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Oktober 1910

Norfolk Street Nr. 23, Ecke Hester Street, war kein Palast. Vier Wohnungen auf jeder Etage, zwei Toiletten im Treppenhaus, winzige Räume, voll gestopft und kalt, mit nur wenigen Fenstern, die ein Licht hereinließen, das ewig grau und schmutzig war. Ihr Zimmer lag auf der Rückseite der Roth’schen Wohnung. Doch ihr kleines Heim, dachte Leah, als sie eintraten, war viel hübscher als das der Familie Katz, wenn es auch nur aus einem Raum bestand. Sie und Annie hatten sich aus Stoffresten eine wunderschöne Tagesdecke genäht, und alle Regale waren an den Kanten mit Rüschen verziert. Und wenigstens war die Toilette nur ein paar Stufen den Flur hinab, nicht draußen auf dem Hof wie bei ihrem ersten Zimmer, wo sie selbst bei Eiseskälte und strömendem Regen die ganze Treppe hinunter ins Freie stolpern musste.

Heute war Samstag, und Leah und Annie waren vor dem Abendessen in die Badeanstalt auf der Cherry Street gegangen, um ihr wöchentliches Bad zu nehmen. Wenn man es denn so nennen konnte. Für zwei Cents bekam man ein Handtuch und einen Splitter Seife. Dann stieg man mit abgewendeten Augen in die große, runde Gemeinschaftswanne, wo das Wasser stets grau war und sich glitschig anfühlte. Man musste einfach beten, dass man sich nicht anderer Leute Bakterien einfing. Und wenn schon! Zumindest war man nass!

Sie hatten sich gegenseitig die Haare gewaschen, wobei ihnen die schlüpfrigen Seifenstückchen ständig aus den nassen Händen hüpften. Das fanden sie immer sehr lustig. Dann bürsteten sie einander das Haar, bis es glänzte. Annies dicke Locken versuchten stets, der Bürste Widerstand zu leisten, dann schrie sie: »Au!«, fügte aber schnell hinzu: »Nein, hör nicht auf. Zieh!« Letztlich nützte alles nichts. Annies Haar kräuselte und wellte sich, egal, wie lange sie es bürstete, oder wie fest sie daran zerrte.

»Mach dir nichts draus, Annie«, sagte Leah dann. »Du hast Naturlocken, und wenn du sie aufsteckst, halten sie. Nicht wie mein Haar, das rutscht gleich wieder aus den Nadeln. Am Ende eines Tanzes ist meine Frisur immer ganz schief und die Hälfte der Nadeln rausgefallen.«

»Deine Frisur spielt keine Rolle. Du bist so hübsch, Leah.«

»Und du auch. Willst du wissen, was dein Problem ist, Annie? Du hast nicht genug Selbstvertrauen. Ich weiß, ich weiß, du hast ein schweres Leben gehabt, und vieles ist schief gelaufen. Aber jetzt bist du mit mir zusammen, Annie, und ich bin ein Glückskind! Und das heißt, dass du auch Glück haben wirst.«

Nie würde sie den Tag vergessen, an dem Morris Levinsky Annie in der Fabrik an die Maschine neben ihr gesetzt hatte. Das Mädchen war ein Wrack, das sah man auf den ersten Blick. Die Augen niedergeschlagen, kaum in der Lage, ein »Ja, Sir« hervorzuquieken, als Levinsky ihr erklärte, was sie zu tun hätte, und dann bellte: »Verstanden? Verschteist du? Streng dich bloß an!«

»Ich werde mein Bestes tun«, sagte Annie mit ihrer leisen, zaghaften Stimme, doch bei ihrem starken Akzent klang es wie: »Ick wärrde meine Bässte tun.« Leah beschloss sofort, dem Mädchen beim Englischlernen zu helfen.

