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Oktober 1910

Morris Levinsky händigte die Lohntüten aus und schlurfte dann langsam, ganz langsam, zum Aufzug. Insgeheim beobachtete ihn jedes Auge auf der Etage. Insgeheim verfluchten ihn alle, den schäbigen kleinen Mistkerl, der es immer möglichst lange hinauszögerte, bis er die Feierabendglocke läutete. Wenn man manchen Leuten ein bisschen Macht gab, stieg sie ihnen zu Kopf. Levinsky war allgemein verhasst.

Endlich gab die Glocke ihren heiseren Ton von sich. Alle Maschinen standen sofort still, und das laute Rasseln, das den ganzen Tag in ihren Ohren gedröhnt hatte, hörte auf, das Echo aber hallte noch minutenlang in den Köpfen wider.

Halb sechs zeigte die Uhr, doch Leah bezweifelte, dass das stimmte. Die Bosse stellten die Uhren so, dass sie den armen, überarbeiteten Näherinnen das Maximum abpressten. Ach was, egal. Heute war Freitag. Schabbes-Nacht, und ihr Abendessen würde besser sein als sonst.

Leah, noch auf ihrem Holzstuhl sitzend, streckte sich, und schaute lächelnd zu Annie hinüber. Sie saßen nebeneinander an ihrem Arbeitsplatz, dem fünfzehn Meter langen Holztisch mit der Doppelreihe Nähmaschinen, fünfzehn auf jeder Seite. Ihnen gegenüber saßen Angela Gullo, die bei ihren Eltern in ihrem Haus in der Hester Street wohnte, und Celia Kaplan. Angie mochten sie, Celia dagegen tat stets vornehm. Sie glaubte, ein, zwei Stufen über den restlichen Arbeiterinnen zu stehen, nur weil ihrer Familie eine Neunundneunzigjahrepacht auf ein Tabakanwesen bei Jekaterinoslaw gehört hatte, und sie dachte, das erhebe sie in den Adelsstand. Pah! Wer wollte schon adlig sein? Celia war auch nur ein armes Mädchen, eine Fabrikarbeiterin, die für ihren Lohn schuftete wie sie alle.

Leah warf den Kopf in den Nacken und sagte: »Los, Annie, lass uns gehen.«

Sie drängten sich vor bis zum Ende des Tisches, scherzten mit den anderen Mädchen, schüttelten ihre Röcke aus, strichen sich übers Haar. Der ganze Raum war erfüllt von Stimmengewirr, den fröhlichen Geräuschen eines Arbeitstags, der endlich vorüber war. Stühle schrammten über den Fußboden, schrammten dann erneut, als sie unter die Tische geschoben wurden. Kratz, kratz, kratz. Gelächter, Witzeleien, Gesangsfetzen.

»He, ihr da vorn, bewegt euch mal!«, rief Leah. »Ein paar von uns haben heute noch was vor!«

»Ja, ja«, kam die gutmütige Antwort. »Warum schlagen Sie dann nicht mit Ihren Flügeln und fliegen, Miss Vogel?«

Leah lachte. In Wahrheit konnte man diesen Raum gar nicht schnell verlassen. Nicht nur, dass er mit Stühlen voll gestellt war, die sich fast berührten, sondern überall auf dem Fußboden standen auch noch Körbe mit Arbeitsmaterial. Das achte Stockwerk der Triangle Shirtwaist Factory hatte nur einen Ausgang, da ging es langsam. Egal. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass der heutige Abend dem Schabbes vorbehalten war, der morgige Tanz und Vergnügen und der Sonntag dem Schlafen. Und dem Lesen der englischsprachigen Zeitung. Leah übte sich ständig darin. Die Zeitung war leichter zu lesen als manche der Bücher, die ihnen von den Lehrern empfohlen wurden. In der Tribune gab es wenigstens Bilder, und man erkannte Namen wieder und konnte viele Wörter erraten.

