dir je danken?«

»Ach was...« Er schob den Gedanken beiseite und sagte: »Hörst du den Donner? Sie meinen, es wird heute regnen und dieses Inferno von einer Stadt abkühlen.«

Aber ich habe es gemütlich, dachte sie, und dann merkte sie plötzlich: »Ich habe mein Nachthemd an!«

»Ja, und?«

»Aber – aber das bedeutet... aber das bedeutet, dass du...«

Seine Miene ließ keine Gefühlsregung erkennen. Gelassen sagte er: »Stimmt, Miss Vogel, ich habe Sie nach oben getragen, ich habe Sie entkleidet. Ich habe Ihnen ein Nachthemd angezogen und Sie ins Bett gesteckt.«

»O Gott!« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.

»Jetzt sei nicht albern. Ich habe dich kaum angeschaut. Eigentlich kann ich sagen, ich habe dich gar nicht angeschaut. Ich war zu beschäftigt damit rauszukriegen, wie ich dich in das verdammte Ding kriege.«

»O Gott, so, wie ich aussehe, so fett und hässlich...!«

Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Allmählich wirst du wieder du selbst, das ist mal sicher, wenn du dir nur Sorgen darüber machst, wie du aussiehst, und nicht darüber, dass du kompromittiert worden bist.«

»Kompromittiert? Von dir? Ach Jim, das ist doch ein Witz!«

»Ach, wirklich?« Das Lachen war wie weggewischt und seine Miene kehrte zu ihrer gelassenen Ausdruckslosigkeit zurück. »Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, Miss Vogel, dass ich trotz meiner Jahre immer noch als ein recht feiner Bursche gelte.«

»Oh, Jim, ich meinte doch nicht...«

»Oh, doch, Leah, du meintest. Aber das ist schon in Ordnung. Das ist einer der Punkte, die Sie zu einer guten Reporterin machen, Miss Vogel, die Fähigkeit, durch den Nebel der Emotionen zur Wahrheit vorzustoßen.«

»Übrigens, Jim, ich heiße jetzt Leah Lazarus.«

Eine dicke, schwarze Augenbraue schoss in die Höhe. »Wieso das? Wenn du dich nicht um Konventionen gekümmert hast, als Joe... nun, früher, warum dann jetzt?«

»Ich... weiß nicht genau. Es scheint mir einfach richtig. Und Leah Lazarus klingt hübsch, findest du nicht?«

»Oh, sicher, sicher. Und du weißt ja, dass es Lazarus war, der von den Toten auferstand...« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die ihr Jim rasch wieder abwischte, in jeder Hinsicht, dachte sie, wie eine Katzenmutter, die ihr Kätzchen säubert.

Sie wechselte das Thema. »In Wirklichkeit, Jim«, sagte sie in gespielt ernsthaftem Ton, »will ich den Namen annehmen, weil ich dann so wundervolle Vorfahren habe...« Und sie erzählte ihm von Leon Cavalier – nicht alles über Leon Cavalier, nur den Teil über die falschen Ahnen der Lazarus’. Es brachte Jim zum Lachen; nun, deshalb hatte sie es ihm erzählt.

»Ich glaube«, sagte er, »ich habe eine ganze andere Geschichte über die speziellen Gemälde gehört, die Cavalier anfertigt. Doch davon weißt du bestimmt nichts.«

»Oh, doch, weiß ich. Von Walter Morris.«

»Na, das ist alles sehr interessant, wirklich sehr interessant. Und wie, glaubst du, werden Isaac und Bertha es aufnehmen, dass du ihren geheiligten Namen trägst, der so kostbar ist?«

»Weiß ich nicht und kümmert mich nicht!«

»Das klingt nach der Leah Vo... Lazarus, die ich kenne!«

Als sie so mit Jim sprach, erinnerte sie sich nach und nach daran, wie er sich um sie gekümmert, sie hochgehoben, sie im Bett umgedreht, sie gedrängt hatte, nur ein bisschen zu nehmen, nur ein bisschen – wovon, wusste sie nicht –, wie er sie getragen, ihr vorgesungen und vorgelesen und gesagt hatte, bald würde es ihr besser gehen, keine Angst.