Sie lächelte. »Du bist eine griene

Die blasse Haut färbte sich. »Mein Englisch ist nicht so gut. Ich versuche... ich, wie sagt man, ich übe, aber...«

»Macht nichts, ich werde dir helfen.«

»Oh, ich werde nie so gut sprechen, so wie du.«

»Ich bin schon seit zehn Jahren hier. Deshalb habe ich keinen Akzent. Nicht, weil ich was Besonderes bin.« Doch Annie Bernstein schaute zweifelnd drein. In dem Moment brüllte Levinsky los, und Leah sagte: »Wir sollten lieber mit der Arbeit anfangen, sonst setzt dich Morris der Schreckliche noch woandershin.«

In der Mittagspause wandte sich Leah an die Neue und sagte: »Komm mit, wir holen uns was zu essen. Ich heiße Leah Vogel.«

»Und ich Anna Bernstein – genannt Annie.«

Leah ging mit Annie die Straße hinunter zu Mrs. Silverman, die in ihrer Küche Teigtaschen zubereitete und sie an die berufstätigen Mädchen des Viertels verkaufte. Man bekam auch ein Glas Tee bei ihr. Obgleich sie ihr Mittagsmahl gemeinsam einnahmen, war Annie nach dem Läuten der Feierabendglocke in der Menge verschwunden. Als Leah jedoch auf die Straße trat, hielt sie nach ihr Ausschau. Und tatsächlich, da war Anna Bernstein, hinter den anderen zurückgeblieben, ganz allein, verloren wirkend. Leah wartete auf sie und sagte, als sie näher kam: »Nu, Annie? Wo wohnst du? Ich komme ein Stück mit.«

Zuerst lächelte Annie, aber ein zittriges Lächeln, und plötzlich brach sie in Tränen aus. »Du weißt nicht, wo du hinsollst«, riet Leah.

Annie nickte und weinte noch heftiger. Und dann erzählte sie Leah die ganze Geschichte, wie sie ihren grausamen Verwandten weggelaufen war. Wie sie von einem Mann, der ihr Hilfe versprochen hatte, getäuscht worden war und allen Mut zusammengenommen hatte und ihm mit nichts weiter als den Kleidern, die sie trug, entflohen war. »Ich habe nichts!«, weinte sie. »Nicht mal ein zweites Kleid.«

»Hör zu. Heute Abend kommst du mit zu mir, und morgen suchen wir uns ein größeres Zimmer. Wie wär’s? Wir gehen morgen zu Deena mit ihrem Karren und suchen die Kleider aus. Sie hat gute gebrauchte Sachen, zum Teil von reichen Frauen, und alle spottbillig. Du wirst sehen... ich kann handeln. Ich schließe ein gutes Geschäft für dich ab!«

So hatte es begonnen. Leah wünschte nur, dass Annie ein bisschen mehr Schneid hätte, dass sie ein bisschen mehr vom Leben wollte. Aber ihre Träume waren gewöhnliche Träume: einen Mann zu heiraten, der sie nicht schlug, Kinder zu haben, den Haushalt zu führen und eine gute Ehefrau zu sein. Es kostete Leah all ihre Überzeugungskraft, Annie dazu zu bewegen, dass sie im Englischkurs blieb. Sie musste jedes Mal mit ihr zur Alliance gehen und sie immer wieder ans Lernen erinnern, denn sie würden Lehrerinnen werden. Jemand sein! Nicht nur die Ehefrau irgendeines Mannes.

Während sie sich anzogen und das Haar hochsteckten, sagte Annie: »Mr. Katz, ich wünschte, er würde keine Scherze mit mir machen. Ich fühle mich unwohl dabei. Ich weiß nicht, was ich ihn antworten soll.«

»›Ihm antworten‹... nicht ›ihn‹«, korrigierte Leah automatisch.

»Ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll, und ich tu es nicht mögen.«

›»Ich mag es nicht.‹ Annie, Katz ist eigentlich noch besser als die meisten Männer. Wenigstens liebt er seine Töchter. Man hört nie, dass er sich beschwert, sie seien zu nichts nutze, ein Mann brauche Söhne. Die meisten Männer in dieser Gegend, die denken immer noch, dass sie wie in der alten Heimat den ganzen Tag lang in der Schul sitzen und mit Gott sprechen müssen. Und wer erledigt unterdessen alles andere? Sag’s mir, Annie, wer?«

»Ich weiß nicht, Leah.«

»Ihre Frauen, Annie, die Frauen!« Aufgebracht, wie sie war, zog sie zu fest an der Miederschnur, und Annie protestierte quietschend. »Entschuldige, Annie, aber mach doch nur die Augen auf und guck dich um! Mrs. Katz, Annie, hat sie nicht immer haufenweise Heimarbeit? Kragen an Hemden nähen, das tut sie, nachdem sie gekocht hat, nachdem sie das Essen serviert, aufgeräumt und die Kinder zu Bett gebracht hat. Danach näht sie. Und sieh sie dir an! Verlebt ist sie und die Hälfte ihrer Zähne fehlt! Nicht mit mir, Annie, ich schwöre bei Gott, dass ich nicht so werde. Und wenn ich dich an den Haaren hinter mir herziehen muss, du auch nicht!«

»Ich möchte nur eine eigene Familie«, sagte Annie. »Das reicht mir.«

»Hör zu, im Staat Washington – das ist ein Staat weit draußen im Westen, nicht Washington, D.C., wo der Präsident ist...« Leah war stolz auf ihre Kenntnisse. Nun, man musste eine Menge wissen, wenn man eingebürgert werden wollte. Und das wollte sie! »Er ist Tausende von Meilen von New York entfernt, aber er gehört immer noch zu Amerika.«

Annie schüttelte den Kopf vor Verwunderung über die ungeheure Größe des Landes. »Und gibt es da Juden, im Staat Washington, Leah?«

»Bestimmt gibt es die! Aber was ich dir erzählen wollte, Annie: Der Staat Washington hat den Frauen gerade das Wahlrecht gegeben. Ist dir klar, was das bedeutet? Dass eine Frau im Staat Washington wählen gehen kann, genau wie ein Mann!«

»Ich will nicht wählen«, sagte Annie, »ich möchte heiraten und eine eigene Familie haben.«

»Ich bin deine Familie«, sagte Leah, so entschieden, dass sie es fast selbst glaubte.

Endlich waren sie fertig zum Ausgehen und trugen ihre besten Kleider aus Bombassin, Annies blau, Leahs weinrot. Sie hatten nachmittags in dem kleinen Laden vorbeigeschaut, wo Mr. Marcus Textilien verkaufte, und neue Bänder für ihre Medaillons erstanden, passend zu den Kleidern. Sie banden sich die Medaillons um und steckten dann die Köpfe eng zusammen, um in den Spiegel zu gucken.

»Du bist so schön, Leah!« Das sagte Annie immer.

»Du auch, liebste Annie!«

»Ich bin nicht so klug wie du, aber ich habe Augen im Kopf.«

»Pah! Für mich bist du schön und das heißt, dass du schön bist.«

Sie lachten beide, während sie die Treppe hinunter und aus dem Haus liefen. Obgleich es ein kühler Abend war, saßen etliche Großmütter und Großväter vor dem Gebäude und klagten einander, wie schrecklich ihre Kinder sie behandelten. Leah wäre am liebsten stehen geblieben und hätte gefragt, was sie tun würden, wenn ihre Kinder sie nicht aufnehmen, ihnen ein Bett und zu essen geben würden. Sie würden verhungern oder erfrieren, und dann hätte Leah sie gern einmal jammern gehört!