Am Ende der Schlange angelangt, rannten sie und Annie in den Umkleideraum zu ihren Mänteln. Die anderen riefen ihnen hinterher, sie sollten aufpassen, wo sie hintraten – warum sie es denn so eilig hätten, wo denn das Feuer sei –, aber es war alles scherzhaft gemeint. Während sie ihre Mäntel anzogen und sich darauf vorbereiteten, ihre Taschen zu öffnen, damit Levinsky sie durchsuchen und überprüfen konnte, ob sie auch, Gott bewahre, keinen Faden oder Stofffetzen gestohlen hatten, begann Leah ein Lied anzustimmen, das sie gerade gelernt hatte. Es war eine eingängige kleine Nummer, und sie hatte viel Spaß daran gehabt, wie der Reklamesänger auf der Fourteenth Street beim Singen den Text schauspielerisch darstellte. Drei oder viermal hatte sie »Down by the Old Millstream« gehört, bis sie es auswendig konnte. Die Stelle, die ihr am besten gefiel, war »...you were sixteen, my village queen...« Man zählte an den Fingern bis sechzehn ab und formte dann bei der nächsten Zeile mit den Händen eine Krone.

»Sing das ganze Lied!«, rief Angela Gullo, und Beifall brach aus. Also blieben sie alle eine Minute stehen, während Leah es sang, und schon bald sangen sie alle mit. Es war ein beliebter Schlager, sodass jeder den Text kannte. Als sie an Levinsky vorbeidefilierten, sangen sie immer noch, und sogar er musste lächeln.

Leah spürte, dass der Vorarbeiter sie leicht in den Po kniff, aber sie würde ihm nicht den Gefallen tun, ihn zu beachten. Sollte er doch denken, er könne sich so etwas erlauben! Was machte das schon?

Die Tür zum Ausgang Greene Street stand offen; sie packte Annie bei der Hand und sagte: »Lass uns zu Fuß gehen. Auf den Aufzug warten wir ewig.« Hand in Hand, mit hochgeschürzten Röcken, hüpften sie die Treppe hinab.

Sie traten in eine Welt, die von der untergehenden Sonne rotgolden erleuchtet war. Die Luft roch nach Wein und Rauch von all den Kaminen und Herden und nach Äpfeln. Auf der Straße wimmelte es von Menschen, die einkauften, Besuche machten und irgendwohin eilten. Die Gebäude sahen vor dem dunkler werdenden Himmel wie angezündete Kerzen aus. Ein Botenjunge hetzte vorbei und sang lauthals und mit hoher Stimme »Ah, Sweet Mystery of Life«. Trotz allem, das Leben war schön.

»Also Annie, was machen wir heute Abend?«

»Essen! Ich bin am Verhungern!«

Leah lachte. »Nun, Mrs. Katz hat bestimmt ein wunderbares Abendessen für uns, nanu? Heute ist Schabbes-Nacht und morgen der besondere Wochentag.« Sie lachte kurz auf. »Nur nicht bei Triangle.«

»Für Triangle ist nichts besonders«, stimmte Annie zu. »Bis auf das Geld.«

»Genau! Es ist falsch, dass sie mit der Uhr betrügen, damit wir fünf Minuten länger arbeiten, vielleicht auch zehn. Was sind wir, Tiere? Wir sind Menschen, genau wie sie. Denk mal drüber nach, Annie. Wie soll ein Boss ohne Arbeiter Geld verdienen? Wer schneidet denn zu und näht und hebt auf und legt hin? Der Boss?«

»Nein!« Triumphierend: »Wir!«

»Genau! Warum behandeln sie uns also nicht fair? Ich glaube, wenn sie netter zu uns wären, würden wir viel härter arbeiten.«

Annie kicherte. »Du klingst wie Celia Kaplan, weißt du das?«

»Ich? Wie die Vornehmtuerin?« Aber sie wusste, dass es stimmte. Celia war in der Gewerkschaft... als ob ihr das etwas nützen würde. Als ob das irgendjemandem nützen würde. Letztes Jahr hatte es einen großen Streik gegeben, der bei Triangle angefangen hatte. »Du bist nach dem Streik gekommen, oder, Annie?«

»Ja, den habe ich verpasst. Oh, Leah, ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.«

»Da sei dir nicht so sicher.«

Als sie an den Streik dachte, daran, wie stark sich die Frauen alle gefühlt hatten, als sie über zwei Monate Streikposten liefen, schüttelte sie traurig den Kopf. Der Streik, der bei Triangle begonnen hatte, wurde auch bei Triangle niedergeschlagen. Und all die tapferen Frauen, die bei Veranstaltungen gesprochen hatten und das Risiko eingegangen waren, zu verhungern, hatten eine totale Niederlage erlebt, als hätten sie überhaupt nichts unternommen! Sich noch einmal schinden, damit nichts dabei herauskommt? Nein, danke! Nicht Leah Vogel!