»O Gott, Jim, ich war wirklich weg, oder? Und du hast für mich gesorgt.«

»Schuldig im Sinne der Anklage.«

»Oh, Jim, du bist so« – sie suchte nach dem richtigen Wort, bis sie es endlich fand –, »so mütterlich.«

»Mütterlich!«, fauchte er. »Gott bewahre mich davor, falls es dir nichts ausmacht! Mütterlich! Mütterlich!« Doch seine Wangen färbten sich knallrot, und obwohl seine Stimme barsch klang, zuckte ein Lächeln um seinen Mund.

Wieder flog ihre Hand an ihren nackten Hals. »Mein Medaillon! Wo ist es? Ich habe es doch getragen, als du... als du...«

»Ja, du hast es getragen. Und ich habe es dir abgenommen und in dein Schmuckkästchen getan. Ich hatte Angst, du würdest dich erdrosseln.«

»Schon gut.« Sie betastete ihr Haar. Ein Rattennest. »Sei bitte ein Engel, Jim, und hol mir meine Bürste. Und das Medaillon.«

Als das Medaillon wieder sicher um ihren Hals hing, begann sie sich die Haare zu bürsten und setzte sich behutsam aufs Bett.

»Sag mal, Leah, wer ist diese Miss Shapiro, nach der du gerufen hast?«

Miss Shapiro, die auf dem glitzernden Eis entlangschlitterte. Es war schön gewesen, sie noch einmal zu sehen, wenn auch nur im Traum. »Eine Lehrerin im... in der Schule.«

»Natürlich in der Schule. Da sind Lehrer meistens.«

Aber meine Schule war ein bisschen anders, dachte Leah. Sie hatte nie irgendjemand wissen lassen wollen, dass sie im Waisenheim gewesen war.

»Grundschule?«, fragte Jim.

»Ja, ja, natürlich. Ich habe nur die sechste Klasse abgeschlossen, das weißt du doch. Danach bin ich abgegangen und habe gearbeitet.«

»Welche Schule?«

»Was interessiert dich das?« Doch auch damit verriet sie sich. Besser beiläufig und ruhig antworten. »Wenn du es unbedingt wissen willst, P.S. 267.«

»In Harlem?«

»Stimmt.«

»One hundred thirty-sixth Street, Ecke...«

»Ja, verdammt. Können wir jetzt von was anderem reden?«

»Leah... das war die Schule in dem großen jüdischen Waisenhaus. Warst du im Waisenhaus? Bist du deshalb so empfindlich?«

Ihre Augen fühlten sich an, als wären sie tief in ihren Kopf gesunken, und ihr Kopf hämmerte, aber es gelang ihr, ihn fest anzuschauen. Verdammte irische Neugier! »Stelle ich dir Fragen?«, wollte sie wissen.

Er antwortete nicht und veränderte auch seinen Gesichtsausdruck nicht, nickte jedoch kurz vor sich hin, als wollte er sagen: Na, jetzt weiß ich Bescheid. Er machte sich wieder daran, ihr die Arme zu waschen, aber sie bremste ihn. »Die Bettdecke kriegt mehr Wasser ab als ich.«

»Hoppla. Tut mir Leid.« Er glitt in einer Pfütze aus, die er auf dem Fußboden vergossen hatte, als er die Schüssel wegnahm. »Ich bin gleich wieder da, Leah, mit Suppe. Du musst was essen.«

»Ich hab keinen Hunger!«

Als er jedoch ins Schlafzimmer zurückkam und mit solch unbeholfener Behutsamkeit ein Tablett vor sich hertrug, mit dampfendem Teller, einer Serviette und einem Teelöffel, empfand sie tiefe Zuneigung für ihn. Er war so lieb, so ein guter, freundlicher Mensch. Auf seine irische, kraftvolle Art sogar attraktiv, und wenn er lächelte, zwinkerten seine Augen und in seinen Wangen kamen Grübchen zum Vorschein.

Aber ein Tollpatsch. Als er sich ihr mit vorsichtigen Schritten näherte, stolperte er über die Ecke eines Teppichs, und der Teller Suppe flog durch die Luft. Es war fast ein schöner Anblick, diese goldene Kurve der Suppe, wie sie sich aus dem Teller schwang und einen anmutigen Bogen beschrieb, bevor sie platschend auf dem Teppich und dem Bettzeug landete.

