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Zweieinhalb Jahre später - Maryland, USA
Оглавление14. Juli 2016
Das weiße Holzhaus mit den dunkelgrauen Dachschindeln und der großzügigen Veranda thronte majestätisch über der kleinen Bucht. Das zweistöckige Gebäude stammte noch aus der Kolonialzeit und wirkte trotz seines Alters ungewöhnlich gut gepflegt. Die Bretter der Fassade waren frisch gestrichen, die prächtigen Laubbäume entlang der bekiesten Zufahrt schienen perfekt geschnitten und die saftig grüne Rasenfläche des riesigen Gartens war makellos. Direkt von der Veranda des Hauses führte eine lange Metalltreppe hinunter zum etwa dreißig Meter tiefer liegenden Sandstrand. Von dort verlief ein gepflasterter Weg weiter zu einem kleinen Strandhaus, dessen Fensterläden geschlossen waren. Ein breiter verwitterter Steg führte an die fünfzig Meter weit in die schmale Bucht hinaus. Draußen lag ein weißes Segelboot vor Anker und schaukelte ruhig im klaren, dunkelblauen Wasser. Eine milde Brise wehte würzige Seeluft aus der Chesapeake Bay über das stolze Anwesen und ließ das Sternenbanner auf dem langen Fahnenmast zaghaft flattern.
Oben auf der Veranda sog Vice Admiral Jim Franklin an seiner dicken Zigarre und genoss die Ruhe des Tages. Der große Marineoffizier lehnte entspannt an dem weißen Geländer und blickte träumerisch auf die Bucht hinaus. Ganz weit draußen konnte er mehrere Segelboote erkennen, die den aufkommenden Wind nutzten und Richtung Süden die Bay hinunterglitten. Beinahe sehnsüchtig beobachtete er die kleinen Boote, deren schnittige Rümpfe scheinbar widerstandslos durch die niedrigen Wellen schnitten.
Der Admiral war in seinem Herzen immer ein Seemann geblieben, mit dem unbeschreiblichen Drang nach den endlosen Weiten des Ozeans. Daran konnte auch der manchmal sehr weit vom Meer entfernte Posten an seinem Schreibtisch im Kommandogebäude der Naval Special Warfare Group Two in Little Creek, Virginia, nichts ändern. Jim Franklins Kommando unterstanden unter anderem die SEAL-Teams Zwei, Vier und Acht. Jedes der Teams setzte sich aus mehrfach handverlesenen Männern der berüchtigten Spezialeinheit der Navy für besonders heikle Fälle zusammen. Die Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaftsgrade, die unter Franklin dienten, hatten sich, wie ihre Vorgänger seit den Zeiten des Vietnamkrieges, einen ausgezeichneten Ruf als Kampfschwimmer, Fallschirmjäger, Kommandoeinheiten, als Sabotagetrupps und neuerdings auch als Antiterroreinheit erworben. Franklin war stolz auf seine Jungs und fühlte sich immer noch als einer von ihnen. Im Grunde genommen war es das ja auch, was der goldene Trident-Anstecker an der Brust seiner Uniform deutlich machte. Ein Abzeichen, das er nach wie vor mit Stolz trug, obwohl seine aktive Zeit schon lange zurücklag.
Doch war man einmal ein SEAL, dann war man dies solange, bis man den Löffel abgab, das zumindest war Franklins Meinung zu diesem Thema. Und in dieser Hinsicht akzeptierte er keinerlei andersartige Ansichten.
Franklin trug legere Freizeitkleidung, Jeans und einen hellgrauen Sweater, der jedoch seine breiten Schultern und die ausgebildeten Oberarme nicht zu verbergen vermochte. Der neunundfünfzigjährige Karriereoffizier hatte sich außerordentlich gut in Schuss gehalten und legte sehr viel Wert auf körperliche Fitness. Sein Credo lautete, dass nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnen konnte. Das konnte manchmal durchaus falsch verstanden werden, doch darum scherte sich der alternde SEAL kein bisschen. Er war schon immer in seinem Leben angeeckt, hatte sich mit Leuten angelegt, denen jeder andere wahrscheinlich aus dem Weg gegangen wäre, doch war dabei immer seinen Überzeugungen und Grundsätzen treu geblieben. Grundsätze und Wertvorstellungen, die heute offenbar nichts mehr wert waren, resümierte er verbittert, als er an den Grund dachte, aus dem er heute hier war.
