Читать книгу DELTA OPERATOR - Marco Gruber - Страница 13
Seattle, USA
Оглавление1. September 2016
Bruce Dobbs parkte den dunkelblauen Lieferwagen drei Blocks entfernt in einer dunklen Seitenstraße und wartete. Ein Blick auf seine schwarze Armbanduhr verriet ihm, dass er genau im Zeitplan lag. Dobbs wartete fünf Minuten, bis er die dunkle Gestalt um die Ecke des Blocks biegen sah. Mit gleichmäßigen Schritten kam der Mann auf Dobbs Wagen zu und blieb schließlich vor der Beifahrertür stehen. Noch einmal sah sich der Mann kurz um, dann stieg er in den Wagen.
„Alles klar, Sergeant“, sagte Marvin Lavinski.
„Vor zehn Minuten hab ich einen Streifenwagen direkt vor dem Gelände gesehen. Da dürfte jetzt in nächster Zeit keiner mehr auftauchen.“
Dobbs nickte und drehte den Zündschlüssel um. Der große Benzinmotor sprang an und Dobbs gab Gas. Er fuhr die Seitenstraße hinunter und bog dann in die Richtung ab, aus der er gekommen war. Zwei Obdachlose beobachteten den Wagen mit wenig Interesse und fielen dann zurück in ihren von Alkoholdunst benebelten Halbschlaf. Dobbs fuhr langsam und hielt sich dabei immer rechts. Wenig später konnte er das Gebäude sehen. Er blinkte nicht, sondern bog einfach nach rechts ab. Eine weitere schmale Seitenstraße verlief parallel zur Rückseite eines alten Mietshausblocks. Der Wagen bremste ab und blieb schließlich zwischen zwei großen Mülltonnen stehen. Dobbs und Lavinski stiegen aus und sahen sich um. Aus den Mülltonnen stank es schwach nach altem Fisch und der Geruch von ranzigem Fett drang aus der Lüftung des Schnellimbissladens an der Rückseite des Mietshauses.
Ohne ein Wort zu sagen, öffnete Dobbs die Schiebetür des Lieferwagens und fischte eine schwarze Sporttasche heraus. Er gab sie Lavinski und holte dann noch eine Tasche aus dem Wagen, die er sich selbst auf den Rücken schnallte. Dann schob er die Tür wieder zu und verschloss den Wagen. Mit den gummibeschichteten Sohlen ihrer Kampfstiefel verursachten sie auf dem dreckigen Asphalt der Straße keinen Laut. Nur das Ächzen der Feuerleiter war ein paar Meter weit zu hören, als Dobbs sie mit einer Hand mühelos herunterzog. Mit kleinen, jedoch raschen Schritten huschten die beiden Männer die rostigen Stufen hinauf, bis Dobbs als erster über die Attika am Dach spähte. Er blickte auf das bekieste Flachdach, aus dem Lichtkuppeln, Kamine und Lüftungsrohre wie Warzen hervorragten. Dobbs nickte Lavinski zu und dieser tauchte an ihm vorbei. Lavinski schlich über den schmalen Metallsteg, der etwa zwanzig Zentimeter über dem Kies montiert war. Dobbs wartete kurz und sah noch einmal hinunter auf die Straße. Alles war still, nur über den Kanaldeckeln bildeten sich kleine weiße Wolken, als die warme Luft aus den Abwasserleitungen in der kühlen Septembernacht kondensierte. Der Wagen stand verborgen hinter den Mülltonnen und war nur schwer zu entdecken. Dobbs war zufrieden und folgte Lavinski, der hinter den großen Lichtkuppeln verschwunden war. Der Metallsteg ächzte unter seinem Gewicht, doch er hielt stand. Eine halbe Minute später glitt Dobbs neben Lavinski in den Schatten eines großen Lüftungsbauwerks, knapp neben der etwa einen Meter hohen Brüstung des Gebäudes. Warme Luft entwich aus den verzinkten Blechrohren, ein undefinierbarer Gestank, zusammengesetzt aus hunderten einzelnen Gerüchen verbreitete sich über das Dach. Dobbs griff nach der Sporttasche auf seinem Rücken und legte sie vor sich auf den Kies. Er öffnete den Reißverschluss und holte zwei Nachtsichtgeräte heraus. Eines gab er Lavinski, das andere setzte er selber auf. Kurz überprüfte er die Funktionalität des teuren Gerätes aus dem Bestand des US Marine Corps, dann spähte er über den Rand der Brüstung. Das nagelneue Gerät funktionierte hervorragend. Im grünlichen Schein der Restlichtverstärkung lag das Zielgebäude gut sichtbar vor ihm. Die automatische Justierung surrte und das Bild stellte sich messerscharf ein. Dobbs ließ seine Blicke über das gesamte Gebäude schweifen und sondierte dabei besonders das Dach. Lavinski neben ihm schaute runter auf die Straße und beobachtete Eingang und Außenanlagen im Erdgeschoß. Nach etwa zwei Minuten, in denen sie nur beobachtet hatten, betätigte Dobbs einen kleinen Knopf seitlich an seinem Gerät und die Sicht