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Juni 1915

»Nun, Miss Vogel, wie ich höre, beschäftigen Sie sich ein wenig mit Geschreibsel?« Bertha Lazarus beugte sich vor, damit sie am vorstehenden Bauch ihres Mannes vorbeisehen konnte. Anfangs hatten sie versucht, nebeneinander zu gehen – Joe, Leah, seine Eltern und seine Schwester Zelda –, aber zu fünft war das nicht möglich, nicht an einem sonnigen Sonntag im Village. Also gingen Mr. und Mrs. Lazarus Arm in Arm und Leah trottete neben ihnen her – wie ein Hündchen, dachte sie. Joe und seine Schwester bummelten hinterher.

Joes Eltern waren ein imposantes Paar: Isaac rund wie ein Ei, wie Humpty Dumpty, mit großem Kopf, großem Schnauzbart, großem, vorspringendem Unterkiefer und einer dröhnenden Stimme. Bertha Lazarus war ein ganzes Stück größer als ihr Mann, kurvenreich und lebhaft.

Zelda kam mit ihrer untersetzten Figur und dem schweren Kinn ganz nach ihrem Papa. Leah fragte sich, wieso ihre Mutter sie ein langes Tunikaoberteil und einen engen Rock hatte anziehen lassen, der an den Nähten spannte und sie noch plumper wirken ließ. Warum hatte das Oberteil so viele Rüschen und Schleifen? Warum ihr Hut so viele Bänder und Blumen? Warum drei Armbänder und ein riesiger, auffälliger Ring an jedem ihrer Wurstfinger? Zelda lief gebeugt und linkisch, als wollte sie in ihren schlecht sitzenden aufgedonnerten Tracht am liebsten schrumpfen, und alle zehn Schritte ungefähr drehte Mama sich um und sagte scharf: »Zelda! Schultern zurück!« Ohne sich auch nur darum zu kümmern, ob sie gehorchte oder nicht.

Arme Zelda. Achtzehn Jahre alt und nicht verheiratet, »keiner, der angebissen hat«, wie Bertha bereits mehrmals wiederholt hatte. Immer wenn Zeldas Jungfernschaft zur Sprache kam, warf ihre Mutter ihr von der Seite her einen Blick zu, schüttelte leicht den Kopf und seufzte. Joe hatte sein auffallend gutes Aussehen von seiner Mutter, das erkannte man sofort. Beide hatten welliges, dunkles Haar, blitzende Augen und ein strahlendes Lächeln. Allerdings war Joe von Natur aus gutmütig und hatte kein Quäntchen Gemeinheit im Leib. Wohingegen Mama... da war sich Leah nicht so sicher.

Als Joe sie einander vorgestellt hatte, hatte sie Leah ein zuckersüßes Lächeln geschenkt, ihr die in einem weißen Glacéhandschuh steckende Hand gereicht und »Bertha Lazarus« gesagt, laut und deutlich, als ob sie nach einer langen, beschwerlichen Reise die Endstation ankündigte. Und dann unverzüglich begonnen, rüde Fragen zu stellen, die in Wahrheit nichts als unhöfliche Bemerkungen waren.

Ach, Miss Vogel, Sie sind wohl nicht verwandt mit den Bernard Vogels in Westchester? Um sie dann selbst zu beantworten: Nein, das sind ja bedeutende Mitglieder der Gesellschaft.

Fühlen Sie sich in der Öffentlichkeit nicht unwohl ohne Hut, Miss Vogel?

Ach du liebe Güte, Miss Vogel, sollen wir unser Haar jetzt alle so tragen? Wobei sie Leahs Fransenfrisur anstarrte, absolut schockiert, eine Frau mit kurzen Haaren zu sehen.

Und ihre Artikel »Geschreibsel« zu nennen, als ob es sich um ein nicht ernst zu nehmendes kleines Hobby handelte!

»Nun, Bertha, ich beschäftige mich mehr als ein wenig damit, und die meisten Leute halten es nicht für ›Geschreibsel‹. Ich bin Autorin für Zeitschriften und Zeitungen.«

Leah spürte, wie sich Joes Blicke in sie bohrten. Sie wusste, wenn sie zu ihm hinüberschaute, würde er sie anfunkeln, doch sie würde es ignorieren. Sie wusste, dass sie aufmüpfig war. Bertha Lazarus war der Typ Frau, der jede Menge Schwanzwedeln und Kriecherei erwartet. Sie beim Vornamen zu nennen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein... das war nicht die Art Benehmen, die Bertha Lazarus gewöhnt war. Pech für sie. Vor dieser stattlichen, herausgeputzten Frau das Knie zu beugen, war nicht Leah Vogels Art, auch wenn sie Joes Mutter war.

»Ach ja, ich entsinne mich. Joseph erwähnte etwas über Ihre Arbeit... Sie verfassen diese Texte über die Armen, die uns übrige dazu veranlassen sollen, aus Mitleid unsere Taschen zu leeren. Nun...« Ein selbstgefälliges kleines Lachen. »Ich kann Ihnen hier und jetzt versichern, dass Sie Mr. Lazarus nie dazu bringen werden, in seine Tasche zu greifen, nicht in Millionen Jahren!« Wieder das Lachen mit dem boshaften Unterton. »Ganz gleich, wie gut Sie zu sein glauben.«

Leah lächelte und wünschte die Frau zwei Meter unter den Boden. Aber lautlos. Sie hätte zu gern gesagt: »Ach, ist Mr. Lazarus denn im Stande, in seine Tasche zu greifen, wo doch seine Hosen so eng sind?« Doch das tat sie nicht. Um Joes willen würde sie versuchen, den Mund zu halten.