Franklin sog noch einmal an dem Stumpen seiner Zigarre und schickte das erkaltete Stück kubanischen Tabaks danach mit einem Fingerschnippen über die steilen Klippen. Er hatte das Motorengeräusch gehört und sich deshalb auf den Weg zum kreisrunden Vorplatz des Hauses gemacht. Franklin verließ die Veranda und durchquerte das Erdgeschoß des alten Hauses. Als er durch das Fliegengitter der Haustür nach draußen ging, sah er den silbernen Lincoln mit dem Washingtoner Kennzeichen gerade das offenstehende Einfahrtstor passieren und danach langsam die Auffahrt heraufkommen. Franklin stieg die wenigen Stufen vor dem Hauseingang hinab und blieb vor dem abbremsenden Wagen stehen. Der Motor erstarb und die Türen öffneten sich.
„Hallo John, schön dich zu sehen“, sagte Franklin und schüttelte dem Fahrer des Autos, der mühsam ausgestiegen war, einem wesentlich kleineren, dicklichen Mann so knapp an die sechzig, die behaarte Hand. Der Mann schwitzte stark, doch sein Händedruck war fest wie ein Schraubstock.
„Tag, Jim“, sagte er nur, um danach die Tür des Wagens geräuschvoll zuzuknallen. Franklin umrundete den Lincoln und begrüßte nun auch die beiden anderen Männer, die ausgestiegen waren. Danach deutete Franklin auf das große Haus.
„Lasst uns reingehen. Ich habe eine kleine Erfrischung vorbereitet.“
„Verdammt schönes Haus, Jim“, lobte General John Grant, United States Army, nachdem er draußen auf der Veranda von seinem Whiskey genippt und die Aussicht auf die Bucht genossen hatte. „Jammerschade, dass du dein Büro nicht hier draußen hast.“
„Wieso?“ grinste Franklin, „Weil du dann in Washington der alleinige Platzhirsch und begehrteste Junggeselle wärst?“
„Ganz genau, Seemann!“ Der Dreisternegeneral der Army, seines Zeichens Vorsitzender des unter Präsident Bush gegründeten Kommandos zur teilstreitkräfteübergreifenden Terrorbekämpfung, lächelte verschmitzt und dachte an die unzähligen Abende, die er zusammen mit seinem alten Akademiekameraden durchzecht hatte.
„Ich wusste gar nicht, dass Sie beide sich so gut kennen“ stellte einer der beiden anderen Gäste fest, der ebenfalls an einem Whiskey nippend die Veranda betrat. Major General Cliff Garrett vom US Marine Corps war ein mittelgroßer Mann mit scharfen Gesichtszügen und feuerroten, kurz geschorenen Haaren. Seine stechenden, dunkelblauen Augen zeugten von messerscharfem Verstand, seine Haltung war immer kerzengerade und wirkte angespannt, wie eine Raubkatze kurz vor der Attacke. Garrett kommandierte den Stützpunkt der Marines in Quantico, Virginia, mit eiserner Hand und rigoroser Disziplin.
„Na ja, wir haben das eine oder andere Ding zusammen gedreht“, schmunzelte General Grant, dem gerade wieder die Geschichte mit dem hübschen Lieutenant damals auf dem NATO-Ball eingefallen war. Dann fiel sein Blick auf den vierten Teilnehmer des Treffens, Air Force-Colonel Ed Bremner, der bis dato ziemlich ruhig gewesen war und sich irgendwie nicht ganz wohl zu fühlen schien. Bremner, den Franklin als überaus patriotischen und loyalen Offizier kannte, arbeitete die meiste Zeit des Jahres an einem der nicht für die Öffentlichkeit zugänglichen Spezialprogramme der Air Force und erforschte dort neue Wege, den Weltraum militärisch zu nutzen. Und das meistens alleine. Er war also nicht gerade der geborene Teamspieler, weshalb er sich an dem zwanglosen Geplauder auch nicht ohne weiteres beteiligen konnte. Ein kurzer Blick zu Admiral Franklin bestätigte Grant, dass dieser das auch gemerkt hatte und dass die Zeit des Smalltalks vorbei war.
