Читать книгу Die Patriarchin - Marcia Rose - Страница 3

PROLOG

Оглавление

18. Juni 1990

Noch vor zehn Minuten hatte der Himmel über der Willow Street das tiefe Blauschwarz der Nacht aufgewiesen, mit einem ganz schwachen Anflug von dunstigem Weiß am Horizont. Jetzt plötzlich war er ein fahles, nahezu farbloses Gewölbe, das sich über die Welt spannte. Wie das Innere einer Eierschale, dachte Leah Lazarus, auf die Fensterbank gestützt, die Arme auf einem Kissen. Neuerdings waren ihre Ellbogen immer steif. Arthritis. Bursitis. Irgendein Zipperlein, um sie daran zu erinnern, dass sie mit sechsundneunzig zwar noch leben mochte, zur Hochnäsigkeit aber kein Grund bestand.

Sie atmete die süße Juniluft ein; der herrliche Duft stammte von dem Baum, der vor ihrem Haus stand. Jedes Jahr im Frühling verströmte er ihn. Komisch, sie wohnte jetzt seit fast fünfzig Jahren hier und wusste den Namen des Baums immer noch nicht.

Sie sollte sich wohl anziehen; Annie hatte verkündet, sie werde sie früh abholen. Und sie brauchte zurzeit weiß Gott ziemlich lang, um sich anzuziehen! Annie hatte für heute etwas Besonderes geplant – ein Geburtstagsgeschenk, hatte sie gesagt, und Leah solle sich bemühen, nicht zu spät dran zu sein.

Doch die Morgendämmerung war ihre Lieblingszeit, jene magische Stunde, wenn es nicht mehr Nacht, aber auch noch nicht Tag war... wenn die Schatten von Purpur zu Blassblau wechselten und selbst die Luft erwartungsvoll verstummte. Sie war seit drei Uhr auf – es geschah in letzter Zeit immer öfter, dass ihre Augen mitten in der Nacht aufflogen und sie, meist mit einer Erinnerung an etwas längst Vergangenes, hellwach war. Nun, das durfte sie nicht überraschen; sie war in ihr Buch vertieft... nicht Memoiren, das war ein zu hochgestochenes Wort. Es war ein Buch der Erinnerungen. Sie wurde heute sechsundneunzig, und sie erinnerte sich an alles, auch an die schlechten Zeiten. Oh, ja, es hatte eine Menge schlechter Zeiten gegeben.

Wie es war, so nannte sie es, obgleich ihr Agent betrübt den Kopf schüttelte und sagte, er wisse nicht, wer ein Buch mit diesem Titel aussuchen würde. Wenn der Verleger darauf bestand, dass sie ihn änderte, nun, dann würde sie sehen. Bis dahin blieb Wie es war wie es war.

Draußen kam eine Gruppe Spaziergänger vorbei, die sich mit lautem Oh und Ah über die hübsche Straße, die altmodischen Häuser, die ehrwürdigen Bäume ausließen. Um diese Morgenstunde! Sie sollten sich schämen; noch besser, sie sollten im Bett sein und schlafen, statt die Straßen zu bevölkern und das ganze Viertel aufzuwecken.

Willow Street Nr. 202, ein kleines Holzhaus, hellgrau gestrichen, mit schwarzer Tür und schwarzen Fensterläden, wirkte neben seinen Nachbarn ein bisschen fehl am Platz, breiten und geräumigen rötlichbraunen Sandsteinhäusern, von reichen Geschäftsleuten für ihre Frauen und großen Familien erbaut. Es waren prachtvolle Gebäude, Zeugen des Wohlstands mit verschnörkelten schmiedeeisernen Geländern, kunstvoll gemeißelten Tür- und Fensterstürzen und Steinvasen, gefüllt mit Petunien und Portulak. Im Gegensatz dazu sah Nr. 202 wie dazwischengekritzelt aus, wie die Kinderzeichnung von einem Haus; die Eingangstür in der Mitte, je ein Fenster ohne Gardinen zu beiden Seiten und vier gleichmäßig verteilte Fenster im Obergeschoss. Der einzige Schmuck des Hauses bestand aus einem kleinen Steinengel, der bescheiden neben der Eingangstür kniete und, ehrlich gesagt, deplatziert wirkte. Aber egal, er hatte ideellen Wert.

In den Häusern gegenüber wurden Fensterläden aufgeklappt und Rollos hochgezogen. Als sie auf ihr Handgelenk blickte, konnte Leah die Ziffern auf der übergroßen Armbanduhr ausmachen, die die junge Annie ihr geschenkt hatte. O Gott, sieben schon? Zeit, dass sie in die Gänge kam.

