Читать книгу In mir wohnen - Margaret Lincoln - Страница 5
Einleitung
ОглавлениеEgal, in welcher Wohnung Sie zurzeit leben – ob in einem Altbau, in einer renovierten, hellen Neubauwohnung oder einem alten Haus mit einigen Rissen und Löchern –, ich gehe davon aus, dass Sie alles tun, um diese Wohnstätte nach Ihrem Geschmack einzurichten, damit Sie sich dort zu Hause fühlen können. Ähnlich verhält es sich mit dem eigenen Körper. Er bietet uns einen Raum zum Wohnen. Da ist es egal, ob der Körper jung und schön, männlich oder weiblich ist, ob schon die ersten Falten zu sehen sind oder ob er noch älter ist und mit den ersten Anzeichen von Gebrechlichkeit und Krankheit gekennzeichnet ist. Denn auch wie in der eigenen Wohnung geht es bei unserem Körper darum, sich einzurichten, den Raum bewohnbar zu machen und sich zu Hause zu fühlen. Anders als in vielen anderen Büchern über den Körper, die heute auf den Markt mit dem Ziel erscheinen, den äußeren Körper so gesund, fit und jung wie möglich zu halten, möchte ich Sie einladen, nach innen zu treten, um den eigenen Wohnraum mehr und mehr zu entdecken und zu bewohnen. Dabei geht es um die Begegnung mit sich selbst und mit Gott.
Das Christentum gilt für viele Menschen als körperfeindlich, als lebensfremd, als geistlich abgehoben. Lieber verbringen sie ihren freien Tag in einem Fitnesszentrum oder treiben Sport bzw. Yoga, als dass sie in die Kirche gehen. Diejenigen, die nach spirituellen Erfahrungen oder ganzheitlichen Wegen suchen, finden sie eher im Buddhismus oder anderen fernöstlichen Religionen als in der jüdisch-christlichen Tradition. Diese Entwicklung eines pluralistischen „postchristlichen“ Zeitalters, in dem jeder die Freiheit hat, sein „Heil“ unabhängig von Tradition und Kultur zu suchen und zu finden, ist sicherlich ganz legitim. Der Schwerpunkt in diesem Buch liegt allerdings nicht darauf zu erklären, warum es zu diesem „körperfeindlichen Image“ innerhalb der Kirche gekommen ist, sondern ich möchte den menschlichen Körper, so wie er in den Überlieferungen des hebräischen Denkens und des Urchristentums präsentiert wird, als Wohnort für uns Menschen und für Gott neu entdecken.
Meine ersten Körpererfahrungen habe ich in verschiedenen Kursen wie Eutonie, Feldenkrais, Yoga und Qi-Gong gesammelt. Bald war es mir aber wichtig, die Erfahrungen und Übungen, die ich mir angeeignet habe, mit den Grundlagen meiner christlichen Herkunft zu vereinbaren. Durch Weiterbildungen in den Bereichen „Spirituelle Leibarbeit“, „Bibliodrama“ und „Focusing“ ist mir immer deutlicher geworden, dass das Bewusstsein für die eigene Beweglichkeit und die geschärfte Wahrnehmung für das körperliche Empfinden nicht im Gegensatz zu einem Leben als Christ stehen. Das Gegenteil ist der Fall: Beides bringt eine große Bereicherung für den christlichen Glauben mit sich. Angeregt durch die Forschungsarbeit von Hans Walter Wolff1 und später durch das Buch Die Körpersymbolik der Bibel2 von Silvia Schroer und Thomas Staubli habe ich mich mit dem Menschenbild der Bibel intensiver befasst. Was mir dabei besonders auffiel, ist die zentrale Stellung, die der Körper in der Bibel einnimmt. Die Abwertung des Körpers in Bezug zum Geist oder zur Seele, die in der westlichen Kultur- und Kirchengeschichte sehr ausgeprägt ist, findet sich in der Bibel kaum. Im Gegenteil, die altorientalische Vorstellung des von Gott geschaffenen Menschen, wie sie in der Hebräischen Bibel3 vorgestellt wird, ist durch und durch körperlich verankert: Die Kehle des Menschen ist seine Seele, sein Atem, sein Geist. Gefühle zeigen sich im Bauch, in den Nieren und in der Leber und Galle und sein Verstand und seine Willenskraft im Herzen. Und für Paulus, den großen Denker der ersten christlichen Gemeinden, ist der Menschenkörper der Ort, wo Christus mit seinem Geist wohnen möchte. Von diesem Apostel stammt auch das Bild vom Menschenkörper als Tempel des Geistes. Paulus ist die Einheit von Körper und Seele so wichtig, dass er sie gegen die damalige griechische, weitverbreitete Trennung der Seele vom Körper aufrechterhält – sogar nach dem Tod. Nach seiner Auffassung werden nicht nur die Seelen nach dem Tod des Leibes weiterleben, sondern unsere verwesten Leiber werden neu bekleidet auferstehen. In diesem Bild finden wir eine Aufwertung des Körpers, nach der es sich lohnt, ihn im diesseitigen Leben noch mehr in den Fokus zu rücken.