Bevor seine Familie kam, hatte er sie gebeten: »Bitte, Leah, tu mir einen Gefallen, Liebling. Sie sind nicht einfach, aber auch nicht so schlimm, wenn du sie erst mal näher kennst. Versuch nett zu sein. Ich habe lange genug gebraucht, sie dazu zu bewegen, dass sie dich überhaupt kennen lernen wollen.«

Darüber wusste sie alles! Ihnen zufolge war sie eine Gefallene, ein Flittchen, eine Schlampe, des Sohns von Isaac Lazarus, des Knopffabrikanten, Selfmademan, nicht würdig. Er hatte Joe erklärt, dass seine Hand niemals die einer Frau berühren würde, die so wenig Selbstachtung hatte, dass sie mit einem Mann schlief, der nicht ihr Ehemann war – obwohl es sich bei diesem Mann um seinen einzigen Sohn und Erben handelte. Wenn sein Sohn den Kontakt zur Familie aufrechterhalten wollte, solle er sich in die Bronx begeben, dort sei er, und nur er allein, willkommen.

Nun, irgendwann hatte Papa sich gefügt; seine Neugier war größer als seine so genannte Moral. Joe hatte Leah von seinem Ausflug in den Norden der Stadt zum Optima Club auf der 238th Street erzählt – »voll fetter, schnaufender Geschäftsleute, alle rot im Gesicht von zu viel Portwein, aber reich, Leah. O Gott, so viel Geld–, um mit Papa zu Mittag zu speisen, um Josephs, äh... ungehörige Verbindung mit »dieser Frau« zu erörtern.

»Ich musste mir die letzten Neuigkeiten über Knopfpreise anhören. Das war schwierig. Dann musste ich einen Vortrag über mich ergehen lassen, wie weit ich vom rechten Weg abgekommen sei, das war noch schlimmer. Das Schwerste dabei war, wach zu bleiben, Leah! Aber ich musste, weil ich dann auch sprechen und ihn dazu überreden wollte, dass er dich kennen lernt. Ich sagte zu ihm, er müsse dich ja nicht akzeptieren oder mögen, ›doch du wirst beides tun, das verspreche ich dir‹. Nun gibt es nichts, was meinem Papa besser gefällt, als wenn ein Mann Schwung und Schneid zeigt, und ich war der schwungvollste, schneidigste Kerl, den du dir vorstellen kannst. Also hat er Ja gesagt.«

Allerdings hatte Isaac sich geweigert, einen Fuß über die Schwelle ihres Domizils zu setzen, und ebenso wenig durfte sie mit ihrer Gegenwart die Heiligkeit ihres Heims in der Bronx entweihen. Dieser gönnerhafte momser! An einem Feiertag, als die drei in einem Hotel in den Catskill Mountains waren, hatte Joe sie in die Wohnung seiner Eltern mitgenommen. Sie fand die Bronx unwirtlich und hässlich, trotz all der Rasenflächen und Blumen. Es gab so viele neue Gebäude, alle riesig, die drohend über einem aufragten und düstere Schatten auf die Straßen warfen. Diese gigantischen Bauwerke wirkten inmitten von Feldern und Wiesen schlichtweg lächerlich. Die Bronx, hatte Leah zu Joe gemeint, müsse eine herrliche Gegend gewesen sein, ehe die Bauunternehmer sie ruinierten.

»Ruinieren!« Er hatte gelacht. »Im Gegenteil, Leah, Liebling, was wir hier sehen, ist die Zukunft von New York City! Seit die Untergrundbahn seit diesem Jahr hier herausfährt, ziehen die Leute in den Norden, als ob sie ihn erfunden hätten, weil sie auf einen Grashalm, den Anblick von Blumen, auf frische Luft hoffen.«

Alles hatte so gigantische Dimensionen, dass man meinen konnte, die Bronx wäre für Riesen erbaut worden. Die Straßen waren breiter. Das Gebäude, in dem Joes Familie lebte, sah aus wie ein Herrenhaus, nein, wie ein Schloss, verziert mit handbehauenen Steinen, es gab sogar Wasserspeier an den oberen Geschossen, wie bei einer Kathedrale. Der Eingang mit den massiven Holztüren war vier Meter hoch, die Halle wirkte wie eine Höhle. Wenn man nicht flüsterte, hallte die Stimme wider.

Die Lazarus bewohnten ein Fünfzimmerapartment mit Zentralheizung, Gas und Strom. Der Vermieter hatte ihnen einen Herd und einen Kühlschrank zur Verfügung gestellt. Es gab sogar ein Telefon im Haus, das von der fünfzehnjährigen Tochter des Hausmeisters bedient wurde, die für jeden Anruf, den sie vermittelte, fünf Cents nahm.

So eine große Wohnung kostete natürlich viel: siebenundzwanzig Dollar im Monat. Leah konnte es nicht fassen; sie waren soweit oben im Norden, fast in Yonkers. Puh!, dachte sie. Wer brauchte eine Halle von der Größe eines Stadions, wenn er so weit entfernt war von den wichtigen Ereignissen!