»Denk dran, es gibt immer noch keine Gewerkschaft bei Triangle«, erinnerte sie Annie. »Sie waren sehr tapfer, aber... was hat es genützt? Wir werden immer noch nicht nach Tarif bezahlt, und die Gewerkschaft hat nichts von dem gekriegt, was sie gefordert hat.«

»Am Ende wird die Gewerkschaft triumphieren«, deklamierte Annie. »Das Recht ist auf unserer Seite.«

Leah lächelte ihr zu, schüttelte jedoch den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte da sicher sein. Guck doch, was mit den Mädchen passiert ist, die letztes Jahr gestreikt haben. Sie sind ausgesperrt worden. Du und ich, wir können es uns nicht leisten, ausgesperrt zu werden. Wir müssen jeden Penny sparen, damit wir aufs Lehrerseminar gehen können, und dann brauchen wir keine Gewerkschaft... Gottenu! Schnell! Hier hinein!«

In Windeseile hatte sie sich in den Eingang einer winzigen Schneiderwerkstatt geduckt. Der gebückt über seiner Näherei sitzende blasse kleine Mann schaute auf und hüstelte. »Entschuldigen Sie, ich muss mich eine Minute verstecken...« Leah musste über den verblüfften Gesichtsausdruck des Mannes lachen. Dann trat sie wieder auf die Straße, wo sie sich hinter Annie hielt.

»Was ist denn in dich gefahren?« Aber Annie lachte. Sie wusste Bescheid. »Es ist dieser Fink, stimmt’s?«

»Ich sehe ihn ständig.«

»Wieso auch nicht? Er wohnt in dieser Gegend. Er hat das Recht, auf der Straße zu sein, genau wie du.«

»Na ja, als wir das letzte Mal zusammenstießen, hatte ich das Gefühl, dass es kein Zufall war.«

»Er mag dich eben. Was ist daran so schrecklich?«

»Ich bin noch nicht bereit für so was, Annie. Das weißt du doch.«

»Ich glaube sowieso, diesmal war er es gar nicht.« Während sie weiter die Straße entlanggingen, fügte Annie schüchtern hinzu: »Ich wünschte nur, so ein netter junger Mann würde mal« – sie suchte nach einer bestimmten Wendung und sagte triumphierend – »absichtlich zufällig mit mir zusammenstoßen.« Sie grinste und seufzte dann.

»Ach Annie, das kommt schon, ich verspreche es dir. Es ist... Du zeigst dich nicht richtig, Annie, du versuchst, im Hintergrund zu verschwinden! Bei mir bist du doch nicht so! Ich wünschte nur, diese Kerle könnten dich sehen und hören, wenn wir zusammen sind...«

»Na ja, bei dir ist es anders...«

»Und überhaupt, Annie, was soll’s? Es macht Spaß zu flirten, es ist nett, wenn jemand einem Aufmerksamkeit schenkt. Aber Annie, was heißt das letztlich? Es heißt... es heißt...« Sie suchte nach einem guten Beispiel.

Sie gingen jetzt durch das italienische Viertel, vorbei an den exotischen Gerüchen aus der Salumeria, vorbei an dem kleinen Laden, in dem das Gebäck, mit Sahne gefüllte Hörnchen, im Fenster lag. Italienerinnen trugen Schwarz, als befänden sie sich ständig in Trauer. Was immer sie verdienten, lieferten sie ab, keine Frage. Und die Frauen zählten nichts, hatte Angela ihr erzählt. Sie existierten, um die Männer zu bedienen, um den Männern Kinder zu gebären, um den Männern den Haushalt zu führen.