»Los, Annie, komm bloß weg hier. Mir wird ganz schlecht von dem Genörgel!«

»Leah, so solltest du in ihrer Gegenwart nicht reden!«

»Was wollen sie überhaupt? Puh, wer braucht sie schon? Ich bin froh, dass ich keine Eltern habe, die mir zur Last fallen!«

»Beiß dir auf die Zunge!«

»Ach, Annie, so ein Aberglaube!« Aber sie musste einräumen, dass sie bei ihrer Äußerung einen stechenden Schmerz verspürt hatte. Vielleicht lebte ihre Mutter noch. Sie wusste es nicht mit Gewissheit. Es konnte sein, dass sie in diesem Viertel wohnte; vielleicht waren sie schon hundertmal aneinander vorbeigegangen und hatten es nicht bemerkt. Oder sich nicht erkannt. Würde sie nach so vielen Jahren noch wissen, wie ihre Mutter aussah? Würde ihre Mutter sie erkennen?

Was ihren Vater betraf... ihre Gedanken wandten sich rasch von ihm ab, wie immer. Trotzdem, sie erinnerte sich deutlich daran, wie sie auf Ellis Island auf ihn warten mussten. Er war nicht da, um sie abzuholen. Ihre Mutter rannte hin und her, hielt durch den Zaun Ausschau nach ihm, rang die Hände und rief Gott an, er möge sie vor der Niedertracht der Menschen beschützen.

Sie mussten über Nacht auf Ellis Island bleiben. Sie mussten in dem riesigen, hallenden Speisesaal mit den langen schweren Tischen und den vielen Fremden essen, die so viele verschiedene Sprachen sprachen. Leah gefiel Ellis Island. Es stank nicht nach verfaultem Fisch wie das Schiff, und sie war endlich von dem furchtbaren Rasseln und Stampfen der Maschinen erlöst. Und es gab andere Kinder hier; sie spielten zusammen, dachten sich Spiele ohne Wörter aus. Die anderen Mütter lächelten sie an und tätschelten ihr die Wangen. Das kleine Haus am Rand von Kiew, die rissige Straße und den Gemüsegarten hatte sie bereits vergessen.

Bald würde ihr Täte sie abholen kommen, und dann würde ihre Mutter aufhören zu jammern, und dann würden sie glücklich zusammenleben bis ans Ende ihrer Tage. Sie betete darum; es war so schrecklich, wenn ihre Mutter unglücklich war.

Er musste gekommen und es musste eine fröhliche Wiedervereinigung gewesen sein, aber sie entsann sich nicht. In der einen Minute war er noch nicht da, und in der nächsten stieg sie schon in New York von der Fähre und ging zwischen ihrem Vater und Mama, während diese über ihren Kopf hinweg redeten. Die Stadt! Der Lärm, das Getöse, der Gestank nach Fisch – schon wieder! Lange Zeit dachte sie, fauliger Fisch sei der Geruch der Neuen Welt. Rufe von Matrosen hoch oben im Takelwerk der Schiffe, heulende Sirenen, läutende Glocken, hoch beladene Wagen – in alle Richtungen rollend, so schien es dem kleinen Mädchen –, gezogen von großen, schnaubenden Pferden und gelenkt von Männern, die Worte riefen und grölten, die sie noch nie gehört hatte.

So viele Jungen waren da gewesen, erinnerte sie sich, Jungen mit Knickerbockers und Mützen, die auf ihre Eltern zeigten und in einer fremden Sprache johlten und schrien. Sie drängte sich enger an das Bein ihres Vaters; sie entsann sich, dass er zu ihr herabschaute, lächelte und ihre Hand drückte.

»Nimm sie auf den Arm, Jake. Sie ist so klein.«

»Ein großes Mädchen wie sie? Tragen? Was meinst du, Kleines? Soll Täte dich tragen wie ein Baby?«

»Oh, ja!« Er bückte sich lachend, um sie auf den Arm zu nehmen, und nun war sie, hoch oben über der Fremdheit und dem Getöse, endlich in Sicherheit.