Das Apartment der Lazarus war noch dazu hässlich, mit dunklen orientalischen Teppichen ausgelegt, mit dunklen Möbeln voll gestopft, mit dunklen Samtvorhängen und zahlreichen Ölgemälden von zweifelhaftem Wert in verschnörkelten Goldrahmen voll gehängt. Diese Leute hatten offensichtlich noch nie etwas von moderner Kunst oder Batikstoffen oder einer schlichten Einrichtung gehört.

»Ich habe ständig das Gefühl, ich müsste flüstern«, hatte Leah zu Joe gesagt. »Und auf Zehenspitzen gehen.«

»Tatsächlich? Wieso?«

»Es ist wie ein Bestattungsunternehmen... ein elegantes natürlich...«

Joe schenkte ihr ein Lächeln, doch sie wusste, dass er das nicht gern von ihr hörte. Noch mehr Auf-Zehenspitzen-Schleichen, dachte sie. Er war vor seiner Familie davongelaufen; er mochte sie nicht besonders. Trotzdem durfte sie kein Wort über sie sagen, ohne ihn auf die Palme zu bringen.

So auch heute wieder. Sie versuchte, ihr Bestes zu geben, aber sie würde nicht zur Speichelleckerin werden, für niemand. Sie war geschnitten worden, als wäre sie nicht einmal einer Beachtung wert. Doch jetzt waren die Lazarus’ hier, spazierten die Barrow Street entlang und glotzten die Village-Bewohner an wie all die anderen Touristen, die herkamen in der Hoffnung, die Bohemiens würden sie schockieren. Und Joes Vater Isaac nahm jede Gelegenheit wahr, sie zu beäugen, als ob sie käuflich wäre.

»Oh, ich betrachte mich nur als normale Autorin«, erwiderte Leah Joes Mutter gegenüber mit ihrer süßesten Stimme. »Es sind meine Leser, die fordern, ich solle mehr schreiben, meine Verleger, die dauernd mein Gehalt erhöhen. Was soll ich machen?« Sie schaute Bertha Lazarus treuherzig an, die daraufhin einen kehligen Laut von sich gab, aber nicht antwortete.

Leah dachte an das kleine Geheimnis, von dem sie wusste. In dem fürstlichen Wohnzimmer des Lazarus’schen Apartments in der Bronx hingen zu beiden Seiten des kunstvoll geschnitzten Bücherschranks die Bilder einer Frau und eines Mannes in der Kleidung wohlhabender Geschäftsleute aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Irgendetwas an dem Malstil kam ihr bekannt vor.

»Wer sind diese Menschen?«, hatte sie Joe gefragt.

»Meine Mutter sagt, es seien ihre Urgroßeltern oder Urur... ich kann mir das nie merken. Erst im letzten Jahr bei einer Tante oder Cousine auf dem Dachboden entdeckt. Aber – wer weiß? Meine Mutter erzählt viel – meine Mutter hat eine lebhafte Fantasie«, berichtigte er sich.

Leah trat näher, um sich die Ecke anzugucken, in die Maler für gewöhnlich ihre Signatur setzen. Sie hatte so ein Gefühl... und da war er: ganz winzig, aber definitiv, der gefiederte Hut eines Höflings. So signierte Leon Cavalier alle seine Gemälde; Walter hatte sie einmal in einer Galerie darauf hingewiesen. Da hatte das reiche und hochnäsige Ehepaar Lazarus also »Vorfahren«, gemalt von einem der besseren Pornografen in Greenwich Village! Das war ein köstlicher kleiner Witz und Leah beabsichtigte, ihn für sich zu behalten. Es sei denn natürlich, sie brauchte ihn.

Anscheinend war Bertha Lazarus zu dem Schluss gekommen, dass es womöglich klug sei, das Thema zu wechseln. »Zelda«, sagte sie in dem scharfen Ton, der ihrer Tochter vorbehalten war. »Komm und geh neben uns. Dein Vater möchte mit Joseph reden.« Das Mädchen gehorchte und lief zwischen ihnen, als Bertha erneut bellte: »Um Himmels willen, muss ich dich denn ständig daran erinnern? Die Schultern, die Schultern!«

»Ich nehme die Schultern zurück, Mama, und es tut weh.«

»Unsinn! Mit Jammern wirst du nie einen Ehemann finden!« Zu Leah gewandt, fügte sie hinzu: »Der Mann, der das Herz meiner Tochter gewinnt, Miss Vogel, hat großes Glück. Sie ist Erbin. Aber eine Erbin, die sich nicht gerade halten will!« Letzteres kam so aufbrausend heraus, dass sich etliche Spaziergänger nach ihnen umdrehten.

Zelda stiegen Tränen in die Augen. Sie tat Leah Leid. »Schauen Sie, Bertha... Mrs. Lazarus..., Zelda hält sich vollkommen gerade, sehen Sie?« Völlig ernst: »Ihre Schultern wölben sich ein wenig nach vorn« – sie überlegte schnell – »so wie es die alten Griechen bei einer Frau für schön und angemessen hielten.«

»Die alten Griechen?«

»Sie nannten sie die Wölbung der Weiblichkeit.« Rasch, ehe die Frau noch mehr Fragen zu etwas stellen konnte, das erst vor Minuten ihrer Fantasie entsprungen war, fuhr Leah fort: »Worauf Sie sich meiner Meinung nach konzentrieren sollten, sind Zeldas wunderschöne große Augen. Ich könnte Ihnen zeigen, wie sie noch größer wirken, Zelda, mit Khol...«