»Guck dir die Frauen in Little Italy an, Annie. Kannst du dir vorstellen, dass Angela in ein paar Jahren ebenso aussieht?«

Sie rechnete mit einem Einwand und war überrascht, als Annie ruhig sagte: »Es ist überall so, Leah.«

Das stimmte; bei den Juden war es genauso. Mrs. Katz war bereits eine müde alte Frau, und sie war wie alt? Fünfunddreißig? Hatte Gott Leah dafür auf die Welt kommen lassen? Um irgendeinem Mann zu dienen, den sie jetzt noch nicht einmal kannte? Um Kinder zu kriegen, eins nach dem anderen, manche von ihnen sterben zu sehen und dann selbst zu sterben? Aber warum hatte er ihr dann Verstand und eine schnelle Zunge gegeben? Gott, der alles sah und wusste, war doch bestimmt nicht so verschwenderisch!

»Aber Annie... willst du denn Mrs. Katz werden?«

»Leah, sei nicht albern. Ich kann nicht Mrs. Katz werden!«

»Doch, verstehst du denn nicht? Mr. Katz hat Mrs. Katz also schöne Augen gemacht, und Mrs. Katz ist dahingeschmolzen, und sie haben geheiratet. Und guck sie dir jetzt an! Annie! Denk nach! Mrs. Katz, alt und verwelkt, fünf Kinder und wieder eins unterwegs, das Haar schon grau, und sie ist noch nicht mal vierzig. Annie! Begreifst du nicht, in welche Falle wir da tappen?«

An dem verwirrten Ausdruck auf Annies süßem, blassem Gesicht erkannte sie, dass diese es nicht begriff, ganz und gar nicht. Schließlich sagte Annie zaghaft, so, wie sie meistens sprach: »Aber Leah, wir sind dazu da, dass wir heiraten.«

»Nein, sind wir nicht!«

Störrisch: »Es steht in der Bibel. Und alle tun es.«

»Aber Annie, wir müssen es nicht! Wir können anders sein.«

»Ich habe bloß Angst...«

»Ja? Wovor? Wovor hast du Angst?«

»Davor... ich weiß nicht..., alt zu werden und ganz allein zu sein.«

»Ganz allein! Was für ein Gedanke! Du hast doch immer mich, Annie! Ich kümmere mich um dich! Wer braucht schon einen Mann? Wer braucht eine Gewerkschaft? Wer braucht andere Menschen?«

Ich jedenfalls nicht, dachte sie grimmig, ich nicht. Sie brauchte niemanden, der für sie sorgte. Sie hatte seit dem Tag für sich selbst gesorgt, an dem ihre Mutter sie weggab.

Die Reise ab Rotterdam war in Leahs Gedächtnis häppchenweise gespeichert. Nun, sie war ja erst sechs gewesen. Ein Häppchen war der Lärm der Maschinen. Ein weiteres der Gestank: fauliger Fisch aus der Heringstonne, Schweiß, Blut und Exkremente. Und sie entsann sich der Zauberformel ihrer Mutter: Bald werden wir Papa sehen. Sie hatte damals keine rechte Erinnerung an ihren Vater – er war schon vor langer Zeit ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufgebrochen –, doch sie wusste, dass er sehr bedeutend war. Zu Hause, in Kiew, wurde er ständig heraufbeschworen. Ihre Tanten, die Freundinnen ihrer Mutter, ihre Großmutter, sie alle sagten immer, sie solle brav sein für ihren Papa, damit er stolz auf sie wäre, wenn er sie endlich sah.

Mama sprach dauernd von ihm. Wenn sie mit den anderen Frauen auf dem Schiffsdeck saßen, pflegte Bella stolz zu sagen: »Bei uns war es Liebe. Für uns, Jake und mich, gab es keinen Schiddach, keinen Heiratsvermittler. Für uns war es Schicksal. Eines Tages sah er mich in meinem blauen Kleid auf dem Markt, und da war’s um ihn geschehen. Er teilte meinem seligen Vater mit, er würde mich heiraten, und wenn Papa dazu nicht seinen Segen gäbe, würden wir zusammen durchbrennen.«

Bei dieser Kühnheit wurde immer nach Luft geschnappt, worauf Mama nickte und stolz den Kopf hob. »Ich hatte mich hinter dem Vorhang im Flur versteckt, und ich sage euch, mein Herz klopfte so stark, dass ich dachte, es würde mir aus der Brust springen.« An dieser Stelle legte sie stets die Hand auf ihr Herz und lächelte.