„Gentlemen“ sagte Franklin, der sein leeres Glas auf das Geländer der Veranda stellte, „ich schlage vor, wir beginnen mit dem geschäftlichen Teil unseres Zusammentreffens.“
Das großzügige Arbeitszimmer im Erdgeschoss des Hauses war mit roten Samtmöbeln aus dem letzten Jahrhundert ausgestattet. Ein riesiger Tisch aus poliertem Eichenholz stand in der Mitte des mit dickem Teppichboden ausgelegten Raumes. Die Wände und Decken waren restauriert, ansonsten aber im Originalzustand belassen worden. Ein großer Deckenventilator drehte sich langsam, verwehte die schwüle Luft des lauen Abends und passte irgendwie überhaupt nicht zur sonstigen Einrichtung des Raumes. Die vier Männer saßen in tiefen Polstersesseln in einem lockeren Halbkreis und blickten durch das große Panoramafenster auf die dunkle Bay hinaus. Am Horizont sah man die Positionslichter eines großen Frachters, der von Baltimore aus in den Atlantik auslief.
Admiral Jim Franklin wandte seinen Blick von der Bucht ab und sah die anderen Männer aufmerksam an. Dann ergriff er das Wort.
„Ich habe Sie gebeten, an diesem Treffen teilzunehmen, weil ich Sie lang genug kenne, um mir über Ihre Loyalität und Ihre Grundsätze im Klaren zu sein. Ich weiß, dass Sie das, was ich Ihnen nun berichten werde, ebenso erschütternd finden werden wie ich und dass wir zusammen über die Konsequenzen beraten sollten.“
Franklin setzte sich seine Lesebrille auf und blätterte in einer ziemlich dicken Akte, die er seinem schwarzen Lederkoffer entnommen hatte. Die anderen drei Männer warteten aufmerksam, bis Franklin wieder zu sprechen begann.
„Das“, sagte er und deutete kurz auf die Akte, „ist ein Dokument direkt aus dem Weißen Haus, von dessen Existenz eigentlich niemand außer dem Präsidenten und seinem engsten Vertrautenkreis etwas wissen sollte. Wenn bekannt wird, dass wir dieses Dokument besitzen, würde das katastrophale Folgen für uns nach sich ziehen. Ich selber werde mir deshalb höchste Verschwiegenheit und Diskretion auferlegen.“ Franklin schaute ernst in die Augen der anderen Offiziere.
„Dasselbe erwarte ich natürlich von Ihnen, Gentlemen.“
General Grant paffte an seiner Zigarre, bevor er antwortete.
„Jim, ich glaube wir alle hier sind uns über die Brisanz dieses Treffens im Klaren. Jeder von uns würde sich lieber die Zunge herausreißen, als irgendwas darüber durchsickern zu lassen.“
„Das versteht sich natürlich von selbst, Admiral“, pflichtete Cliff Garrett mit ernster Miene bei. Colonel Bremner nickte und sagte nichts.
Franklin öffnete die Akte, nachdem er noch für ein paar Sekunden in die Augen der Männer geblickt hatte.
„Die Akte ist streng vertraulich und dürfte sich nicht in meinem Besitz befinden. Woher oder von wem ich sie habe, ist nicht wichtig. Wichtig ist vielmehr der Inhalt, und über den werden wir uns jetzt unterhalten.“
Franklin nippte kurz an seinem Scotch, dann begann er vorzutragen.
„Ich halte hier das inoffizielle Regierungsprogramm von President James in Händen. Dieses Programm ist festgelegt und wird in der zweiten Legislaturperiode der Regierung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit umgesetzt werden. James hat es zum Programm gemacht und wartet mit der Veröffentlichung natürlich bis nach den Wahlen. Wie wir alle wissen, ist sein republikanischer Herausforderer eine ausgewiesene Pfeife und wird im November zweifellos untergehen.“
General Grant nickte grimmig und wurde schon wieder zornig, als er an den charakterlosen Trottel dachte, den seine Partei in den Kampf gegen James schicken würde. Wie hatte es nur so weit kommen können, fragte er sich nicht zum ersten Mal.