»Ach Jim, ich glaube, ich reiße mich lieber zusammen, ehe du mich umbringst.« Dankbar stellte sie fest, dass sie lachte. Als sie ihn anschaute, war der beschämte Ausdruck von seinem Gesicht einem erfreuten Grinsen gewichen. »Was ist?«, fragte sie.

»Ich hab’s geschafft. Ich habe dich ins Land der Lebenden zurückgeholt. Mit meinen zwei linken Füßen und einem bisschen von der berühmten McCready-Grazie habe ich dich zum Lachen gebracht, bei Gott!«

»Du brauchst gar nicht so selbstzufrieden zu sein«, sagte Leah.

»Bin ich nicht. Ich denke mir nur, jetzt habe ich jemand, der mich ins Liberty-Theater begleitet, um Die Geburt einer Nation zu sehen... ja, genau, ich möchte dich einladen. Es soll ganz außergewöhnlich sein, habe ich gehört, und sie haben nicht nur eine gewöhnliche Orgel im Kino, sondern ein vierzigköpfiges Sinfonieorchester, stell dir vor!

Ja, und außerdem möchte ich, dass du jetzt, wo du wieder du selbst bist, in Margaret Sangers neueste Klinik gehst. Sie haben es schon wieder gemacht – eine Polizistin hingeschickt, verkleidet als richtige Person...« Er hielt inne, um über seinen Witz zu lachen. »...und sie haben den Laden schon wieder dicht gemacht.«

»Aber wie können sie das? Wurde das Gesetz nicht geändert, sodass zu großer Kinderreichtum als Krankheit gelten kann?«

»Ja, meine Liebe, aber seit wann interessiert ihre Feinde eine so unbedeutende Sache wie Legalität? Und nun haben einige ihrer Mitarbeiterinnen natürlich beschlossen, in den Hungerstreik zu treten... und du weißt, was das heißt. Nette junge Frauen, absolut keines Verbrechens schuldig, die in Handschellen gelegt und zwangsernährt werden! Bloß weil sie von der Geburtenkontrolle überzeugt sind. Hört sich das nach einer Story an, mit der Sie sich gern befassen würden, liebe Miss Vo... Entschuldigung, Mrs. Lazarus?«

Und ob! Er kannte ihre Antwort! In Gedanken war sie bereits unterwegs in die nur wenige Straßen entfernte Haftanstalt für Frauen. Sie spürte, wie Enthusiasmus sie durchflutete wie eine Welle der Lebenskraft.

Und dann wurde ihr der Witz an der Sache klar. Sie guckte bedeutsam hinab auf ihren vorstehenden Bauch und nach einer Weile starrte auch Jim ein wenig verblüfft dorthin.

»Was? Was ist?«

»Bist du dir sicher?«, fragte sie sanft, »dass ich die ideale Person bin, um über Geburtenkontrolle zu schreiben?«

Im nächsten Moment brachen sie beide in hilfloses Gelächter aus. Und da fingen sie an. Die Krämpfe, die ihren Bauch und Rücken überwältigten und ihr Gelächter abrupt beendeten. »Oh... au!«

»Wehen«, sagte Jim ruhig und nickte weise. »Los, komm.«

»Los, komm? Wovon redest du?«

»Davon, dass du dich anständig anziehen und ins Krankenhaus begeben solltest, in das du offensichtlich gehörst. Ich hole dir ein Kleid...«

»Und noch eins zum Wechseln und ein sauberes Nachthemd. Meinen Morgenmantel, eine Haarbürste, Gesichtscreme ... ach du liebe Güte, ich mache es lieber selbst. Du vergisst bestimmt was Wichtiges. Reich mir doch das rote Kleid aus dem Schrank, bitte, Jim, mein Lieber. Nein, warte. Das blaue aus Leinen, das helle, genau...« Sie musste innehalten, bis die nächste Wehe vorüber war.

»Sei gewarnt, Leah«, sagte Jim mit strenger Stimme, aber einem Lachen in den Augen. »Mich kannst du vielleicht rumkommandieren, aber das Kind in deinem Bauch hat seinen eigenen Kopf. Ja, ich glaube, du hast endlich deinen Meister gefunden!«

Die Patriarchin

Подняться наверх