»Kohl? Was für ein Blödsinn!«

Leah lachte hell auf. »Nein, nein, Bertha, nicht K-o-h-l. K-h-o-l. Die alten Ägypter benutzten es. Sie können es in jedem Museum sehen. Bei allen Büsten von Adligen, ja, sogar bei den Königen sieht man, dass die Augen mit Khol umrandet sind.«

»Sie sind ja sehr bewandert in puncto alte Sitten, wie, Miss Vogel?«

»Ich bin Schriftstellerin, wissen Sie.« Ein weiteres munteres kleines Lachen. »Und ich erkenne schöne Augen, wenn ich sie sehe – darin bin ich Expertin.«

Mrs. Lazarus spähte ihrer Tochter ins Gesicht. »Ja... nun, die Augen sind recht hübsch. Khol, sagen Sie. Wo könnten wir...? Ich meine, falls ich beschließen sollte, es zu kaufen, wo bekämen wir es?«

»In der Apotheke. Da kaufe ich meins. Aber ich würde mich freuen, Ihnen die Mühe zu ersparen. Warum gebe ich Zelda nicht, bevor Sie gehen, einen kleinen Tiegel von meinem mit und einen Pinsel und zeige ihr – zeige Ihnen beiden –, wie es aufgetragen wird?«

Zelda bedachte Leah mit einem solch rührenden Blick der Dankbarkeit, dass sie beinahe errötet wäre. »Ich wusste gar nicht, dass ich schöne Augen habe.«

»Red keinen Unsinn, Zelda. Natürlich weißt du das! Dein Papa und ich haben es dir dutzende von Malen gesagt!«

»Ich erinnere mich n...«

»Dutzende von Malen!«

»Ja, Mama«, erwiderte das Mädchen, doch zu Leahs Erstaunen warf sie ihr einen Blick zu, der so deutlich wie Worte sagte: Nein, Mama, das stimmt nicht, Mama; Mama, du lügst... Sofort war er wieder verflogen. Aber es schien, dass die einfältige Zelda doch ein Fünkchen verborgenen Kampfgeist hatte. Umso besser.

Bertha hatte ihre unbarmherzigen Worte schon vergessen. »Khol...«, wiederholte sie. »Aber... ich frage mich... gehört er sich wohl für eine Dame? Ich meine, Sie sagen, dass Sie es benutzen... und Sie sehen...«

Leah wusste, dass sie, als sie von der Wohnung hinunter auf die Straße gekommen war, um Joes Familie zu treffen, sie schockiert hatte. Pah, was wussten die da oben in der Bronx über Mode? Sie trug den letzten Schrei, ein schlichtes Sackkleid, besetzt mit Borte und Fransen, gefertigt aus besonders schöner Seide, doch ihr war klar, dass es diese aufgeblasenen, herausgeputzten Neureichen in helle Aufregung versetzt hatte. »Stimmt«, hätte sie am liebsten gesagt, »kein Korsett. Sind Sie nicht neidisch?« Natürlich sagte Leah nichts, sondern tat einfach so, als bemerkte sie ihre Blicke und ihre offenen Münder angesichts ihrer Bubikopffrisur, ihres locker sitzenden Kleides und ihrer Sandalen nicht. Keine Dame trägt Sandalen – diese Worte hätten genauso gut auf Bertha Lazarus’ breiter Stirn geschrieben stehen können. Stimmt, und keine Dame trug reihenweise Perlen zusammen mit einem altmodischen goldenen Medaillon an einer Kette. Aber Leah Vogel trug sie! Und sah wesentlich hübscher aus als die beiden, die da in ihren engen, schmalen Röcken und hochgeknöpften Schuhen angetrippelt kamen!

»Also, Miss Vogel, wie lange, sagten Sie... äh, kennen Sie und Joseph sich schon?«

»Fünf Jahre. Aber wir leben erst seit zwei Jahren zusammen, falls Sie das meinten.«

»Nein, das meinte ich gewiss nicht.« Die ältere Frau machte ein finsteres Gesicht und gestikulierte mit ihrem kunstvollen Hut in Richtung ihrer Tochter, als wollte sie sagen: Nicht in Gegenwart des Kindes. Leah ertappte Zelda dabei, wie sie ihrer Mutter heimlich die Zunge herausstreckte.

Als sie zur Sixth Avenue kamen, führte Joe sie über die Straße und wies, während sie den Weg zur West Fourth Street einschlugen, um dort die »drolligen« kleinen Läden zu betrachten, auf Sehenswürdigkeiten wie die Kunstgalerie Paint Box oder den Idée Chic Tea Room hin. Dauernd stießen sie mit Leuten zusammen, die damit beschäftigt waren, in ihren Reiseführern die Ateliers und Künstlermansarden aufzuspüren.

Zu fünft gingen sie weiter zum Washington Square. Dort wollten sie von Bude zu Bude schlendern, damit die Lazarus’ nach Andenken an ihren Besuch im »Montmartre von Manhattan« Ausschau halten konnten.

Unterwegs entdeckte Bertha eine ebenerdig gelegene Teestube, deren Tische mit spanischen Schals bedeckt und deren Wände in leuchtendem Chromgelb gestrichen waren. In Flaschen gesteckte Kerzen warfen ein schummriges Licht und tiefe Schatten. Um die Risse in den Mauern und den Schmutz in den Ecken besser zu verbergen, dachte Leah.