Sie stemmte sich hoch und ging zu der großen Frisierkommode, wo sie eine der Lampen mit rosa Schirmchen anknipste. Sie hatte bereits geduscht und sich in einen Männermorgenmantel aus verblichenem Brokat gehüllt. Er wies inzwischen eine Art staubiges Rosé auf, obgleich er einst tiefbraun gewesen war. Sie hatte das Gefühl, wie die schwere Seide über ihre Haut glitt, immer geliebt; je älter der Stoff wurde, desto weicher wurde er. Manchmal dachte sie, aus den Falten steige ihr der Geruch von Pimentöl in die Nase, doch sie wusste, dass das Unsinn war. Der Mantel wurde seit Ewigkeiten nicht mehr von seinem ursprünglichen Besitzer getragen. Seit wann... dreißig Jahren? Sie hielt einen Moment inne, um nachzurechnen, und stellte schockiert fest, dass es eher fünfzig Jahre waren. Gott, so lange her!

Sie hatte den Morgenmantel für Jim gekauft. Sie griff an die Brusttasche und zog mit den Fingerspitzen die verschlungenen, eingestickten Initialen nach, die sie von einer Näherin in London hatte anfertigen lassen.

Sie erinnerte sich noch heute daran, wie schuldbewusst ihr Herz geklopft hatte, als Jim den Mantel aus der glänzenden Harrods-Schachtel nahm. Aber er hatte nie etwas von ihrer flüchtigen Londoner Affäre geahnt und sie hatte ihm nie von Emile erzählt. Mittlerweile war die Stickerei so verblasst, dass sie kaum mehr zu sehen war. Doch zu fühlen war sie noch. J.W.M., in kunstvoll verschnörkelter Schreibschrift. Auffällig wie Jim McCready selbst.

Big Jim McCready, stets überlebensgroß. Wieder verspürte sie den seltsamen kleinen Stich in der Brust. Jim war seit so vielen Jahren tot, Emile ebenfalls. Und Joe Lazarus. Annie Bernstein. Jeder Mensch aus ihrer Jugend. Ihr Leben gehörte allmählich grauer Vorzeit an.

Sie lockerte ihr feuchtes Haar mit den Fingern auf, ohne in den Spiegel zu gucken. Es war von Natur aus lockig, und sie trug es kurz, damit sie keine großen Umstände damit hatte. Gott, früher gingen ihr die Haare bis zum Po! Sie lachte, als sie sich daran erinnerte, wie lang es gedauert hatte, sie zu waschen; wie lang, bis sie trocken waren. Und dann musste man sie jeden Abend mit hundert Strichen bürsten, damit sie immer schön glänzten. In jenen Tagen zeigte sich die Schönheit einer Frau, möglicherweise ihre einzige, in ihrem Haar. Keine anständige Frau trug Rouge oder Puder; man musste mit dem Gesicht in die Welt hinausspazieren, das Gott einem gegeben hatte. Aber mit dem Haar durfte man etwas anstellen, es hochstecken, flechten, locken, zum Knoten zwirbeln.

Sie und Annie Bernstein hatten sich einmal pro Woche in der Badeanstalt in der Cherry Street gegenseitig die Haare gewaschen und waren dann mit Turbanen, wie Araber sie trugen, nach Hause gelaufen. Und während ihr Haar trocknete, redeten sie über ihre Träume und ihre Pläne. Sie waren ganz einfach Teenager. Doch in jenen Tagen war man mit sechzehn eine junge Dame, ein berufstätiges Mädchen, eine unabhängige Frau.

Den Gürtel lösend, ließ Leah den schweren Morgenmantel zu Boden gleiten, während sie in ihren Kleiderschrank schaute. Sie würde etwas Funkelnagelneues anziehen, beschloss sie. Die junge Annie war letzte Woche mit ihr zu Loehmann’s in Brooklyn gegangen, wo Leah mehrere Sachen nach dem neuesten Schrei gekauft hatte. Hosen waren wieder in Mode; sie war froh darüber. Wer konnte sich schon ständig Gedanken über die Rocklänge machen... bis übers Knie, bis zu den Oberschenkeln, bis zu den Fesseln! Sie holte die Seidenhose hervor und die bedruckte Seidentunika. Perfekt. Genau ihre Farben. Nachdem sie angezogen war, drehte sie sich in einem bedächtigen Foxtrott durchs Zimmer – ihre Knie waren auch nicht mehr die besten – und sang: »My funny valentine... Sweet comic valentine...« Mochte ihr in letzter Zeit auch nicht mehr jeder Name einfallen, so erinnerte sie sich doch noch an alle Liedtexte, die sie je gekannt hatte. Sie tanzte und sang, bis sie außer Atem war.

Darüber lachend, was für eine alte Närrin sie war, schaute sich Leah in ihrem Schlafzimmer um, einem Raum, der ihr so vertraut war, dass sie ihn nicht hätte beschreiben können. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs lebte sie hier. Eine lange Zeit. Was sagte ihr Zimmer über sie aus, fragte sie sich. Ein großes Bett, obgleich sie inzwischen allein schlief. Gegenüber ein Kamin, der nie richtig funktioniert hatte und dessen Marmorsims überquoll von Fotos, zum Teil Porträts, zum Teil Aufnahmen von Familien in heruntergekommenen Wohnungen, alle mit jenem starren Gesichtsausdruck, den die Leute früher hatten, als das Fotografieren noch nicht so schnell ging.