„Wie auch immer“, fuhr Franklin fort, „James wird zu fünfundneunzig Prozent auch die nächsten vier Jahre der Präsident sein und wird alles, was in diesem Dossier steht, umsetzen wollen. Das hat mir meine Quelle bestätigt. Sehen Sie also alles, was ich Ihnen jetzt berichte, als festgelegt und unausweichlich an.“
Franklin befeuchtete seine Lippen und blätterte ein paar Seiten in der Akte weiter. Grant sog angestrengt an seiner Zigarre und beobachtete aufmerksam die beiden anderen Offiziere.
„James hat vor, all unsere Truppen aus der Golfregion abzuziehen“, sagte Franklin und blickte auf. Der Schock in den Augen der beiden rangniedrigeren Offiziere saß tief, Grants Gesichtsausdruck war eher mürrisch.
„Das kann der Mistkerl nicht machen!“ polterte der bis dato sehr ruhige Colonel Edward Bremner von der United States Air Force. Der schlaksige Texaner sah mit seiner fortgeschrittenen Stirnglatze und dem dünnen Oberlippenbart wesentlich harmloser aus, als er es war. Die meisten seiner Untergebenen konnten dies nur bestätigen.
„Die verdammten Araber werden sich gegenseitig massakrieren und die, die übrig geblieben sind, werden danach gemeinsam auf die Israelis losgehen. Das ist doch Irrsinn!“ Bremner war fassungslos.
„Warten Sie ab, Edward. Es kommt noch besser“, brummte General Grant, der den Inhalt der Akte bereits kannte und sein berüchtigtes Temperament daher zügeln konnte. Franklin berichtete weiter.
„Weiters ist geplant, die Besetzung von Teheran einfach aufzuheben und alle Truppen aus dem Iran abzuziehen.“
„So kurz vor den ersten freien Wahlen? Das kann nicht sein Ernst sein, oder?“ General Garrett dachte an seine Marines, die für diesen bis dato letzten Kampf gegen den Terror gestorben waren. Dass das alles umsonst gewesen sein sollte, konnte er einfach nicht glauben.
„Wie lange glaubt dieser Idiot denn, dass es dauert, bis die Mullahs wieder die Macht ergriffen haben, wenn keiner meiner Männer dort unten ist und denen die Mündung eines M16 auf die Nase drückt. Oder was ist mit dem Irak?“ fragte Garrett. „Und die ohnehin sehr brüchige Demokratie, die dort im Begriff ist zu entstehen, wie lange würde die halten, ohne den Schutz unserer Flugzeugträger im Golf?“
„Und Afghanistan?“, ergänzte der Marine nach einer kurzen Pause, die er zum Luftholen genutzt hatte. „Wir haben nach wie vor große Probleme in den nördlichen Gebirgsregionen. Da liegt noch jahrelange Arbeit vor uns, bis wir die verdammten Taliban endlich ausgerottet haben. Die sitzen da immer noch irgendwo in ihren Höhlen und hecken was gegen uns aus.“
„Cliff, ich verstehe Ihre Aufregung. Uns ging es genauso. Aber warten Sie bitte noch kurz ab, bis Sie alles gehört haben, okay?“, versuchte Franklin den Heißsporn der Marines zu beruhigen. „Hören Sie sich den Rest an und danach werden wir uns alle darüber unterhalten. Eins kann ich Ihnen aber vorab schon sagen: Afghanistan wird ebenfalls aufgegeben.“
Garrett schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Es sog tief Luft ein und lockerte sich den Kragen, der ihm in den letzten Minuten zu eng geworden war. Das war alles einfach unglaublich, einfach unakzeptabel und größenwahnsinnig. Franklin hingegen blieb ruhig, als er fortfuhr.