veränderte sich schlagartig. Plötzlich sah er alles in einem hellen Grauton, durchzogen von einzelnen gelben, orangen und dunkelroten Flächen oder Punkten, genau an den Stellen, die wärmer als die Umgebung waren. Die Infrarotsicht des neuen Nachtsichtgeräts funktionierte ebenfalls einwandfrei und Dobbs beobachtete das Gebäude für weitere drei Minuten. Am Dach glimmte die Lüftungsöffnungen schwach orange, doch sonst war nichts zu entdecken. Als er sich sicher war, dass die Luft rein war, gab er Lavinski ein Zeichen und dieser griff in seine Sporttasche. Er beförderte eine futuristisch anmutende Armbrust zu Tage, die er mit einigen geübten Handgriffen zusammensetzte. Während der Corporal weiteres Zubehör aus der Tasche holte, beobachtete Dobbs das Gebäude. Immer tat sich noch nichts, auch als Lavinski mit der Armbrust vor dem Körper auf der Brüstung Stellung bezog, war es still und unauffällig. Als Lavinski den Haken in die Armbrust schob, und das Seil gleichmäßig aufgerollt auf der Brüstung lag, war es vier Minuten nach Drei Uhr morgens.
„Feuer!“, flüsterte Dobbs, der unablässig das Dach des gegenüberliegenden Gebäudes beobachtete. Dann hörte er das metallische Klicken, als der Abzug der Armbrust den Mechanismus freigab, der den Haken in einem ballistischen Bogen über die breite Straße schoss. Dobbs hörte das Surren des Seiles, das der Haken hinter sich herriss, bis er zwei Sekunden später in den Wänden des Stiegenhauses am Dach gegenüber einschlug.
Lavinski hatte die Armbrust zur Seite gelegt und das Ende des Seiles gesichert, als der Haken in der Wand eingeschlagen hatte. Das Signal des Bolzens, dass seine Widerhaken ausreichend Halt in der Betonwand gefunden hatten, piepste leise auf dem Empfänger an Lavinskis Handgelenk. Dobbs beobachtete fortwährend das gegenüberliegende Dach, während Lavinski das Seil sicherte und noch einmal den Halt überprüfte. Kurze Zeit später hatte Lavinski die Armbrust wieder auseinandergenommen und in der Sporttasche verstaut. Stattdessen hatte er Gurtzeug und Karabiner herausgeholt und über seiner schwarzen Jacke festgezurrt. Eine zweite Ausrüstung reichte er Dobbs, der nach weiterer Beobachtung Lavinski grünes Licht gab.
Der drahtige Marine schwang sich über die Brüstung, klinkte den Karabiner in das dünne, hochfeste Seil ein und stieß sich mit den Füßen ab. Leise surrend entfernte er sich rasch von der Brüstung, mit den Armen zog er sich geschickt vorwärts. Dobbs sah Lavinskis Zeichen, als dieser an der anderen Seite angelangt war und sich ausgeklinkt hatte. Der Corporal überprüfte sicherheitshalber noch einmal den Sitz des mit einer Spezialspitze ausgestatteten Hi-Tech-Ankers, um sicherzustellen, dass er das wesentlich höhere Gewicht des Sergeants auch wirklich tragen würde. Der Bolzen saß tief im Beton der Wand und schien einwandfrei zu halten. Lavinski sah hinüber zu Dobbs und gab ihm das vereinbarte Zeichen. Dann beobachtete er den schweren Mann, wie er sich anscheinend mühelos vorwärts wuchtete und nur unwesentlich länger als er selbst brauchte, um die Distanz zwischen den beiden Gebäuden zu überwinden. Mehrmals ächzte der Haken unter den knapp einhundertdreißig Kilos des Sergeants, doch er hielt. Dann setzte Dobbs seine Stiefel auf die bitumisierte Flachdachdeckung des Gebäudes und kauerte sich neben Lavinski nieder. Kurz rief er die Angaben, die Dr. Baxter letztendlich doch bereitwillig gemacht hatte, aus seinem Gedächtnis ab. Lavinski schnallte sich seine Sporttasche vom Rücken und holte einen kleinen, schwarzen Palmtop heraus, der im Stand-by-Modus geschlummert hatte. Innerhalb von Sekunden war das Gerät hochgefahren und einsatzbereit. Geduckt schlichen die beiden Männer um den viereckigen Betonklotz des Stiegenhauses herum, bis sie vor der alarmgesicherten Stahltür angekommen waren. Dobbs fand das Zahlenschloss dort, wo Baxter es angegeben hatte. Der großen Marine hatte plötzlich einen kleinen Akkuschrauber in der Hand, mit dem er sich an der Edelstahlabdeckplatte des Nummernblocks zu schaffen machte. Die kleine Maschine surrte die vier Schrauben aus ihrem Gewinde, während Lavinski seinen Palmtop mit einem dünnen Kabel verband. Nachdem Dobbs einen Teil der Elektronik freigelegt hatte, trat er zur Seite und ließ Lavinski