»Oh, sieh nur, Ike, wie süß! Können wir da nicht reingehen?«

Isaac begnügte sich mit einem kurzen Blick und winkte verächtlich mit der Hand ab. »Joseph führt uns zum Mittagessen in ein richtiges Restaurant...« Er schaute Joe an, damit dieser seine Gedanken zu Ende führte. Das geschah oft bei ihm, fiel Leah auf; und ihr fiel auch auf, dass Joe stets zur Stelle war, um zu ergänzen, was sein Papa vergessen hatte. Nun, der Mann hörte ja auch kaum zu. Er sprach, und im nächsten Moment richtete er seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Leah konnte sich nicht vorstellen, ein echtes Gespräch mit ihm zu führen.

»Das O’Neill and Bristol Oyster and Chop House, Mama«, sagte Joe. »Es wird dir gefallen. Da gibt es immer noch Gaslicht und viele große, alte Schusterpalmen. Ich weiß, dass du sie magst. Und das Essen ist wirklich gut.«

Leah wusste, dass er »reichlich« meinte. Das O’Neill and Bristol war für die großen Portionen bekannt, die man dort auftischte. Und so wie Papa aussah, dachte Leah, war das genau seine Kragenweite.

»Joseph und sein Vater stehen sich nahe... sehr nahe«, sagte Bertha Lazarus. Als Leah nicht reagierte, ging sie zum Angriff über. »Nun, das verstehen Sie wohl. Drei Töchter und nur ein Sohn. Söhne sind wichtig für Väter, wissen Sie. Deshalb haben wir immer gehofft, dass Joseph heiraten und selbst einen Sohn haben würde. Sie wissen, was ich meine, Miss Vogel.«

»Nein, Bertha, ich fürchte, ich weiß nicht, was Sie meinen. Warum ist es wichtig, dass Joe einen Sohn hat? Er scheint keinen zu wollen.«

»Jeder Mann braucht einen Erben, Miss Vogel. Die Zeit vergeht und wenn Joe nicht Acht gibt, werden wir keine Enkelsöhne haben.« Ihr Ton war kokett, ihr Blick aber stahlhart.

»Entschuldigung, habe ich etwas missverstanden? Ich dachte, Joes Schwestern hätten Söhne...«

»Ja, aber der Name, Miss Vogel, der Name.« Als Leah ganz offensichtlich nicht kapierte, fügte sie hinzu: »Der Name Lazarus. Meine Töchter heißen natürlich nicht mehr Lazarus.«

»Sie meinen, ein Enkel zählt nur, wenn er den richtigen Nachnamen hat?« Leah konnte nichts dafür; ihre Stimme klang gepresst vor Ärger.

»Nein, Leah, das meint Mama ganz und gar nicht. Mama liebt alle ihre Enkel«, sprang Joe ein.

»Selbstverständlich«, schnauzte Bertha, Leah anfunkelnd, als hätte diese mit dem Thema angefangen. »Selbstverständlich tue ich das!«

»Leah hat es nicht so gemeint, wie es klang, nicht wahr, Leah?«

Leah machte den Mund auf und wieder zu, noch einmal auf und dachte dann: Was soll’s. Sie verabscheute diese Leute, verabscheute sie. Sie musste zuschauen, wie sich ihr unbeschwerter, verwegener Liebster vor ihren Augen in einen pflichteifrigen kleinen Jungen verwandelte. Warum? Warum machte er solche Kratzfüße vor ihnen? Sonst witzelte er immer über sie. Sie begriff es nicht!

Leah seufzte und schenkte Bertha Lazarus ihr schönstes Lächeln. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie denken konnten, ich könnte Sie jemals des Mangels an Gefühl beschuldigen, Bertha. Sie sind so offensichtlich eine sehr sensible Frau.«

»Ich akzeptiere Ihre Entschuldigung, Miss Vogel. Und ich hoffe, dass Ihnen jetzt klar ist, wie wichtig es ist, dass der Familienname nicht verloren geht.«

Ob es ihr klar war oder nicht, sollte nie jemand erfahren. In diesem Moment kamen – glücklicherweise, dachte Leah – mit ausgebreiteten Armen und einem breiten Lächeln auf den Gesichtern Lenore Hutchinson und ihre teure Freundin Hortense Detweiler auf sie zu. Beide Frauen trugen Hosen, bestickte Seidenhemden, handgewebte Krawatten und auf dem Kopf eine Melone. Schon als sie ihnen Begrüßungen entgegenriefen, merkte Leah, dass Bertha Lazarus stehen geblieben war und sie entgeistert anstarrte.

»Joe! Leah! Wie göttlich!« Sowohl Lenore als auch Hortense hatten die Szene mit einem Blick erfasst: die verlegene Leah, den sich windenden Joe, das herausgeputzte Spießertrio; und sie hatten beschlossen, ihre beste Bohemenummer abzuziehen, Es gab Umarmungen und Küsse und Ausrufe und sehr viel Posieren – sogar einen angedeuteten britischen Akzent von Hortense, die aus Michigan kam. Leah hätte am liebsten losgekichert; es war köstlich. Als sie den Lazarus’ vorgestellt wurden, fehlte nicht viel und sie hätten sich tief verbeugt, und Lenore, die niederträchtig sein konnte, küsste Bertha tatsächlich die Hand.

»Wir gehen zu der Wahlrechtveranstaltung in der Cooper Union. Hat jemand Lust, mitzukommen? Nein? Nun, dann nehmen Sie diese hier...« Lachend verteilten sie Flugblätter. Und dann, gleich einem Wirbelwind, hatten sie Leah emporgehoben, sie wieder abgesetzt, waren davongeflitzt und verschwunden.