Die Übungen und Meditationen, die in den folgenden Kapiteln vorgestellt werden, sollen helfen, die biblische Einheit von Körper, Geist und Seele neu für sich zu erleben. Wenn die Pilger in Psalm 121,3 Gott um seinen Halt unterwegs bitten: „Lass meinen Fuß nicht gleiten“, sind sie sich dessen bewusst, dass es sowohl um eine körperliche als auch um eine spirituelle Begleitung geht. Das Empfinden, dass Gott sie hält und schützt, spüren sie direkt über die Füße. Wenn ich in Psalm 40,3 lese: Er „stellte meine Füße auf einen Fels, dass ich sicher treten kann“, bekomme ich auch heute über das Wahrnehmen der Kontaktfläche zwischen Füßen und Boden ein Gespür dafür, was es konkret bedeutet, dass Gott mir in meinem Alltag einen Halt bietet. Glaubenssätze wie „Gott ist bei mir“, „Gott hält mich“ oder „Gott begleitet mich“ werden über den Körper spürbar und sind dadurch fassbarer. Das im Kopf gespeicherte Wissen gleitet buchstäblich zu den Füßen herunter, und der Glaube verankert sich mehr und mehr im Gelebten.
Das Buch ist in drei Teile mit jeweils drei Kapiteln gegliedert, wobei jedes Kapitel einem Körperteil bzw. -bereich gewidmet ist. Neben Sachinformationen gibt es eine Anleitung zu einer Entdeckungsreise, die es Ihnen ermöglicht, mit dem jeweiligen Körperteil in Kontakt zu treten. Danach folgt eine Einführung in die spirituelle Dimension des Körperteils, die die biblische Sicht berücksichtigt. Zum Schluss werden Sie über ein Bibelwort in eine Körpermeditation geleitet. Jedes Kapitel schließt mit Vorschlägen für Bewusstseinsübungen, die Sie mitten in Ihrem Alltag anwenden können. Sie müssen natürlich nicht die vorgegebene Reihenfolge des Buches einhalten, sondern können auch in der Mitte oder am Ende anfangen oder eine Übung ausprobieren, die Sie besonders anspricht. Warum es aber für Sie sinnvoll sein könnte, die hier vorgegebene Reihenfolge einzuhalten, möchte ich im Folgenden kurz erklären.
Der erste Teil trägt die Überschrift „Gespannt zwischen Erde und Himmel“ und folgt über die Füße bis zum Kopf der vorgegebenen Knochenstruktur des menschlichen Körpers. Das verbindende Element zwischen unten und oben ist der Atem, der im dritten Kapitel ausführlich behandelt wird. Die vom Knochenbau vorgegebene Stellung des Gespanntseins zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde, ist für mich ein Sinnbild unserer von Gott geschaffenen Existenz in dieser Welt. Es ist wichtig, einerseits über die Füße den Kontakt zum Boden, zu den eigenen Wurzeln, zum Standpunkt und zu dem, was momentan da ist, zu erhalten. Andererseits dürfen wir das Aufrichten des Körpers über die Wirbelsäule zum Himmel hin als Zeichen unserer geistlichen Bestimmung verstehen, Geschöpfe Gottes zu sein. Die bewusst gestaltete Verbindung dieser zwei entgegengesetzten Pole durch den Atem bietet uns die optimale Lebenshaltung im Alltag.