Aus den Erzählungen ihrer Mutter wusste Leah, dass Jake ein gut aussehender Teufel war, ein Mann wie sonst keiner, so schlank, so dunkles, dichtes, lockiges Haar! »Fünf Jahre sind es jetzt voller Qual und Pein, fünf Jahre der brennenden Sehnsucht ...« Die anderen Frauen lachten; sie meinten, Bella Vogel sei verhext. Manche von ihnen machten Zeichen mit der Hand oder spuckten dreimal über ihre Schulter, um das ajin hora, das Böse Auge, abzuwehren. Man heiratete einen Mann, weil die Eltern ihn für einen ausgesucht hatten. Man heiratete ihn, weil es eine mizva war, verheiratet zu sein. Man heiratete ihn, weil er ein Gelehrter war oder eine Kuh hatte oder ein bisschen Land... oder man heiratete ihn, »weil er da war und nicht Nein sagte«. In seinen Ehemann verliebt zu sein, das war unbekannt und wahrscheinlich gefährlich.

Doch wenn die anderen Frauen sie auslachten und neckten, warf Mama den Kopf in den Nacken und sagte: »Es ist mir gleich, was ihr denkt, es war baschért, es war Schicksal. Die Zigeunerin hat es in meiner Handfläche gelesen.«

Als Bella zwölf war, war eine Wohnwagenkolonne durch ihr Dorf gekommen; und sie hatte sich eines Nachmittags hingeschlichen, um sich aus der Hand lesen zu lassen. Die uralte Zigeunerin – »Ganz runzlig, Leah, dunkel und runzlig wie eine Walnuss, aber noch fast alle Zähne, und sie trug so viele Armbänder und Halsketten, dass es klirrte und klimperte, wenn sie auch nur die geringste Bewegung machte!« – hatte Bella zu sich gewinkt und ihre Hand ergriffen.

»Du bist ein schönes Mädchen«, sagte sie zu der staunenden Bella, nachdem sie ihre Handfläche studiert hatte. »Und außerdem ein Glückskind, meine Liebe. Du wirst innig geliebt werden von einem dunkelhaarigen gut aussehenden Mann. Du wirst die Welt bereisen, und du wirst einen großen Schatz finden.«

Mama hatte Leah diese Geschichte immer wieder erzählt. Mama sagte, die Wahrsagerin habe ihr ein Versprechen gegeben, und – hatte sie’s nicht gewusst? – bisher sei alles eingetroffen. Sie war ein Glückskind, und sie wurde innig geliebt von ihrem dunkelhaarigen, gut aussehenden Jake, auch wenn sie nun schon so lange getrennt waren, und sie hatte sogar den Schatz gefunden.

»Und du bist schön, Mama, vergiss das nicht!« Ihre Mutter lachte dann immer und schüttelte den Kopf, aber sie war schön. Viele Leute sagten das. Sie hatte Haare in der Farbe von poliertem Mahagoni, ein tiefes, sattes Rotbraun, und hitzige graugrüne Augen und winzige hingetupfte Sommersprossen auf dem Nasenrücken und den breiten Wangenknochen. »Es stimmt, Mama! Du bist schöner als eine Prinzessin!«