Der Raum war mit zu vielen Möbeln, zu vielen Bildern voll gestopft. Aber an jedem Gegenstand hing eine Erinnerung. Der Weinfleck auf der Chaiselongue von der Auseinandersetzung, bei der sie ein volles Glas nach Jim geworfen und nicht getroffen hatte. Der hölzerne Schaukelstuhl aus der Lower East Side – das einzige Überbleibsel von dort. Die Wände waren bedeckt mit Gemälden und Fotografien, Titelseiten alter Zeitschriften aus Village-Tagen, Theaterplakaten und Veranstaltungs-, Demonstrations- und Vortragsankündigungen.

Über dem Kamin, wo sie jeden Tag damit konfrontiert war, hing das große Ölbild einer nackten Frau, eines Mädchens eigentlich, das sich in einem riesigen thronartigen Sessel rekelte, schmollend unter dunklen Brauen hervorschaute, ein leicht provozierendes Lächeln auf den Lippen. Leah ging hin, berührte die Leinwand sacht mit den Fingerspitzen und erwiderte das Lächeln des jungen Modells. Jim hatte ihr das Bild gekauft und einem Eisenbahnmagnaten, der die Wände eines ganzen Zimmers mit nackten Frauen tapeziert hatte, viel zu viel Geld dafür gezahlt. »Jetzt wirst du dich ja wohl von Ärger fernhalten«, sagte er an dem Tag zu ihr, als das Bild in einer Holzkiste geliefert wurde. Während sie ihn fest umarmte, antwortete sie: »Nun, ich verspreche zumindest, dass ich vor einem Mann mit einem Malerpinsel in der Hand nie wieder die Kleider ablege.« Leah nahm an, dass es inzwischen eine Menge wert war; Walter Morris wurde gerade zum zweiten oder dritten Mal »wiederentdeckt«. Aber sie würde es nie verkaufen. Zu viel in ihrem Leben verband sie damit.

Leah schaute auf ihre Armbanduhr. Annie würde jede Minute klingeln und sie dachte hier über alten Unsinn nach, statt sich ausgehfertig zu machen! Sie marschierte zu der großen Lackkommode, die sie bei einer Auktion erstanden hatte, kurz nachdem Jim... nein, nein, keine Erinnerungen mehr! Sie fing an, ihre Schmuckschublade zu durchsuchen.

Ach, da war es ja, in einem abgenutzten schwarzen Kästchen – ihr Medaillon. Sie und Annie Bernstein hatten sich 1910 zu ihrem Geburtstag gegenseitig Medaillons geschenkt. Sie hatte eigentlich beabsichtigt, dass jede Frau in ihrer Familie es trüge; doch das hatte nicht sein sollen. Seufzend fuhr sie mit dem Daumen über den Deckel. Sie spürte kaum noch, dass dort einmal ein Muster eingraviert gewesen war. Dann öffnete sie das Medaillon und betrachtete die beiden braunen und verblichenen Fotos. Sie kannte diese Bilder in- und auswendig: Annie Bernstein, hellhäutig und sommersprossig, deren krause rotblonde Haare ständig den Nadeln entwischten; und auf dem zweiten Leah Vogel, die Lippen gegen ein Lächeln ankämpfend, mit dunklen Augen, die sogar auf dieser alten Fotografie vor Übermut blitzten.

Leah steckte das Medaillon in ihre Handtasche. Es war an der Zeit, es der jungen Annie zu geben. Es konnte kein Unglück mehr bringen; zu viele Jahre waren vergangen. Annie sollte es haben. Annie Diamond war eine Frau vom alten Schlag, eine Frau, die keine Angst hatte, das Leben beim Schopf zu packen und zu ziehen! Jedenfalls war sie die Namensschwester des blonden Mädchens auf dem Bild, und die junge Annie wusste noch nicht einmal, wie Annie Bernstein ausgesehen hatte!

Tränen brannten in Leahs Augen, sodass sie sie kurz schloss. Als sie sie wieder aufmachte, schaute sie aus dem Spiegel eine gebräunte alte Frau an, runzlig, das dichte, kurz geschnittene Haar lodernd weiß. Wie zurzeit immer stieg angesichts ihres Spiegelbildes ein heftiger Schmerz in ihr auf. Wie hatte das so schnell passieren können?

»Nein«, sagte sie trotzig zu der alten Frau im Spiegel. »Nein. Du bist nicht ich. Du kannst nicht ich sein. Innerlich bin ich immer noch sechzehn. Ein sechzehnjähriges Mädchen.«

Die Patriarchin

Подняться наверх