»Also!«, sagte Bertha Lazarus. Die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. »Also, ich habe nie...! Joseph, diese Kreaturen waren doch beide Frauen, oder?«

»Ja, Mama, Tänzerinnen. Sehr berühmte Tänzerinnen.«

»Ich kenne sie nicht. Sind sie...? Nein, ich will es nicht wissen. Ich glaube, ich könnte es nicht ertragen, es zu wissen.«

Leah guckte zu Joe hinüber, und zu ihrer Erleichterung zwinkerte er ihr zu. Vielleicht würde sie den Rest des Tages doch noch überleben.

Das Essen war reichlich und gut, und sowohl Mama als auch Papa gefiel die etwas altmodische Atmosphäre des Restaurants. Isaac Lazarus verputzte die letzten Krümel von seinem Dessert, rülpste, tätschelte seinen Bauch und holte einen Zahnstocher aus Elfenbein hervor, den er dann auch prompt benutzte – hinter vorgehaltener Hand, was als vornehm galt.

Als er fertig war, lehnte er sich zurück und sagte: »So viel ich gehört habe, wird hier richtige, echte Kunst zu guten Preisen verkauft. Stimmt das, Joseph?«

»Ja, Sir. In Greenwich Village sind wir an der Quelle. Woran hast du denn gedacht?«

»Keine Fotografien. Das ist keine Kunst.« Leah war gespannt, wie Joe das aufnahm. Er senkte nur den Blick und presste die Lippen aufeinander. »Nein, was ich will, ist richtige Kunst! Ölgemälde wie die von den Vorfahren deiner Mutter. Etwas Großes, Imposantes. Was meinst du, Bertie?«, fragte er seine Frau. Seit Leah die beiden kennen gelernt hatte, war es das erste Mal, dass er sie direkt ansprach. »Du möchtest doch ein Bild, das zu dem neuen Sofa im Wohnzimmer passt. Glaubst du, wir finden etwas in Blau, Joseph?« Das Essen hatte nicht nur seine Laune verbessert, sondern ihn anscheinend auch zu längerer Rede befähigt.

Statt sich über den Gedanken lustig zu machen, Kunstwerke passend zu Möbeln auszusuchen, versicherte Joe seinem Vater ganz ernsthaft, dass sie wahrscheinlich etwas in Blau auftreiben könnten.

»Irgendwas in der Richtung von Maxfield Parrish oder vielleicht dieser Neue, wie heißt er gleich, Joseph?«

»Norman Rockwell?«

»Genau der. Die gefallen mir. Ihre Bilder sind immer so lebensnah, und ich finde, wenn man sich ein Bild an die Wand hängt, sollte es lebensnah sein.«

»Wir finden sicher einen Künstler für dich, der lebensnah in Blau malt, Papa.«

»Gut... und wenn wir einen Maler finden, der was Nettes in Blau zu Stande gebracht hat, können wir ihn ja vielleicht bitten, ein Familienporträt anzufertigen. Ein schönes, großes Familienporträt in Öl, das ist doch was, stimmt’s?«

Leah nahm ihre umherschweifenden Gedanken zusammen. »Wenn Ihnen schöne, große Ölgemälde gefallen, sind Sie hier bestimmt am richtigen Ort.« Sollten sie doch zwei Ölgemälde kaufen oder sechs! Bei all den Freunden von ihr und Joe, die sich abmühten, mit dem Malen ihren Lebensunterhalt zu verdienen, warum sollten diese reichen Idioten da nicht helfen?

Und so machten sie sich, als sie aus dem Restaurant in den Sonnenschein traten, auf die Suche nach Kunstgalerien. Unterwegs bestand Papa darauf, stehen zu bleiben und »I Didn’t Raise My Boy to Be a Soldier« zuzuhören, das von zwei Straßenmusikanten gesungen wurde. Im Village waren Antikriegsgefühle hoch im Kurs. Anschließend ließ er ihnen einen Vortrag über die Herrlichkeit des Kriegs und zehn Cents zuteil werden.

Plötzlich verkündete Isaac: »Da ist eine!« Ein paar Schritte weiter wies ein Schild auf die Unity Art Gallery im Obergeschoss hin. Leah kannte die Unity nicht. Doch das wollte nichts heißen; jeden Tag eröffneten neue Galerien.

Sie stiegen eine steile Treppe hinauf in den ersten Stock zur Galerie, die aus drei kleinen Räumen mit niedriger Decke bestand. Die Wände waren voll mit Bildern, und mit sinkendem Mut erkannte Leah darin sofort die neuen kubistischen Werke von Walter Morris. Dann sah sie im Nebenraum, dem Eingang gegenüber und überlebensgroß, einen von seinen riesigen abstoßenden Akten. O Gott! Ihr Puls begann zu rasen, während sie sich umschaute, um sich zu vergewissern, dass Walter nicht da war.

»Joe«, sagte sie und versuchte dabei, möglichst unbeschwert zu klingen, »ich glaube, diese Gemälde sind nichts für deine Eltern.«

»Oh, doch«, dröhnte Papa und schritt unaufhaltsam an den kubistischen Gemälden im ersten Raum vorbei auf den großen Akt zu. Alle folgten; Leah bildete das Schlusslicht.

Plötzlich, mit einem Ruck, der sich anfühlte, als hätte sie jemand mitten auf die Brust geboxt, blieb Leah stocksteif stehen; dann wurde ihr kalt bis in die Fingerspitzen, und in ihren Ohren hob ein merkwürdiges Summen an. Würde sie ohnmächtig werden? Sie konnte es bloß hoffen.