»Und du, Leah Mascha, bist mein Schatz!«

Es gab ihr das Gefühl, ganz wichtig zu sein, wenn Mama sie Schatz nannte, liebkoste und umarmte. Aber Mama war in Gedanken oft woanders. Wenn Leah schlief, wickelte Bella sich ihren Schal um die Schultern und ging »nach oben«, wo frische Luft war und Gesellschaft... und gelegentlich vergaß sie, herunterzukommen und sie zu holen. Leah fand es abscheulich, einzuschlafen und beim Aufwachen ganz allein zu sein. Das schwere Stampfen der Maschinen klang für sie wie große, wilde Tiere, die durch einen Wald brechen und immer näher kommen. »Mama!«, rief sie dann. »Mama!« Manchmal ging Leah Mama suchen, und manchmal fand sie sie, auf dem Deck sitzend oder an der Reling stehend, auf das endlose silbrige Wasser hinausschauend, redend, redend, redend. Ob Nacht oder Tag, das spielte keine Rolle. Bella Vogel sprach zu jedem, der zuhörte, von ihrer Seelenqual. Jake. Mein Jake. Es hatte eine Weile gedauert, bis Leah klar wurde, dass »mein Jake« und »dein Täte« dieselbe Person waren.

Leah versuchte, sich an ihren Täte zu erinnern. Sie entsann sich undeutlich, wie sie in die Luft geworfen wurde; sie glaubte, sich an sein Lachen erinnern zu können. Mama sang ihr manchmal ein kleines Liedchen vor – »Patsche, patsche, kichelech« – Backe, backe Kuchen –, und sie erzählte Leah, ihr Täte habe dieses Spiel immer mit ihr gespielt und ihr dieses Lied vorgesungen. Doch wie sehr sie sich auch anstrengte, ihn im Geiste vor sich zu sehen, es gelang ihr nicht. Sie hatte keine Ahnung, wie er aussah, nur dass Mama sagte, sie, Leah, gleiche ihm aufs Haar. Dabei schloss sie Leah fest in die Arme, aber es war nicht Leahs Name, den sie vor sich hinmurmelte. Es war Jake, Jake, mein Jankele, mein Jake.

Endlich kam der strahlend helle Tag, an dem Himmel und Luft kristallklar waren und alle an Deck kamen, unter vielem Stöhnen sogar die Kranken, die sonst unten blieben. Zwei furchtbare Tage lang hatte es geregnet, dann hatte wie durch ein Wunder der Regen aufgehört, und die Wolken flogen über den Himmel und wurden zu weißen Fetzen. An Deck war es windig, und die Röcke der Frauen schlugen ihnen um die Beine und knatterten wie Wäsche auf der Leine. Vögel stießen herab und schrien, und alle lächelten.

Jemand rief: »Da ist sie! Die Lady!«, und alle liefen auf die eine Seite des Schiffs. Ein Mann brüllte: »Seid vorsichtig, ihr Dummköpfe, ihr bringt uns noch zum Kentern!«

Das Deck neigte sich auf alarmierende Weise, doch wen kümmerte es? Mama nahm ihre Hand, und auch sie rannten los. Mama sagte: »Dies musst du immer in Erinnerung behalten. Das ist Amerika! Und bald sehen wir Papa.«

Aber als Leah versuchte, einen Blick auf Amerika zu werfen, konnte sie außer einem Meer von Beinen und Stiefeln und Röcken und langen, abgetragenen schwarzen Mänteln nichts sehen. Sie war zu klein, und zu viele Menschen drängelten sich vor ihr.

Sie fing an zu weinen. »Ich kann Amerika nicht sehen, Mama. Ich will Amerika sehen! Ich will Papa sehen!«

Ein Paar Hände kam aus dem Nichts, hob sie hoch und hielt sie weit über die Köpfe der anderen. Sie würde ihre Überraschung nie vergessen. Drohend nahe neben ihr ragte eine gewaltige grüne Statue auf, eine Frau mit strenger Miene. Sie sagte etwas, das bei dem Mann, der sie hochgehoben hatte, brüllendes Gelächter hervorrief. Sie erinnerte sich an seine laute Stimme, seinen komischen polnischen Akzent, als er ihr auf Jiddisch antwortete: »Nein, nein, Bubbele, das ist nicht Amerika. Das ist die Dame mit der Fackel. Die Freiheitsstatue. Guck, hinter ihr... das ist Amerika.«

Und dann sah Leah das Goldene Land, so viele Gebäude, die aus dem Meer emporstiegen. Wie schwammen sie? In der Ferne eine Brücke und noch mehr Gebäude, viel mehr. Und Schiffe, mit Segeln, mit Schornsteinen, große Schiffe, kleine Boote, die geschäftig hin und her fuhren.