die Arbeit beenden. Der kleinere der beiden Männer stöpselte das andere Ende des dünnen Kabels irgendwo in das Zahlenschloss und wartete, bis er ein leises elektronisches Zirpen seines Palmtop-Computers hörte. Das Gerät hatte eine Verbindung hergestellt und war bereit. Dann startete er ein Programm, das nur die Hälfte des Bildschirms ausfüllte und bestätigte ein Menüfeld. Dobbs beobachtete das Flachdach, spähte über den Rand der Brüstung hinaus und horchte in die Schwärze der kühlen Septembernacht, während Lavinski rasch Befehle eintippte. Die Festplatte des kleinen Geräts surrte, und das Programm lief auf Hochtouren. Milliarden von Zahlenkombinationen rasten durch den leistungsstarken Arbeitsspeicher des Mini-PCs, dessen Leistungsfähigkeit die der im Handel erhältlichen Geräte um mindestens das Dreifache überragte. Lavinski trommelte nervös mit seinen kurzen Fingernägeln auf der Hülle des Palmtops und wartete. Dobbs kniete neben ihm nieder und sah ihn fragend an. Dann, nach drei oder vier Minuten, in denen Dobbs unentwegt zwischen der Brüstung und der Tür hin und hergeschlichen war, piepste der Palmtop. Lavinski las die sechsstellige Zahl vom Display ab und sah Dobbs grinsend an. Der Sergeant deutete auf das Zahlenschloss und nickte. Baxter hatte erklärt, dass die Firma in keiner sonderlich guten finanziellen Verfassung war und deshalb auf sündteure Überwachungstechnik verzichtete. Zumindest hatte sie nicht die neuesten computergesteuerten Gesamtlösungen installiert, die jedes Öffnen einer Tür registrierte und sofort Alarm geschlagen hätte. Die Konkurrenz aus Europa setzte dem Konzern schon seit Jahren zu und hatte ihn schon länger von der Position des Marktführers verdrängt. Das merkte man überall, auch hier oben am Dach des Firmengebäudes. Es wurde an allen Ecken und Enden gespart, und hier auch am falschen Ende – oder am richtigen, wenn es nach Dobbs und Lavinski ging.
Corporal Lavinski gab die Zahlen in der angegebenen Reihenfolge ein und betätigte die Entertaste. Das rote Licht unten am Nummernblock blinkte kurz und änderte sich dann in ein strahlendes Grün. Dobbs griff nach der Klinke, hielt die Luft an und drückte sie hinunter. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit und nichts passierte. Beide Männer atmeten auf, obwohl sie wussten, dass ein blinder Alarm ohne weiteres nicht zu bemerken gewesen wäre. Doch Baxter hatte ihnen versichert, dass es keinen solchen Alarm gab, nicht zumindest, seit er vor einem Jahr in Pension gegangen war. Und der alte Mann hatte nicht zu viel versprochen.
Unentdeckt stiegen die beiden Marines die kalten Stufen des grauen Stiegenhauses hinunter, bis sie in Ebene Fünf angelangt waren, das Ziel ihres nächtlichen Ausflugs. Die Nachtsichtgeräte hatten beide Männer hochgeklappt, die Notbeleuchtung war zu hell um die Geräte einsetzen zu können. Sie würden sie später wieder brauchen, auf dem Rückweg. Baxter hatte von den Überwachungskameras erzählt, hatte Lage und Anzahl der Geräte angegeben und sich bemerkenswert gut an alles erinnern können. Dobbs wusste, dass seine Blicke, mit denen er die Fotos von Baxters Tochter und seiner Enkelin betrachtet hatte, nicht ihre Wirkung verfehlt hatten. So fiel es den beiden Männern nicht sonderlich schwer, sich von den Überwachungswinkeln der Kameras so lange fernzuhalten, bis diese sich wieder weggedreht hatten. Es gab bemerkenswerterweise nur eine Kamera im gesamten Stiegenhaus oberhalb der fünften Ebene, und diese Kamera bot ein ausreichendes Fenster, in dem sie nicht die Stufen, sondern den weiterführenden Gang beobachtete. Das nützten die Marines und schlüpften unentdeckt durch die nicht versperrte Glastür. Die Gummisohlen quietschten auch auf den teuren Fliesen des matt erleuchteten Gangs kaum und nach wenigen Metern fanden sie den Raum, den sie gesucht hatten. Die Tür war verschlossen, doch Lavinski hatte schon einen Bund Dietriche zur Hand. In Zeiten, in denen sogar schon Kühlschranktüren elektronische Zahlenschlösser hatten, wirkte so ein altmodisches Schloss geradezu antiquiert. Lavinski war es nur recht, als er das Klicken hörte und er die Tür öffnete. Sekunden später verschwanden beide Schatten im Raum mit der Nummer 05-45 und im Gang war nichts mehr davon zu bemerken.