Bald kamen sie zu einer großen, breiten Straße, gesäumt von hohen Gebäuden und voll mit Pferden, Wagen, Karren und Menschen, hunderten und hunderten von Menschen, die sich alle so schnell wie möglich bewegten, einander anrempelten, brüllten, kreischten, riefen. Über ihrem Kopf quoll Rauch aus einem rumpelnden Ungeheuer, das Funkenschauer auf sie niederregnen ließ. Sie fing an zu weinen, barg ihren Kopf an Tates Schulter und schluchzte: »Wilde chaje, wilde chaje!«

»Sch, sch, mamele. Das ist bloß ein Zug. Kannst du ›Zug‹ sagen? Es ist die Hochbahn. Eine Maschine, mit der Leute fahren. Bald nehme ich dich mit auf eine Fahrt, und du wirst sehen, dass sie kein wildes Tier ist. Okay? Okay?«

Das Wort hörte sie zum ersten Mal, und zaghaft probierte sie es aus. »Hokay.«

Tate lachte und gab ihr einen Kuss. »Du wirst dich gut machen, mein hübsches grienele, mein allerliebstes Greenhorn! Du wirst dich gut machen in Amerika!«

Und sie hatte sich gemacht, aber nicht dank seiner! Wie gewöhnlich war ihre Wut das Signal dafür, dass sie aufhören musste, an ihn zu denken. Sie war erleichtert, als Annie begann, über den Edison-Phonographen zu sprechen, für den sie sparten. Annie liebte jede Art von Tanzmusik, je schneller, desto besser; sie war auch eine sehr gute Tänzerin. Das war wirklich eine Überraschung. Das Mädchen, das über seine eigenen Füße stolperte, das dauernd an irgendetwas stieß und Sachen umwarf, das nicht zu wissen schien, wo der eigene Körper begann und endete... wenn man dieses Mädchen auf den Tanzboden stellte und Musik spielte, war es wie verwandelt. Annies Füße mussten nicht überlegen, wie sie sich bewegen sollten, sie bewegten sich einfach. Allerdings konnte sie nicht singen, nicht die einfachste Melodie halten und, was am schlimmsten war, sie hörte nicht, wenn sie falsch sang. Leah hatte nicht das Herz, es ihr zu sagen, aber sie litt sehr, wenn sie zusammen sangen!

Da die eine Sängerin und die andere Tänzerin war, verwunderte es nicht, dass es ihr Lieblingstraum war, genug Geld zu besitzen, um einen der neuen Edison-Phonographen erstehen zu können. Sie waren im Nordteil der Stadt einkaufen gewesen und hatten am Herald Square ein hohes Gebäude mit einer riesigen Tafel gesehen, auf der der Phonograph abgebildet war und in großen Buchstaben stand: DER EDISON-PHONOGRAPH BRINGT MUSIK IN JEDES HEIM.

Das waren magische Worte für Leah und Annie. Wenn sie sich etwas wünschten, dann Musik in ihrem Heim. Leah wusste, dass sie es sich nicht leisten konnten, doch bei Annie war das etwas anderes. Für sie waren Träume nur einen Schritt weit von der Realität entfernt. Also aß sie eine Woche lang nicht zu Mittag, um Geld zu sparen, bis sie eines Nachmittags vor Entkräftung über ihrer Arbeit ohnmächtig wurde. Leah musste sie ausschimpfen.

»Kein Hungern mehr, hörst du, Annie?«, sagte sie. »Ich helfe dir beim Sparen, und ehe du dich versiehst, haben wir unseren Edison. Aber kein Tag mehr ohne regelmäßige Mahlzeiten! Abgemacht?«

»Gemacht«, willigte Annie ein. Ihr Englisch war immer noch überwiegend Glückssache. Doch allmählich, fand Leah, verbesserte es sich, wenn auch langsam.