Mama sagte, das müsse sie für immer im Gedächtnis bewahren, und das hatte sie. Ihr Leben lang, ganz gleich, welch prächtige Anblicke sich ihr boten – und das waren eine Menge –, versetzte sie nie wieder etwas in solches Erstaunen.

»Leah!« Annie lachte sie aus. »Du gehst ja an unserem Haus vorbei! Wo sind deine Gedanken?«

»Weit weg in ferner Vergangenheit«, erwiderte Leah und dann, mit einer abwehrenden Handbewegung: »Es ist nichts. Aus irgendeinem Grund habe ich mich daran erinnert, wie ich an der Freiheitsstatue vorbei nach Ellis Island fuhr.«

»Ellis Island!« Annie rümpfte die Nase und spuckte dreimal aus – pfft! pfft! pfft! –, was Glück bringen sollte.

»Hör mal, es war nicht gerade toll auf Ellis Island, aber so bist du schließlich ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten gekommen, stimmt’s? Und es gibt kein ajin hora in Amerika, Annie! Die ganze Narrischkeit haben wir in der Alten Welt gelassen!«

Punkt sechs fanden sie sich bei den Katz’ ein: drei Zimmer statt zwei wie bei ihnen, und zur Straße hinaus statt zu einem düsteren Hinterhof. Sie hatten sich für die Schabbes-Mahlzeit gewaschen und frische Hemdblusen angezogen.

Leah fand das ganze zeremonielle Ritual öde und langweilig. Dann legte sich Mrs. Katz eben einen Schal über den Kopf und segnete die Kerzen für den Sabbat... na und? Die Königin des Hauses! Wenn Mrs. Katz’ Kopf nach vorn in die gefalteten Hände gebeugt war, konnte man ihren Nacken sehen, wo die Haut noch frisch und jung war. Aber wenn sie sich umdrehte! Ihr Gesicht war faltig, zerfurcht von Sorge und harter Arbeit, und wenn sie lächelte, was selten vorkam, musste sie ihren Mund bedecken und den Kopf senken, weil ihr so viele Zähne fehlten.

Heute Abend schien sie noch erschöpfter als üblich, doch das bemerkte ihr munterer Ehemann wie üblich nicht.

»Also los, Selma, worauf warten wir? Auf den Messias?« David Katz lachte laut und klatschte in die Hände. »Wir haben Hunger. Hier sitzen drei Leute, die arbeiten, verstehst du?«

»Glauben Sie vielleicht, Mrs. Katz musste nicht arbeiten, um diese Mahlzeit auf den Tisch zu stellen?«, konterte Leah. Annie hatte Angst, ihm zu widersprechen, aber sie nicht. Er war kein schlechter Mensch, nur gedankenlos. Er lachte und scherzte gern, und es machte ihm Spaß, wenn Leah mit ihm lachte und scherzte.

»Was, sie? Mrs. Katz kocht schon seit so vielen Jahren das Abendessen, dass es sich praktisch von alleine kocht.«

»Ach, tatsächlich? Das ist ja eine wunderbare Erfindung, Mr. Katz. Vielleicht können Sie sie verkaufen? Ich kenne dreihundert Frauen, die sie kaufen würden, egal zu welchem Preis!«

Er warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen. »Hast mich erwischt! Okay, du hast Recht, und Gerechtigkeit muss sein. Selma, wir danken dir für die Arbeit, die du dir mit diesem köstlichen Mahl gemacht hast.«

Die kleine Mrs. Katz lief tiefrot an und lächelte ihr winziges Lächeln, das die fehlenden Zähne verbarg. Sie war beinahe hübsch, wenn sie lächelte. »Schon in Ordnung«, sagte sie auf Jiddisch, und natürlich musste Mr. Katz gleich wieder Witze darüber reißen.

»Siehst du?«, sagte er zu Leah. »Ich hatte Recht! Sogar meine Frau meint, es sei schon in Ordnung. Nun, Selma, stimmt’s nicht?«

»Okay, okay«, sagte Selma Katz, doch sie schaute verwirrt drein.