„Ich mach meine Runde, Joe!“, sagte Willy Corleone und klopfte beim Vorbeigehen seinem Freund, der auf einem billigen Drehsessel saß und gelangweilt mehrere Bildschirme beobachtete, kumpelhaft auf die Schulter. Der andere Wachmann brummte irgendetwas Unverständliches und nickte. Die Mütze des Mannes lag auf der schmalen Konsole vor ihm, seine Jacke hing schief über dem ächzenden Drehstuhl. Corleone schnappte sich eine der großen, chromfarbenen Stabtaschenlampen aus einem versperrbaren Metallschrank, prüfte kurz, ob sie funktionierte, und verließ den kleinen Raum, in dem die beiden Nachtwächter untergebracht waren. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wanderte seine Hand unwillkürlich an seine rechte Hüfte. Der altmodische Trommelrevolver saß in seinem Halfter, genau da, wo er hingehörte. Corleone arbeitete zwar schon lange nicht mehr draußen auf den Straßen, so wie er es den Großteil seines Lebens als Polizist getan hatte, doch die Smith&Wesson, deren polierten Holzgriff seine Fingerspitzen berührten, zog er nach wie vor allen automatischen Waffen vor. Er glaubte zwar nicht, dass er jemals wieder eine Waffe im Ernstfall würde ziehen müssen, aber im schlimmsten Fall wollte er nicht ein Stück italienisches Blech mit einem verdammten Plastikgriff in seinen Händen halten. Da war der pensionierte Sergeant des Seattle Police Departement sehr eigen.
Genauso, wie er in der Erfüllung seiner Pflicht als Nachtwächter absolut ernsthaft und genau war. Er sah auf seine Armbanduhr und überschlug kurz, wann er seine ausgedehnte Runde beendet und zurück im kleinen Büro an einer Tasse Kaffee schlürfen würde. Mit leisen Schritten durchquerte er die große Empfangshalle im Erdgeschoss des Gebäudes. Durch die gläserne Eingangstür konnte er nach draußen auf die hell beleuchtete Straße sehen. Es war nicht mehr Verkehr als üblich, dachte er und wunderte sich wieder einmal, dass um diese Uhrzeit überhaupt jemand unterwegs war. Mit einem allnächtlichen Ritual rüttelte er an den Türgriffen und kontrollierte, ob die große Glastür auch sicher verschlossen war. Kurz spähte er hinaus in die Außenanlagen rund um den ovalen, gepflasterten Eingangsbereich vor dem Gebäude. Alles war ruhig und nichts Auffälliges war zu entdecken. Corleone stellte zufrieden fest, dass auch keine Autos vor dem Gebäude parkten. Noch einmal sah er nach links und betrachtete die grellbunten Reklamen der Pubs entlang der Straße, dann drehte er sich wieder um.
Das straff gespannte Stahlseil fünfunddreißig Meter über der Straße sah er nicht.
Corleones Schritte hallten durch die gespenstisch stille Empfangshalle, er ging vorbei an den großen Modellen der neuen Serie, die die Firma entwickelt hatte. Er lächelte, als er an seinen Enkel dachte, den er vor ein paar Wochen an seinem freien Tag mit hierher genommen hatte. Der kleine Junge hatte große Augen bekommen, als er die Modelle gesehen hatte. Die neue Modellreihe, so hatte man Corleone erzählt, sollte voll einschlagen und die Firma zurück an die Marktführerposition katapultieren. Corleone verstand von diesen Dingen nichts. Aber es konnte ihm nur recht sein. Eine Firma, die Marktführer in ihrem Bereich war, war eine gute Firma. Und eine gute Firma bezahlte das Gehalt ihrer Angestellten pünktlich und verlässlich. Das war alles, was für Corleone zählte.
Als er das matt erleuchtete Stiegenhaus vor sich sah, verzog er den Mund. Das Einzige, was er an diesem Job nicht ausstehen konnte, war das ewige Stiegen steigen. Doch da kam er nicht drum herum und außerdem hielt es ihn wenigstens fit. Als er die ersten Stufen erklommen hatte, schätzte er, dass er heute nicht länger als sonst für seine Runde brauchen würde.