Die Straßen der Lower East Side waren belebt am Samstagabend. Der Tag der Ruhe, des Gebets und der Kontemplation war vorüber und es war an der Zeit, sich zu vergnügen... für manche auch Zeit, an die Arbeit zurückzukehren. Viele Fabriken, die zum Schabbes schlössen, öffneten ihre Tore wieder, sobald im Westen die Sonne unterging; und die Straßen, auf denen man die Woche über keine Männer sah, füllten sich jetzt mit ihnen, da sie erneut an die Arbeit gingen, damit ihre Kinder nicht verhungerten. Hausierer waren unterwegs, um ihre Waren zu verhökern, Bäckereien waren offen, und junge, fein herausgeputzte Leute drängten sich in die vielen Tanzsäle, die die Delancey Street, die Hester Street und die Norfolk Street säumten. Jedes zweite Gebäude hatte im ersten Stock einen Tanzsaal, wo am Samstagabend Musiker die neuesten jiddischen wie englischsprachigen Melodien aus Bühnenstücken und die neuen Schlager der Reklamesänger spielten.

Während sie dahinschlenderten, die jungen Männer beäugend, die sie beäugten, und stehen blieben, um ein Stück Stoff oder einen Hut zu bewundern, hörten sie Fiedel, Saxofon und Akkordeon »Let Me Call you Sweetheart« und »Minnie the Moocher« und »Put Your Arms Around Me, Honey, Hold Me Tight« dudeln.

Annie zupfte Leah am Ärmel und klopfte ungeduldig mit den Füßen auf den Boden, wenn Leah innehielt, um sich etwas anzuschauen oder mit jemandem zu reden.

»Komm, Leah, sie fangen schon an. Die ganze Woche warte ich darauf, am Samstagabend zu tanzen. Komm, komm!«

Leah ließ sich mitziehen. Sie wollte Annie nicht merken lassen, dass sie hoffte, Joe Lazarus zu sehen. Sie fragte sich, ob er in dieser Gegend wohnte, ob er am Samstagabend wohl zu den Tanzveranstaltungen ging. Oh, wie sehr sie das hoffte! Es war dumm von ihr, das wusste sie. Joe Lazarus machte seine Geschäfte in Coney Island und lebte wahrscheinlich im weit entfernten Brooklyn. Überhaupt, was ging Joe Lazarus sie an – schließlich war er nur der Mann, an den sie ständig dachte, von dem sie träumte und nach dem sie jedes Mal Ausschau hielt, wenn sie ausging.

Also stiegen sie die Treppe hinauf und traten in den Tanzsaal. Die Wände entlang waren Stühle aufgereiht und die Jungen saßen oder standen auf der einen Seite, die Mädchen auf der anderen, aneinander gelehnt, plaudernd und kichernd, während ihre Blicke über die Reihe gegenüber wanderten.

Natürlich keine Spur von Joe Lazarus, aber Leah war nicht überrascht, Harry Fink zu erblicken. Er grinste breit, als er sie sah, kam gleich herbei, verbeugte sich tief und fragte, ob er wohl die Ehre und das Privileg haben dürfe. Sie konnte nicht anders, als über ihn lachen; er war so gut gelaunt und witzig. Und sie wusste, dass er es darauf anlegte, dort zu sein, wo sie war, wenn er die Möglichkeit hatte.

»Können Sie den Turkey Trot, Miss Vogel?«

»Natürlich.« Wer konnte den Turkey Trot nicht? Er war der letzte Schrei. »Ich finde ihn nicht unanständig, Mr. Fink. Sie?«

»Ich? Ich finde, Männer und Frauen sollten immer so eng tanzen.«

Sie lachten und begannen zu tanzen. »Ich habe gelesen, dass Mr. Bok, der Chefredakteur vom Ladys’ Home Journal, fünfzehn Mädchen vom Fleck weg gefeuert hat, als sie in der Mittagspause Turkey Trot tanzten«, erzählte sie ihm.