„Der Präsident will den Krieg gegen den Terrorismus, den wir seit 2002 führen, beenden. Er hat vor, eine radikale Änderung in der US-Außenpolitik durchzuführen. James hat genug davon, dass amerikanische Soldaten überall auf der Welt die Polizisten und Aufpasser spielen sollen. Er möchte, dass diese Rolle an die regional zuständigen Länder übertragen wird. Was an sich eigentlich gar keine so schlechte Idee ist, nur nicht in dieser extrem kurzen Zeit, quasi von heute auf morgen. Das, was George W. Bush angefangen und zu einem unrühmlichen Ende geführt hat, und das, was President Obama und auch President James zu Beginn seiner Amtszeit danach erheblich besser gemacht haben, steht jetzt alles auf dem Spiel. Wir haben viel erreicht, doch es ist noch so verdammt viel zu tun. Es ist ernst, meine Herren.“
Franklin machte eine kurze Pause und sah in die Augen der anderen Offiziere, die sich nur mühsam zurückhielten, dann fuhr er fort.
„Punkt eins ist also: Änderung der Außenpolitik, Beendigung des zuletzt ohnehin schon gemäßigten Antiterrorfeldzuges und Rückzug aus dem Nahen Osten.“
„Man könnte es auch die Opferung Israels nennen!“, ergänzte General Grant mit bitterer Miene. Sein eigenes Kommando würde mit der Beendigung des Antiterrorfeldzuges zweifellos mit untergehen. All die jahrelange Aufbauarbeit, der Schweiß, das Blut, das seine Männer vergossen hatten, all das würde umsonst gewesen sein.
Franklin nickte zustimmend und dachte an seine Freunde in der Marinebasis von Tel Aviv. Kurz waren seine Gedanken abgelenkt, dann fuhr er fort.
„Aber ich habe auch Zahlen und Fakten zu definitiv geplanten Eingriffen direkt ins Verteidigungssystem zur Verfügung. Hier ein paar davon …“
Franklin hob die rechte Hand und zählte die Punkte mit den Fingern mit.
„Erstens: Beschneidung des Verteidigungshaushaltes um ca. dreißig bis vierzig Prozent, vielleicht auch mehr, das steht noch nicht genau fest.“
Garrett sog hörbar die Luft ein, Bremner wurde blass und Franklin fuhr fort.
„Zweitens: Was die Navy betrifft … Streichung des kurz vor der Fertigstellung befindlichen Arsenalschiffprogramms, und damit Eliminierung eines der fortschrittlichsten und effektivsten Waffensysteme, die man sich nur vorstellen kann … Verschrottung von drei unserer derzeit fünfzehn Flugzeugträgern und damit Kürzung auf die Kapazität von vor dem 11. September 2001 … Ein großer Teil der Atlantikflotte soll mangels eines Bedrohungsszenarios außer Dienst gestellt werden, dazu gehören insgesamt gesehen circa die Hälfte der Boomer, also der strategischen Unterseeboote mit Interkontinentalraketen an Bord … komplette Streichung des Superflugzeugträgerprogramms, also Vernichtung der geplante X-Klasse …“
Franklin sah wieder in die Runde der Infanterie- und Luftwaffenoffiziere, die irgendwie wohl noch hofften, dass das alles war, obwohl das auch schon genügt hätte. Doch er erhob stattdessen den dritten Finger seiner rechten Hand.
„Drittens: Das Raumflugprogramm wird komplett zurückgefahren, die Marsmission ist gestorben … etwa ein Drittel der festlandgestützten Atomwaffen wird demontiert und eingemottet.“
Es war totenstill in dem schwülen Raum, man konnte nur das leise Surren des Deckenventilators hören. Colonel Bremner, der wohl als Einziger die Folgen dieser Entscheidung in ihrer gesamten Tragweite abschätzen konnte, war käsebleich. Er brachte kein Wort heraus, jetzt, da er seine Zukunft in Scherben liegen sah.
„Und viertens: Die 3rd Division der US Marines soll aufgelöst und die Stützpunkte in Okinawa und Hawaii sollen aufgelassen werden.“
„Dafür gibt es seit 1952 ein Gesetz, das genau das verhindern soll, verdammt!“, polterte General Garrett, der die geplante Kastrierung seiner ohnehin nur drei Divisionen nicht fassen konnte. „Er kann doch das Gesetz nicht einfach aufheben lassen!“
General Grant grunzte mürrisch, als er sich aus seinem Sessel erhob. „Wenn die öffentliche Stimmung vorhanden ist, und der Präsident genug Unterstützung im Kongress und aus den Reihen des Senats bekommt, dann kann er viel ändern, sehr viel …“
Garretts Zähne knirschten beinahe und seine Gesichtsfarbe war wesentlich bleicher, als sie das zu Beginn des Zusammentreffens gewesen war.