Er wusste nicht, dass er damit falsch lag.
Der Palmtop surrte leise, nachdem Lavinski die Enter-Taste gedrückt hatte. Vierzehn Sekunden später piepte das kleine Gerät und Lavinski grinste.
„Wir sind drin, Sergeant“, flüsterte er und hob dabei den Daumen seiner rechten Hand.
„Na dann los, Marv“, brummte Dobbs, der direkt hinter dem Corporal stand und angespannt auf den Miniaturbildschirm des Gerätes starrte. Lavinski nickte und wandte sich wieder der kleinen Tastatur zu. Seine Finger huschten über die Tasten, der Bildschirm veränderte sich fortwährend, als er das System untersuchte. Nachdem der Corporal alle Sicherheitsprogramme geschickt umgangen hatte, war er nun im Kern des firmeninternen Netzwerkes angelangt und hatte Zugang zu den sensiblen, mehrfach passwortgeschützten Bereichen. Für jeden anderen Hacker wäre hier Endstation gewesen, doch Corporal Lavinski hatte sich die Angaben, die Dr. Baxter mehr oder weniger freiwillig gemacht hatte, aufgeschrieben und auswendig gelernt. Der alte Mann erwies sich weiter als sehr zuverlässig, zwei Passwortsperren hatte Lavinski schon aus dem Weg geräumt. Bei einer dritten versagten Baxters Angaben, das Passwort war geändert worden. Das war absolut üblich und eigentlich nicht einmal besonders vorsichtig von den Netzwerktechnikern der Firma. In anderen Firmen oder beim Militär wurden Passworte täglich, manchmal sogar stündlich geändert. Doch diese Firma baute anscheinend auf seine von außen undurchdringliche Firewall. Ein Palmtop-Computer, der mitten in der Zentrale des Firmengebäudes mit einem der Großrechner direkt verbunden war, war den verantwortlichen Leuten anscheinend nicht als Bedrohungsszenario in den Sinn gekommen. Lavinski konnte über diese neuerliche ungeheure Sorglosigkeit nur den Kopf schütteln. Wenn er hier das Sagen gehabt hätte, dann …
„Wie sieht’s aus, Lavinski?“ wollte Dobbs ungeduldig wissen. Der große Mann hatte keine Ahnung, was zum Teufel Lavinski da so lange trieb. Ihm dauerte das alles schon viel zu lange.
„Moment, Sarge, Moment“, flüsterte Lavinski zurück. Er war hoch konzentriert und durfte sich jetzt keinen Fehler erlauben, wenn er nicht einen Alarm auslösen wollte. Die Netzwerktechniker waren zwar nicht absolute Spitzensicherheitsfanatiker, doch Lavinski unterschätzte keinen Gegner mehr, seit ihn einmal ein weiblicher Marine aufs Kreuz gelegt und ihm die Schulter ausgerenkt hatte.
Der Corporal startete ein kleines Programm, das er selbst geschrieben hatte und auf das er besonders stolz war. Er setzte das Programm auf die Passwortsperre an und wartete. Der kleine Rechner surrte und die Sekunden verstrichen. Dann piepste das Gerät schließlich und die Passwortsperre war überwunden. Triumphierend drehte er sich um.
Sergeant Dobbs war nicht mehr da.
Hastig blickte sich Lavinski um und entdeckte den breitschultrigen Marine, der mit angespannter Miene bewegungslos an der Tür des Raumes lauschte. Dann sah Lavinski die hektischen Handzeichen seines Sergeants und erstarrte.
Willy Corleone drückte die Klinke der dunkelgrauen Tür hinunter und presste seine Schulter gegen das Türblatt. Es klackte, doch die Tür blieb geschlossen. In Ordnung. Dann pendelte er auf die andere Seite des Ganges und wiederholte die Prozedur.
In Ordnung.
Wieder schlurfte er auf die linke Gangseite und drückte gegen die Türklinke.
Er wäre fast in den Raum gestürzt, als die Tür sich widerstandslos öffnen ließ.
