Читать книгу In mir wohnen - Margaret Lincoln - Страница 11
Die spirituelle Bedeutung der Füße
ОглавлениеDie Bibel ist voll von Geschichten, in denen Füße eine Rolle spielen. Die Menschen waren früher viel zu Fuß unterwegs, oft barfuß oder mit einfachen Sandalen als Schuhwerk, und wanderten auf Wegen, die uneben und steinig waren. Dabei erlebten sie Gott sozusagen direkt „über die Füße“. Reisende und Pilger waren sich sehr wohl bewusst, wie sehr sie auf die Begleitung und Stütze Gottes angewiesen waren. Einen Gott herbeizurufen, der „deinen Fuß nicht gleiten“ lässt, wie es in Psalm 121 und an vielen anderen Stellen in der Bibel heißt, hatte nicht nur symbolische Bedeutung, sondern war lebensnotwendig.
Heute wollen jedes Jahr viele Tausende Menschen diese spirituelle Erfahrung von damals über Pilgerschaften auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela und zu anderen heiligen Orten nachholen. Sie entscheiden sich bewusst dafür, die Bequemlichkeiten eines gesicherten Lebens eine Weile hinter sich zu lassen, um alles, was sie brauchen, in einen Rucksack hineinzukriegen. Sie gehen in den Fußstapfen von Christen anderer Jahrhunderte und entdecken über ihre Füße das, was sie mit anderen Suchenden verbindet: die Sehnsucht nach einer unmittelbaren Beziehung zu Gott, die sich dann bei vielen unterwegs einstellt, wenn sie die täglichen Sicherheiten des Alltags beiseitelegen.
Die Pilger von heute haben im Gegensatz zu früher meist gutes Schuhwerk. Diejenigen, die schon mal eine solche Pilgerschaft oder lange Wanderung gemacht haben, wissen jedoch, wie wohltuend es sein kann, den Rucksack zwischendurch abzusetzen und die Schuhe auszuziehen. Noch angenehmer ist es, wenn Wasser in der Nähe ist, um die schmerzenden Füße darin baumeln zu lassen.
Die nackten Füße sind besonders empfindsam und aufnahmefähig. In der Bibel wird davon berichtet, dass Mose nur mit den nackten Füßen die Gegenwart Gottes erleben darf. Gott fordert ihn auf, die Schuhe auszuziehen: „Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen, denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!“ (2. Mose 3,5). Gott will Mose am brennenden Busch nicht über die Augen oder Ohren, nicht über den Kopf oder den Geist nahekommen, sondern über die Füße. An dem Körperteil, der am empfindsamsten ist, an der Fußsohle, soll Mose die Heiligkeit Gottes erspüren und aushalten.
Menschen in den orientalischen Ländern bedeutet das Ausziehen der Schuhe unter Umständen die Voraussetzung für eine Gottesbegegnung. Heute noch ist es für Muslime und manche orthodoxen Juden Pflicht, die Schuhe auszuziehen, bevor sie in eine Moschee oder Synagoge zum Gebet eintreten. So wird eine Trennung vollzogen zwischen dem staubigen Alltag auf der Straße und der bewussten Gottesbegegnung, zwischen dem Profanen und dem Heiligen. Doch auch bei bestimmten Alltagsgeschäften war in der orientalischen Welt das Ausziehen der Schuhe ein wichtiger Brauch, um zum Beispiel einen Eid abzuschließen. Und bis heute noch ist die Eheschließung unter Juden nicht mit dem Ringtauschen, sondern mit dem Schuheausziehen verbunden.
Auch in den Evangelien spielen die nackten Füße eine wichtige Rolle. Symbolisch werden sie zum Ausdruck dessen, was Jesus unter radikaler Nachfolge versteht. Lukas erzählt, wie Jesus seine Jünger „ohne Geldbeutel, ohne Tasche und ohne Schuhe“ aussendet (Kapitel 22,35). Nur so, ohne Besitz und mit nackten Füßen, können die Jünger ganz empfänglich werden für die Kraft Gottes und sich Jesus ganz und gar anvertrauen. Es war genau diese Stelle, die Franz von Assisi zu seinem Entschluss bewegte, als Bettelmönch ohne jegliches Schuhwerk predigend durch Umbrien zu ziehen.
Früher gehörte das Waschen der nackten, staubigen Füße der Gäste zu den selbstverständlichen Aufgaben eines Gastgebers. Als Jesus bei dem Pharisäer Simon zu Gast ist, wird ihm dieser Dienst nicht erwiesen, als er in das Haus tritt, erzählt Lukas in seinem Evangelium (vgl. Kapitel 7,36–50). Später am selben Abend werden Jesus die Füße von einer Frau mit einem kostbaren und gut riechenden Öl gesalbt und mit ihren Haaren getrocknet. Das Haus, so heißt es weiter, wird erfüllt vom Duft des Öls. In dieser einfachen, aber sehr intimen Handlung liegen Zärtlichkeit und Verbundenheit.
Die letzte gemeinsame Begegnung zwischen Jesus und seinen Jüngern, bevor er verhaftet wird, geschieht während der Fußwaschung. Nur ist es dieses Mal Jesus, der Meister, der sich vor die Jünger kniet, die nackten Füße in die Hände nimmt, sie wäscht und mit einem Tuch trocknet. Wie groß die Peinlichkeit, das Schamgefühl bei so viel Intimität und Nähe ist, sehen wir an der Reaktion von Petrus, der es nicht zulassen kann, dass ihm sein Meister auf diese Weise dient. Doch gerade hierin liegt die Botschaft, die Jesus kurz vor seinem Tod vermitteln will. Denn besonders in der Verletzbarkeit und Offenheit, die wir über die Füße spüren, besteht die Möglichkeit, Liebe zu empfangen und weiterzugeben.