Franklin sah auf. „Kurz: Wir lassen die Hosen vor der Welt herunter und können nur hoffen, dass uns in Zukunft alle in Ruhe lassen und auf der ganzen beschissenen Erde alle in Frieden und Eintracht miteinander leben.“
Niemand konnte über diese letzte sarkastische Bemerkung lächeln, zu tief saß der Schock über das Gehörte.
„Wie sicher sind Sie sich mit dem, was Sie da gesagt haben? Ist die Quelle vertraulich?“ fragte General Garrett, der sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.
„Zu fünfundneunzig Prozent, Cliff. Präsident James hat die Richtung vorgegeben, seine Berater haben Maßnahmen ausgearbeitet, James hat sie zusammengestaucht und Drastischeres verlangt, und schließlich ist diese Akte entstanden. Vielleicht wird noch das eine oder andere abgeändert, doch ich habe das sichere Gefühl, dass es deswegen nicht besser wird.“
„Das bedeutet für mich nur eins: Der Mann hat den Verstand verloren, eine andere Erklärung habe ich dafür nicht.“ Garrett schüttelte ungläubig den Kopf.
„Eine andere Frage ist,“ überlegte Colonel Bremner, der sich wieder einigermaßen gefangen hatte „angenommen, er hat wirklich alles vor, was Sie uns gerade erzählt haben, wie viel davon wird er umsetzen können? Was bringt er durch den Kongress und was kann er der Bevölkerung verkaufen?“
„Die Menschen haben genug von fünfzehn Jahren Krieg mit vielen Opfern und ohne richtige Siege. Die meisten werden hinter ihm stehen. Außerdem ist James ein Meister darin, seinen Wählern etwas schmackhaft zu machen. Das haben wir doch schon oft genug erlebt. Und der Kongress kann auf längere Sicht gesehen im Grunde auch nur das machen, was die Bevölkerung will. Es war doch auch in der Vergangenheit immer dasselbe. Ich glaube, dass er vielleicht die Hälfte oder sogar zwei Drittel von dem, was er vorhat, durchsetzen kann. Bei den für sein Vorhaben nötigen Gesetzen sieht die Sache da vielleicht schon ein bisschen besser für uns aus …“, resümierte General Grant, der sich schon so seine Gedanken gemacht hatte. Der Armeegeneral stand hinter seinem Stuhl und hatte die Lehne des Möbels mit beiden Händen fest gepackt.
„Wie steht’s mit unseren Verbündeten?“, fragte Garrett. „Die Israelis werden durchdrehen, wenn sie von James’ Vorhaben Wind bekommen. Und die Europäer? Sind die stark genug, um die Situation im Nahen Osten in den Griff zu bekommen? Ich bezweifle das stark. Die können sich doch nicht einmal innerhalb der Europäischen Union richtig leiden. Was sollen die dann mit einem handfesten Konflikt in ihrem Hinterhof machen?“
Franklin verstand Garrett und seine Befürchtungen nur zu gut, er war in diesem Punkt ähnlicher Ansicht.
„Mit den Kürzungen innerhalb unserer Streitkräfte kann ich ja noch ansatzweise leben, oder lassen Sie es mich anders ausdrücken: Ich finde das nicht ganz so geisteskrank, wie das Vorhaben am Golf“, sagte Bremner. „Das ist ein verdammtes Pulverfass da unten und wir geben den ganzen Spinnern einfach die Lunte und die Streichhölzer in die Hand und hauen ab. Ich kann nicht glauben, dass James das ernsthaft vorhat. Ich kapier’s einfach nicht …“
Der Air-Force-Offizier war ziemlich fertig und malte sich Konsequenzen und Folgen eines Rückzuges der Amerikaner aus dieser Gegend aus. Mit dem Ergebnis seiner Überlegungen konnte er nicht zufrieden sein.