Es war richtig gemein von ihm, sie zu necken, denn seine Frau verstand nicht besonders gut Englisch. Aber andererseits, dachte Leah, warum lernt sie es nicht? Es war nicht so schwer, nur zu Anfang. Man musste sich zwingen, Englisch zu sprechen, sogar mit den Ladenbesitzern, die ebenso gern beim Jiddischen blieben, dann hörte es sich bald einigermaßen richtig an. Selbst Annie mit ihrem starken Akzent versuchte es. Wenn sich Mr. Katz also über seine Frau lustig machte, hatte sie es vielleicht irgendwie auch verdient.

Heute Abend jedoch ließ er sie in Ruhe, nachdem er sein Vergnügen gehabt hatte, und sie nahmen ihre Mahlzeit in Frieden ein. Das Essen war gut; es war immer gut. Ganz gleich, wie wenig sie hatte, Mrs. Katz schaffte es irgendwie, es zu strecken und nach mehr aussehen zu lassen. Heute Abend gab es heißen Borschtsch mit kleinen Fleischstücken und dicken Kohlstreifen, dann gekochtes Rindfleisch, ein kleines Stück für jeden, aber sehr schmackhaft, und reichlich Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln, Bohnen und dicke Soße dazu. Und zwei riesige geflochtene Challas für den Sabbat. Da jetzt, im Oktober, die Äpfel billig waren, hatten sie Apfelkuchen zum Tee.

Nachdem sie gegessen hatten, sagte Leah: »Annie, wir können nicht lang bleiben.« Annie spielte zu gern mit den Kindern. Das bedeutete, dass Leah zwei Möglichkeiten hatte. Sie konnte Mrs. Katz beim Aufräumen helfen – nach einem ganzen Tag an der Nähmaschine! – oder sitzen bleiben, und ihre Intelligenz mit der von Mr. Katz messen. Weshalb es Annie Spaß machte, sich mit den schrecklichen Kindern abzugeben, die sich die ganze Mahlzeit über gegenseitig unter dem Tisch traten, verstand Leah nicht. Aber es war so; Annie strahlte förmlich, wenn sie mit ihnen zusammen war.

Leah hätte liebend gern Gute Nacht gesagt und wäre gegangen, doch sie dachte daran, dass Annie nach all dem Furchtbaren, was sie durchgemacht hatte, ein bisschen von dem verdiente, was sie sich wünschte. Annie hatte Leah ein wenig aus ihrem Leben erzählt. Dass sie nach dem Tod ihrer Eltern bei einer grausamen Tante und einem Onkel gewohnt hatte und weggelaufen war. Dass ein Mann sie gerettet hatte, nur um die Gelegenheit zu nutzen, sie dazu zu zwingen, dass sie sich ihm ergab.

»Wirklich?«, hatte Leah gesagt. »Das hat ein Mann mit dir getan? Erzähl mir, wie es war? War es schön?«

»Es hat wehgetan. Es war grässlich.«

»Es hat wehgetan? Oh, Annie, wie schrecklich. Warum es dann wohl so viele Menschen gern tun?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht mögen es in Wirklichkeit nur die Männer!«, hatte Annie gemeint.

Trotzdem, Leah war überzeugt davon, dass auch Frauen es mochten, sich danach sehnten, danach weinten – so wie ihre Mama nach ihrem Jake geweint hatte. Und doch sagte Annie, sie danke Gott jeden Tag dafür, dass sie entkommen sei, und die Vorstellung, noch einmal einen Mann an sich heranzulassen, ängstigte sie.

»Einen Penny für deine Gedanken«, neckte Mr. Katz sie. Leah wäre vor Schreck fast aufgesprungen. Zur Abwechslung hatte sie mal keine Antwort parat. Sie könnte niemals zugeben, dass sie an das... Ding eines Mannes gedacht hatte! Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. »Hoo-ha!«, lachte Mr. Katz. »Ich glaube, ich kann es erraten!«

Hoffentlich nicht! Leah stand eilig auf. »Komm, Annie, es ist Zeit zu gehen.« Sie wartete nicht auf die Freundin, sondern rannte zur Tür hinaus, und der Klang von Mr. Katz’ Gelächter folgte ihr den Flug entlang.

Die Patriarchin

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