»Die Leute sind verrückt, wissen Sie. Besonders, wenn sie alt werden! Nun, darüber singen wir ein kleines Liedchen«, sagte er mit einem Lachen und drückte sie enger an sich, um ihr ins Ohr zu singen: »›Rosie, Rosie Rosenblatt... tanz bloß nicht den Turkey Trot!‹ Aber wir tanzen ihn, stimmt’s, Miss Vogel, weil wir echte Yankees sind und alle Tiertänze tanzen. Den Grizzly Bear...«

»Den Bunny Hug«, ergänzte Leah und wieder lachten sie.

Harry Fink war kein sehr begabter Tänzer, doch er machte witzige Bemerkungen über alle anderen auf der Tanzfläche und unterhielt sie so gut, dass es ihr kaum auffiel. Es war schade, dass sie sich nicht für ihn erwärmen konnte; es war eine richtige Schande. Aber entweder der Funke war da oder nicht. Im Fall von Harry Fink war er nicht da.

Er bemerkte, wie Annie tanzte; sie fiel jedem auf. »Oh, sehen Sie sich Ihre Freundin an. Sie ist großartig.«

»Warum fordern Sie sie dann nicht zum Tanzen auf?«

»Ich bin lieber mit Ihnen zusammen und lasse mir auf die Zehen trampeln.«

»So eine Frechheit! Ich habe Ihnen nicht – ach so. Ein Scherz.«

»Ein schlechter, ich verstehe. Jedenfalls bin ich lieber mit Ihnen zusammen.«

»Es tut mir Leid, das zu hören, Mr. Fink. Mir wäre es lieber, Sie tanzten mit meiner Freundin Annie.«

Er wurde rot, und sie bedauerte sofort, dass sie so grob gewesen war. Er schien so unbeschwert, dass sie nicht gedacht hatte, es würde ihn verletzen. »Offener kann man wohl nicht sein. Ich sollte dankbar sein. Aber ehrlich gesagt, Miss Vogel, ich bin es nicht.«

»Hören Sie, es tut mir wirklich Leid.«

Er winkte ab. »Ja, ja. Vielleicht sollten Sie versuchen, mit Ihrem Mundwerk etwas vorsichtiger umzugehen. Aber Ihren Rat nehme ich trotzdem an.« Und er war verschwunden, ließ sie wie eine Idiotin mitten auf der Tanzfläche stehen, während er sich vor Annie verbeugte und etwas sagte, das sie erröten ließ.

Der Rest des Abends verlief wie immer. Leah tanzte, plauderte, lächelte, tanzte wieder. Warum fand sie keinen Mann, der ihr gefiel? Die Mädchen in der Fabrik meinten, sie sei zu wählerisch und eigen; vielleicht hatten sie Recht. Aber sie wollte nicht einfach irgendeinen nehmen; sie wollte sich nicht mit einem Mann zufrieden geben, der nur ganz nett war. Sie wollte, dass sich ihr Kopf drehte und ihr Herz aussetzte... sie wollte Feuerwerk und Sternschnuppen und... und alles! Vielleicht könnte Joe Lazarus ihr das geben, doch es sah nicht so aus, als würde sie ihn je wieder sehen, also konnte sie ihn genauso gut vergessen.

Mehrere junge Männer baten darum, sie nach Hause begleiten zu dürfen, aber am Schluss gingen sie und Annie allein. Sie wusste, dass Annie enttäuscht war, doch Annie musste einfach höhere Ziele anstreben, das war alles.

Du wirst sehen, Annie, gelobte Leah schweigend, während sie losmarschierte und das andere Mädchen mit sich zog. Eines Tages, wenn wir verhutzelte alte Damen sind und auf unser erfolgreiches und unabhängiges Leben zurückblicken, wirst du es erkennen. Und dann wirst du sagen: »Leah, weißt du was? Du hattest die ganze Zeit Recht.«

Die Patriarchin

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