Garrett kratzte sich hörbar die kurz geschorenen Haare und sagte, an Franklin gewandt:
„Aber warum war Marvin James jetzt beinahe vier Jahre Präsident, ohne solch drastische Schritte zu setzen? Er hat doch den Antiterroreinsatz weitergeführt und ist sogar in den Iran einmarschiert. Ich verstehe das einfach nicht. Das ist doch völlig absurd!“
„Wie Sie alle sicher wissen“, brummte General Grant, „hat der Präsident erst vor einem Jahr seinen einzigen Sohn bei der Eroberung von Teheran verloren. Der Panzer, den er kommandiert hat, ist von unseren eigenen Hubschraubern beschossen und zerstört worden. Ich glaube, das hat die ganzen Änderungen seines Programms ausgelöst oder schon vorhandene Vorhaben bestärkt.“
„Kann sein, John“, stimmte ihm Franklin zu, „aber im Grunde war James schon immer ein Präsident, der mehr der Macht und weniger der damit verbundenen Verantwortung zugetan war. Und im Iran einzumarschieren war damals nach der Versenkung der Queen Mary II fast nicht zu vermeiden. Hätte er damals gekniffen, hätte er den Mullahs die Ermordung von eintausendfünfhundert westlichen Passagieren einfach durchgehen lassen, dann hätte er seine politische Zukunft getrost begraben können.“
Die Erinnerung an die Torpedierung eines der größten und modernsten Kreuzfahrtschiffe der Gegenwart durch ein iranisches dieselelektrisches U-Boot war für alle Anwesenden noch frisch. Genauso, wie die teilweise erschütternden Reaktionen ihres Präsidenten, der anfänglich alle Beweise ignoriert hatte, die auf die Iraner hingedeutet hatten. Erst eineinhalb Wochen, nachdem der Rumpf der Queen Mary II etwa vierhundert Kilometer südlich der Malediven in fast fünftausend Metern Tiefe am Grund des Zentralindischen Beckens zerschellt war, gestattete er der Navy, das U-Boot mitsamt allen an Bord befindlichen Terroristen zu versenken. Nur zu gerne hatte der Commander an Bord der Tucson, das Angriffs-U-Boot der Los Angeles-Klasse, das die Iraner beim Aufladen der Batterien aufgespürt hatte, den Feuerbefehl erteilt und das Kilo versenkt. Die diplomatische Verstimmung mit dem Hauptleidtragenden des Anschlages, der geschockten britischen Regierung, hatte mehrere Monate lang angedauert. Bis heute hatten die Briten die Untätigkeit ihres mächtigsten Verbündeten nicht vergessen und würden es wahrscheinlich auch nicht tun. Präsident James hatte wertvolles Porzellan zerbrochen, das nur die Zeit und sehr viel Mühe vielleicht wieder zu kitten vermochten.
„Erinnerst du dich an seine jämmerlichen Auftritte damals in Jakarta und in Berlin, als er die Iraner als schuldlos an dieser „Tragödie“ bezeichnete? Ich hätte ihn damals am liebsten hängen sehen.“ Franklins Miene war düster, als er an die Tage damals im Frühjahr 2014 dachte, die genauso schlimm waren, wie jene Tage damals im September 2001, als die westliche Welt das erste Mal unter Beschuss geraten war.
„Und das Fiasko in China nicht zu vergessen, als er ganz frisch im Amt war“, grunzte Grant. „Das war sowieso die größte Sauerei, die sich dieser Kerl jemals geleistet hat. Hat leider keiner mitgekriegt, die Sache. Der Mann hat aus seiner Ablehnung gegen das Militär wirklich nie ein Geheimnis gemacht.“
„Vielleicht will er aber auch nur als der Präsident in die Geschichte eingehen, der das amerikanische Militär kastriert und im Nahen Osten einen Flächenbrand entzündet hat, der so leicht nicht wieder zu löschen sein wird.“ Colonel Bremner hatte die Hände zu Fäusten geschlossen, als er weiterredete.
„Wenn nicht irgendjemand etwas dagegen unternimmt, wird uns dieser Mann alle mit in den Abgrund reißen.“
„Genau deswegen sind wir hier, meine Herren“, sagte Admiral Franklin und leerte sein Glas.