Oh, lieber Gott, da war es. Nein, da war sie. Verdammter Walter! Er hatte es versprochen! Er hatte versprochen, es zu zerstören, es zu übermalen. Er war ein Lügner, ein teuflischer, bösartiger Lügner! Gleich würde sie tot umfallen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie konnte kein Wort äußern.

Die junge Frau sah so groß aus da oben an der Wand, in dem vergoldeten Holzrahmen, das Fleisch schimmernd vor Jugend und Gesundheit, eine weiche Hüfte vorgeschoben, die rosa Brustwarzen prall, die geschürzten Lippen in dem Gesicht – welches unverkennbar, ohne Zweifel, ihr Gesicht war – verführerisch gekräuselt.

Im Raum herrschte tiefste Stille. Niemand sprach. Niemand schien zu atmen. Leah konnte das beschleunigte Klopfen ihres Herzens hören wie einen Trommelwirbel. Sie konnte den Blick nicht von dem Gemälde wenden. Sie konnte nicht denken. Am liebsten hätte sie Walter Morris mit bloßen Händen umgebracht.

Und dann sagte Joe, ein bisschen zu ruhig und zu laut: »Nun, ich glaube, mehr müssen wir hier nicht sehen. Ich kenne einen viel besseren Laden, Papa, mit vielen blauen Bildern.«

Sie drehten sich alle um und gingen hinaus und ohne ein weiteres Wort die Treppe hinab. Unten auf der Straße begann Joe, rasch auszuschreiten und sie folgten ihm, ohne zu fragen, wohin er ging. Das Schweigen war geladen mit unausgesprochenen Anschuldigungen.

Abrupt blieb Isaac Lazarus stehen und wandte sich an seinen Sohn. »So vergiltst du mir also meine jahrelangen Investitionen in dich, Joseph!«

»Papa, ich...«

»Sei still! Fünfzig Dollar schicke ich dir jeden Monat, jeden Monat seit Jahren, weil ein Fotograf kein anständiges Auskommen hat, weil es dauert, bis er bekannt wird. Fünfzig Dollar schicke ich dir jeden Monat, und wenn ich dich bitte, dir ein nettes jüdisches Mädchen zu suchen, hörst du da zu? Nein, du legst dir eine Dirne zu, eine Hure, die nackt vor Fremden posiert und zulässt, dass man Bilder von ihr öffentlich aufhängt, sodass sie jeder sehen kann!

Haben Sie kein Schamgefühl?« Das war an Leah gerichtet; doch er wartete nicht auf die Antwort. Er drehte sich erneut zu Joe um. »Frauen sind anders als Männer, Joseph. Dein Leben lang sage ich dir das schon, aber du glaubst mir nicht. Frauen sind zu einem und nur einem einzigen Zweck auf der Welt – um einem Mann Gattin zu sein und seine Kinder zu gebären. Siehst du nicht, was geschieht, wenn sie gegen Gottes Willen handeln? Guck dir die Frauen in diesem Sündenpfuhl an, gekleidet wie Männer! Frauen, die rauchen! Frauen, die in Bars trinken! Frauen, die bemalt sind wie ordinäre Schlampen!«

Wieder wandte er sich Leah zu und funkelte sie an, als ob aus seinen Augen Dolche schössen und sie auf der Stelle töten könnten.

»Seit Jahren fragen mich meine Brüder, wann mein Jussele wohl anfangen wird, mir meine Investition zurückzuzahlen! Habe ich eine Antwort für sie? Ich habe keine Antwort für sie. Ich beuge das Haupt in Scham, weil mein einziger Sohn ein undankbarer Tunichtgut ist, der mein Geld nimmt und mir ins Gesicht spuckt!

Damit ist es vorbei! Es ist vorbei! Kein schtupping mehr mit Geld! Nicht, bis diese Hure aus deiner Wohnung verschwunden ist!«

»Es ist ebenso meine Wohnung!« Leah konnte es kaum glauben, dass es ihre Stimme war, die so schrie, ohne auch nur zu zittern. »Und es ist mein Leben! Es geht Sie nichts an, was ich tue, rein gar nichts! Und zu Ihrer Information, ich nehme kein Geld für das, was ich tue!«

Isaac färbte sich pflaumenblau, und er gab ein würgendes Geräusch von sich, sodass seine Frau zu ihm eilte und ihm die Hand auf den Arm legte.

»So ein pissk! Was für eine nafke!« Er spuckte aus. Leah hörte Zelda nach Luft schnappen; sonst sagte keiner ein Wort. »Mein Sohn wird zur Besinnung kommen!«, brüllte Isaac Lazarus sie an. »Und bis dahin keinen Penny mehr, nicht einen!«

»Papa! Bitte!«, rief Joe; doch der alte Mann drehte sich um und ging davon. Seine Frau trottete, schnell auf ihn einredend, neben ihm her. Zelda lief ihnen nach und kam dann zurückgerannt. Sie umarmte Leah rasch und flüsterte ihr ins Ohr, so leise, dass Leah es sich ebenso gut hätte einbilden können: »Ich finde Sie großartig. Ich hoffe, Joe heiratet Sie.« Und dann rannte sie los, um sich ihren Eltern anzuschließen, ehe sie merkten, dass sie zurückgeblieben war.