Corleone schnappte überrascht nach Luft und blieb nur mühsam auf den Beinen. Seine Taschenlampe fiel klappernd zu Boden und kullerte ein paar Meter in den Raum hinein. Das grelle Licht der Lampe fing von selber an zu leuchten und beschien die staublose Luft im Inneren des großen Raumes. Corleone ging ein paar Schritte, bückte sich und hob die Lampe auf. Der Schein des weißen Lichts beleuchtete die surrenden Großrechner des Netzwerkes. Die Luft fühlte sich elektrisch geladen und irgendwie klinisch an. Es roch nach Reinigungsmittel und Elektrosmog. Corleone hasste diesen Raum, war erst ein Mal hier drinnen gewesen, damals am Tag und nicht länger als ein paar Minuten. Und auch jetzt hatte er ein verdammt schlechtes Gefühl. Er konnte in der Dunkelheit des Raumes nichts sehen, was sich außerhalb des Lichtkegels seiner Taschenlampe befand. Sein Herz fing an zu pochen und sein langjährig geschulter Instinkt, der auf den Straßen Seattles einen Feinschliff besonderer Klasse erhalten hatte, sagte ihm, dass hier irgendetwas überhaupt nicht stimmte. Systematisch beleuchtete er den großen Raum, seine rechte Hand öffnete die Schlaufe am Halfter seines Revolvers. Corleone merkte, dass er langsam nervös wurde. Er fühlte die Gefahr, konnte sie aber nicht entdecken. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, während er langsam rückwärts ging. Schritt für Schritt tastete er sich zur Tür zurück. Mit seiner freien Hand suchte er den Lichtschalter, der irgendwo rechts auf Brusthöhe an der Wand montiert war. Der Schein der Taschenlampe zuckte hektisch durch den Raum, während Corleones Atem immer heftiger wurde. Dann huschte der Strahl der Lampe über etwas, dass nicht in den Raum gehörte und Corleone erschrak heftig. Er schwenkte die schwere Taschenlampe wieder zurück auf die Stelle, wo er die Bewegung erhascht hatte.
Er sah nichts.
Er wusste aber, dass da noch jemand in dem Raum war.
Sein Herz drohte ihm die Brust zu sprengen. Mit zitternden Fingern suchte er an der Wand nach dem erlösenden Lichtschalter, fand ihn aber nicht. Dann fuhren seine Finger über einen Plastikschalter und er hielt inne.
Wieder sah er die Bewegung im Licht seiner Lampe und diesmal erkannte er, was es war. Seine Finger umschlossen den schmalen Schalter an der Wand. Er schob den Schalter hoch. Die schwere Taschenlampe entwand sich seinen feuchten, zitternden Händen und fiel klappernd zu Boden. Das laute Geräusch des Aufpralls hallte nervzerreißend durch den großen Raum. Corleones Hand griff nach der Smith&Wesson, seine Finger schlossen sich um den Holzgriff. Doch statt des erlösenden Lichtscheines hörte er nur ein Klicken. Die Taschenlampe lag vor ihm auf dem Boden und erhellte den Raum bis auf Tischhöhe. Der Wachmann atmete heftig und schwitzte stark. Sein Revolver hakte im Halfter, er konnte ihn nicht herausziehen. Dann hörte er das anlaufende Luftreinigungsgebläse und wusste, welchen Schalter er betätigt hatte.
Der verdammte Revolver rührte sich nicht.
Dann sah Corleone die schwarzen Kampfstiefel, die langsam den Schein der Lampe durchquerten. Der alte Mann erstarrte augenblicklich. Das machte es für Bruce Dobbs, der einen Meter neben ihm stand und ihn durch seine Nachtsichtbrille beobachtete, wesentlich leichter.
Das Knacken, als das Genick von Willy Corleone wie ein Streichholz zerbrach, war trotz der lauten Ventilationsgeräusche des Gebläses deutlich zu hören.
„Ist er tot?“, fragte Corporal Lavinski, der neben Dobbs auf dem hellblauen Linoleumbelag kniete und in die starren Pupillen des grauhaarigen Mannes sah, der zusammengekrümmt vor ihnen lag.
Dobbs sah Lavinski nur missgelaunt an und ersparte sich jeglichen Kommentar zu diesem ungeplanten und verdammt ärgerlichen Zwischenfall.
„Bist du fertig, Lavinski?,“ flüsterte er nur, während er die Leiche näher untersuchte.
„Ich hab’ die gefragte Datei gerade eben kopiert, als der Mistkerl aufgetaucht ist.“
„Ist alles gesichert, kann nichts daneben gegangen sein?“, fragte Sergeant Dobbs und sah dabei Lavinski durchdringend an.
„Alles klar, Sarge. Ist alles hier drin.“
Lavinski tätschelte liebevoll seinen Palmtop-Computer, dann verstaute er ihn in seiner Sporttasche. Im Schein der Lampe des Nachtwächters sah Dobbs sich kurz noch einmal um. Er konnte keine Spuren ihrer Anwesenheit entdecken, fragte aber noch einmal Lavinski.
„Sind alle Spuren unseres Eindringens in das Netzwerk verwischt?“
Lavinski nickte im grellen Schein der Stablampe des Nachtwächters. „Ich habe das neue Intruderprogramm benutzt, Sarge. Da gibt es keine Spuren.“
Dobbs nickte. Dann drehte er sich um und beleuchtete die Wand neben der Tür. Er fand den Schalter, den der Wachmann betätigt hatte und stellte ihn aus. Das Surren des Gebläses verstummte, als sich die Ventilatoren nicht mehr drehten.