Von dort aus geht es im zweiten Teil über das Gesicht, die Augen, Ohren und Hände zum äußeren Teil des Körpers. Unsere Sinnesorgane bieten die Möglichkeit, mit der Außenwelt in Beziehung zu treten. Um diese Beziehung frei und entspannt zu gestalten, ist es wichtig, ein Bewusstsein zu entwickeln für das „In-sich-da-Sein“, das in dem ersten Teil den Schwerpunkt bildet. Die Tatsache, dass wir uns oft als verkrampft und gestresst in unseren Beziehungen erleben, zeigt, wie schwer es ist, bei sich „zu Hause“ zu sein, um von dort aus unser Leben in der Außenwelt zu gestalten und angemessen zu handeln.
Im dritten Teil lade ich Sie ein, mit dem Inneren Ihres Körpers in Kontakt zu treten. Ausgehend von dem Nacken und den Schultern wendet sich dieser Teil dem inneren Hals, insbesondere der Kehle, zu, die als Brücke für Nahrung und Atem den Weg nach innen darstellt. Die Kehle wird im altorientalischen Denken oft mit der „Seele“ oder mit dem „Menschenleben“ an sich gleichgesetzt. Die Reise durch den Körper läuft über den Bauch und die inneren Organe wie Nieren und Leber als Orte der Gefühle weiter und endet im letzten Kapitel mit dem zentralen Organ, dem Herzen, von dem aus das Leben fließen oder ins Stocken kommen kann. Das Herz als Sitz des Verstandes, der Entscheidungen und der Weisheit bekommt in den hebräischen Schriften eine ganz besondere Bedeutung, die in unserer modernen Zeit zum großen Teil verloren gegangen ist.
Vor jedem der drei Teile finden Sie ein Körpergebet, bei dem Worte, Bewegungen und der Atem jeweils eine Einheit bilden. Das Gebet sollte dreimal langsam gesprochen werden, damit es sich erschließt und erfahren lässt. Nehmen Sie sich außerdem Zeit, um die Übungen und Meditationen in Ihrem Alltag umzusetzen. Es geht dabei nicht um Richtig oder Falsch, auch nicht um Leistung oder Veränderung des eigenen Körpers, sondern um ein allmähliches Wahrnehmen dessen, was Ihren Körper ausmacht und wie er lebt. So können wir uns entspannen und Dinge loslassen, die uns sonst blockieren. „Was wir bekämpfen, werden wir nicht überwinden. Nur was wir anschauen, das kann Gott heilen“, schreibt Cassian, einer der Wüstenväter aus dem 5. Jahrhundert.
Möge dieses Buch dazu beitragen, dass Sie lernen, den eigenen Körper liebevoll und ohne Wertung „anzuschauen“ und ihn dabei immer mehr als Ort zu erleben, an dem Sie gerne verweilen möchten.
1 Anthropologie des Alten Testaments. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2010.
2 2., überarbeitete Auflage. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005.
3 Im christlich-jüdischen Gespräch wurde Kritik an der Verwendung der Bezeichnung „Altes Testament“ geübt, da „alt“ auch als „veraltet“ oder „überholt“ verstanden werden kann. Der Eindruck wird erweckt, das Alte Testament habe seinen Wert nur durch das Neue Testament. Immer mehr Christen benutzen deshalb anstelle von „Altes Testament“ die Bezeichnung „Hebräische Bibel“, um die gemeinsame Grundlage der jüdischen und christlichen Religion zu betonen.