»Papa! Bitte!«, äffte Leah Joe nach, die Stimme voller Verachtung. »Dein Papa hat dich also all die Jahre ausgehalten. Und du hattest die Frechheit, dich als Künstler auszugeben, als unabhängig von der Gesellschaft! Du bist ein Schwindler, Joe Lazarus! Ich kenne dich nicht! Das habe ich wohl nie getan.« Sie kämpfte gegen die Tränen an. Sie würde nicht weinen. Sie würde sich nicht schwach und... weiblich zeigen.

Sie wandte sich von ihm ab und lief schnell die Straße entlang, ohne darauf zu achten, wohin sie ging. Es war ihr egal, solange sie nur fortkam von ihm. Sie konnte hören, wie er hinter ihr hergerannt kam und rief: »Ich bin ein Schwindler? Was ist mit dir? Nackt zu posieren und mir nie davon zu erzählen! Was glaubst du denn, wie ich mich gefühlt habe, als ich dich da an der Wand sah, wo alle Welt dich begaffen und begehren kann!«

Als Joe sie einholte, beschleunigte sie ihre Schritte. »Mein Körper gehört mir; ich kann damit tun, was ich will. Du warst derjenige, der Freiheit wollte. Aber als ich sie mir nahm, war das anders, stimmt’s?«

»Dein lockeres Mundwerk hat meinem Vater beinahe einen Herzinfarkt beschert. Er hat ein schwaches Herz, du hättest ihn umbringen können.«

Beide keuchten ein wenig und beschleunigten im Gehen das Tempo, schauten einander jedoch nicht an. »Das wäre aber schade gewesen! Die Gans zu schlachten, die die goldenen Eier legt!«

»Wir könnten nicht leben ohne das Geld, das er mir gibt!«

Vor ihrem Haus in der Barrow Street stritten sie sich darum, wer die Tür öffnen durfte. Joe gewann und Leah nutzte die Gelegenheit, an ihm vorbei die Treppe hinaufzueilen. Aber er war gleich hinter ihr.

An ihrer Wohnungstür ergriff er ihren Arm. »Leah, ich habe das Geld nur genommen, damit wir es uns leisten konnten, zusammenzuleben!«

»Den Teufel hast du getan!«

»Verdammt noch mal, nennst du mich einen Lügner?«

»Verdammt noch mal, Joe«, schrie sie, riss sich los und stürzte an ihm vorbei in das Apartment, panisch darauf aus, irgendwohin zu entfliehen. »Ich habe immer geglaubt, dich zu kennen, aber jetzt habe ich das Gefühl, ich weiß nicht mal mehr, ob ich überhaupt was weiß!« Sie hielt inne, weil sie merkte, wie lächerlich das klang. »Joe, ich weiß nicht mehr, wer du bist!«

Verzweifelt brach sie in Tränen aus und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Er schlang seine Arme um sie, murmelte ihr ins Ohr, küsste ihren Nacken, ihr Haar, was immer er erreichen konnte.

»Leah, ich bin es, ich bin es, hab keine Angst, ich habe mich nicht verändert. Ich bin noch derselbe Joe Lazarus, du wirst schon sehen. Ich bin es, der Mann, der dich liebt.«

Er bezirzte sie, er wickelte sie definitiv ein. Er war ein Charmeur und liebte sie ihn nicht dafür? »Aber du hast mich angelogen, Joe.«

Sie konnte das Grinsen in seiner Stimme hören. »Nein, habe ich nicht, ich habe es nur, äh... versäumt, dir was zu erzählen. Bitte, Schatz, das ist keine Lüge. Ich wusste, dass es dir nicht gefallen würde, und ich hatte Angst, dich zu verlieren. Und meine Familie... meine Eltern... Jetzt, wo du sie kennst, siehst du doch, in welcher Klemme ich stecke. Oder?«

»Ach Joe, es war so schrecklich!«

»Ich weiß, ich weiß...« Seine Hände waren mit ihrer Kleidung beschäftigt, seine Lippen auf ihrer Kehle und ihren Ohrläppchen, als er ihr, eine nach der anderen, die Perlenketten vom Hals nahm. »Sie sind schrecklich«, murmelte er erregt. »Aber sie sind meine Eltern, Leah...«

Und sie würde sich wohl einfach mit ihnen abfinden müssen. Doch jetzt streife Joe ihr das Hemdkleid ab und warf es quer durchs Zimmer; er sank auf die Knie, küsste ihren Bauch, zog ihr das Höschen von den Hüften. Alles Nachdenken setzte aus, als er seine Hose aufknöpfte, als er zwischen ihren Beinen, sie spreizend, auf die Knie fiel, als er sich steif, ekstatisch, prall in sie schob, keuchend, stöhnend, während er ihr in die Augen schaute und schneller, schneller, schneller zustieß, während er sein Leben in sie hineinpumpte. Zitternd, einander fest umklammernd, fielen sie zusammen auf den Teppich.

Plötzlich fingen beide an zu lachen. »Oh, Gott«, sagte Joe. »Der Ausdruck auf seinem Gesicht, als er erkannte, dass du das schöne Mädchen auf dem Gemälde bist!«

Leah hatte dasselbe vor Augen gehabt, ganz genau dasselbe! Nichts spielte eine Rolle, nichts zählte, nur, dass sie dasselbe dachten, dass sie verwandte Seelen waren. Was kümmerte sie seine Familie? Was konnte sie ihnen anhaben? Sie konnten ihnen nicht schaden, ihr und Joe, solange sie zusammenhielten. Denn so lange sie zusammenhielten, waren sie eine Familie, und zum Teufel mit allen anderen.

Die Patriarchin

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