„Was machen wir mit ihm?“ flüsterte Lavinski und deutete auf die verkrümmte Gestalt am Boden. Er beobachtete Dobbs, wie er die Taschen des Mannes durchsuchte und schließlich einen Schlüsselbund in Händen hielt.
Als Dobbs den Mann am Kragen packte, ihn scheinbar mühelos hochhob und ihn sich über die breiten Schultern warf, kannte Lavinski die Antwort. Der Kopf des Mannes baumelte seltsam und anatomisch höchst bedenklich hin und her, als Dobbs mit raschen Schritten zur Tür marschierte. Dobbs warf Lavinski die Schlüssel zu.
„Schau nach, ob er irgendwas verloren hat, Lavinski“ flüsterte Dobbs. „Und dann schließ die Tür hinter uns ab.“
Lavinski nahm die Schlüssel und die Taschenlampe und leuchtete auf den klinisch sauberen Boden. Etwa eine halbe Minute lang, die Dobbs wie eine halbe Ewigkeit vorkam, untersuchte der Corporal systematisch die hellblaue Fläche, wo die Leiche des Mannes gelegen hatte. Dann suchte er den Weg bis zur Tür ab und fand nichts.
„Alles klar, Sarge.“
Dobbs nickte und bedeutete Lavinski, er solle voran gehen. Der Corporal schaltete die Stabtaschenlampe aus, schob sich an seinem massigen Sergeant vorbei und horchte an der Tür. Als er nichts hörte, öffnete er sie vorsichtig und spähte hinaus.
Vier Minuten später kniete sich Dobbs schwer atmend im Schutz der Brüstung nieder. Sein Atem kondensierte in der frischen Nachtluft, sein breiter Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Die Leiche des Nachtwächters lag vor ihm auf den schwarzen Bitumenbahnen. Lavinski kontrollierte erneut Sitz und Festigkeit des Bolzens.
Nach einer knappen Minute war Dobbs wieder voll bei Kräften und stand auf. Er erklärte Lavinski kurz, was er vorhatte, dann schwang er sich über die Brüstung. Einige Augenblicke lang checkte er die Straße und das gegenüberliegende Flachdach, dann klickte er seinen Karabiner ein und schwang sich über den Abgrund. Aus Lavinkis Rucksack hatte er ein grünes Nylonseil geholt, das er hinter der Brüstung fein säuberlich aufgelegt hatte und nun hinter sich herzog. Als er auf der anderen Seite angekommen war, klinkte er sich aus und gab Lavinski das vereinbarte Zeichen. Der Corporal hatte inzwischen die Leiche des Wachmannes fachmännisch zusammengeknotet und mit einem Karabiner an das Stahlseil gehängt. Noch einmal kontrollierte er, ob der Mann nichts verlieren konnte, nachdem er ihm bereits die Mütze und alle losen Teile, die er in seinen Taschen gehabt hatte, abgenommen und sicher in seinem Rucksack verstaut hatte. Als er Dobbs Zeichen sah, knotete er das Nylonseil an die Leiche und wuchtete sie anschließend über die Brüstung. Auf der Straße fuhr langsam ein Wagen vorbei, hielt aber nicht an. Lavinski wartete kurz, bis der Wagen verschwunden war, dann schubste er die Leiche vorwärts. Ein paar Meter rutschte die Last, dann blieb der tote Nachtwächter leicht schaukelnd hängen. Auf der anderen Straßenseite packte Sergeant Dobbs das Nylonseil mit beiden Händen und begann, kraftvoll daran zu ziehen. Seine dicken Armmuskeln arbeiteten unablässig, und Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Nach zwei Minuten musste er kurz verschnaufen, dann zog er weiter. Als er die Leiche dann über die Brüstung hievte und sie in den Kies zerrte, war er einigermaßen geschafft. Er erholte sich nicht mehr so schnell wie früher, stellte er betrübt fest, doch es genügte noch immer.
Als er wieder bei Kräften war, tauchte der Schatten Corporal Lavinskis über ihm auf, als sich dieser über die Brüstung schob. Der Corporal zog ebenfalls ein grünes Nylonseil hinter sich her, das auf der anderen Seite der Straße mit dem Spezialbolzen verbunden war. Dobbs beobachtete Lavinski, wie dieser noch einmal über die Brüstung spähte und die Straße überblickte. Nach wenigen Sekunden schob Lavinski seinen rechten Jackenärmel hoch und legte den Sender für den Bolzen frei. Das kleine grüne LED für den optimalen Sitz des Bolzens leuchtete noch immer. Lavinski sah Dobbs an, kontrollierte, ob dieser das Nylonseil, das Lavinski hinter sich hergezogen hatte auch sicher in seinen Händen hielt, dann drückte er einen kleinen Knopf auf dem Sender. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hörten sie ein Geräusch, das so klang, als ob ein Stein zerbrach, gebrochen durch einen metallischen Gegenstand. Die winzige Sprengladung in der Spitze des Bolzens hatte gezündet und den Anker aus seinem sicheren Sitz im Beton befreit. Das Nylonseil, das Dobbs in seinen Händen hielt, und das auf dem gegenüberliegenden Dach um einen Lüftungsschacht gewickelt war, hinderte den Bolzen daran, über die Brüstung zu rutschen und gegen die Fassade des Hauses zu krachen, auf dem die beiden Männer sich jetzt gerade befanden.
Lavinski befestigte das Nylonseil, mit dem sie die Leiche über die Straße gezogen hatten an dem Ende des Stahlseiles, das er soeben aus seiner Verankerung entfernt hatte. Dann zog er gleichmäßig, während Dobbs gleichzeitig sein Nylonseil über die Brüstung verschwinden ließ. Der schwere Anker und das Stahlseil wanderten nun langsam über die Straße zurück, ohne einen Laut zu verursachen. Als Lavinski den Anker dann in Händen hielt und ihn in seiner Tasche verstaute, hatte Dobbs noch etwa fünf Meter Nylonseil übrig. Lavinski hielt nun das eine, Dobbs das andere Ende des Nylonseils, das auf dem gegenüberliegenden Dach um einen Lüftungsschacht führte.
Lavinski sah kurz zu Dobbs und dieser nickte. Dann ließ er das ultraleichte Nylonseil los und sah das Ende über die Brüstung verschwinden. Gleichzeitig zog Dobbs so schnell er konnte an seinem Ende des Seils. Lavinski spähte über die Brüstung, beobachtete das Seilende, wie es auf dem Vorplatz des Firmengeländes landete und hielt unwillkürlich die Luft an. Dobbs zerrte so schnell es ging, das Ende des Seils wanderte die Fassade hinauf, verschwand dann hinter der Brüstung, tauchte erneut auf dem Blechsims auf und fiel schließlich auf die Straße vor dem Firmengebäude. Dobbs zog mit aller Kraft und Schnelligkeit, schwitzte aus allen Poren und keuchte bereits vor Anstrengung. Dann hörte Lavinski das Auto und erstarrte.
Er hechtete nach vorne, stützte sich auf dem dunklen Blech der Brüstung ab und starrte nach links. Der Streifenwagen bog um die Ecke und beschleunigte sanft. Das schwarzweiß lackierte Auto hielt sich äußerst rechts und bremste schließlich direkt vor dem Einfahrtstor des Gebäudes, das Lavinski und Dobbs soeben verlassen hatten, ab. Lavinskis Blicke rasten über die Straße und suchten nach dem Seil. Das Ende des Nylonseils zuckte rhythmisch über den schwarzen Asphalt und war für Lavinski leicht zu entdecken. Die Cops mussten das Seil einfach sehen, dachte er. Es war nicht zu übersehen.
Als der Streifenwagen plötzlich scharf beschleunigte und die blauroten Rundumleuchten auf dem Dach lautlos zu blinken begannen, glaubte Lavinski, sein Herz hätte aufgehört zu schlagen. Machtlos sah er zu Dobbs hinüber, der wie in Trance an dem Seil zerrte und es einholte. Dann sah er wieder nach unten auf die Straße und glaubte seinen Augen kaum.
Die Reifen des Streifenwagens quietschten auf dem Asphalt, als er scharf abbog und danach in die andere Richtung davonbrauste. Noch ein paar Sekunden sah Lavinski das Scheinen der blauen und roten Lichter an den dunklen Fassaden der Häuser, dann war es verschwunden. Erleichtert atmete er auf, dann sah er das zuckende Ende des Seils über die Brüstung segeln und vor Sergeant Dobbs im Kies landen.
Fünf Minuten später schob Lavinski die Schiebtür des Lieferwagens behutsam zu und warf dabei einen letzten Blick auf die verschnürte Leiche des Wachmanns. Der Kopf des Mannes hing in einem unmöglichen Winkel zur Seite, die blau angelaufene Zunge hing ihm wie ein öliger Lappen aus dem grotesk verzerrten Mund. Irgendwie war das so nicht geplant gewesen, dachte er düster, als er neben Dobbs auf dem Beifahrersitz Platz nahm und darauf verzichtete, sich anzuschnallen. Der Motor des Lieferwagens sprang beim zweiten Versuch an, Dobbs manövrierte das Auto aus seinem Parkplatz zwischen den Mülltonnen hinaus auf die schmale Gasse und gab Gas. Eine Minute später waren die beiden Männer auf der Hauptstraße und verließen Seattle in Richtung Norden.